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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, August 2004, Seite 7

Kein Sommergewitter

Arbeit ohne Grenzen für alle?

Wir erleben derzeit ein knallbuntes Feuerwerk an Vorschlägen, wie unsere Arbeitszeit noch länger oder noch flexibler werden kann. Es scheint schier unmöglich, bei all den betrieblichen Sonderopfern, tariflichen Zugeständnissen und gesetzlichen Verschlimmerungen die Übersicht zu behalten.

Es greift zu kurz oder sogar daneben, sich auf die beharrliche Verteidigung der tariflichen Wochenarbeitszeit zu konzentrieren. Eine umfassende Antwort muss auf der betrieblichen, der tariflichen und der gesetzlichen Ebene zugleich organisiert werden:
Wir fordern gesetzlichen Schutz vor den Übergriffen der Arbeitgeber auf unseren Urlaub, auf die Feiertage, auf unsere Wochenenden und unseren Feierabend.
Wir müssen die tariflichen Ausbruchsversuche eindämmen, ehe Arbeitszeitkorridore und Arbeitszeitkonten die Trennung zwischen Arbeit und Freizeit völlig aufweichen können.
Wir brauchen betriebliche Interessensvertretungen, die gegen Überstunden und Arbeit auf Abruf erfolgreich Front machen.

Seit etwa eineinhalb Jahrhunderten schränkt der Staat die schlimmsten Auswüchse rücksichtsloser Arbeitgeber halbherzig ein. Die Schutzbestimmungen werden im unmittelbar folgenden Rattenschwanz der Ausnahmen durchlöchert oder ganz wieder aufgehoben: Das Verbot der Kinderarbeit schützt vor überfordernden Ernteeinsätzen nur außerhalb der Herbstferien. Der Sonntag bleibt heilig, wenn er nicht verkaufsoffen ist. Der Achtstundentag darf auch 10 oder gar 13 Stunden dauern, jedoch nur ausnahmsweise wie in den Krankenhäusern 34 Stunden.
So unzulänglich sich solcher »Arbeitsschutz« auch im Alltag erweist, zieht er dennoch eine wertvolle gesellschaftliche Haltelinie. Denn er formuliert einen gemeinsamen Mindestanspruch, der gerade auch all die Unorganisierten und prekär Beschäftigten mit einschließt. Die Scharfmacher auf der Arbeitgeberseite zielen heute darauf ab, auch diese Linie neu zu ziehen.
Eher unbemerkt monierte der deutsche Ärztetag, dass die Einschränkungen beim Arbeitseinsatz von schwangeren Ärztinnen einem faktischen Arbeits- und Ausbildungsverbot gleichkämen und forderte auch mit Blick auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit eine weitgehende »Modernisierung« des Mutterschutzes. Der sozialdemokratische Wirtschaftsminister Clement hatte dagegen Anfang des Jahres 2004 das Zielgebiet der Offensive viel breiter abgesteckt: »Wer unseren Feiertagskalender mit dem anderer Staaten vergleicht, der kann auch ins Grübeln kommen.« Nach der Streichung des Buß- und Bettags als Kompensation für den Arbeitgeberbeitrag zur Pflegeversicherung erscheint das nicht nur als Theaterdonner. Auch die endgültige Demontage des gesetzlichen Ladenschlusses bleibt ein Dauerbrenner.

Arbeitsverbote ohne Ausnahmen

Weniger öffentlich wahrgenommen, aber in der möglichen Wirkung umso dramatischer bahnt sich auf EU-Ebene ein weiterer Durchbruch an. Bislang legt die europäische Arbeitszeitrichtlinie die Höchstarbeitszeit auf maximal 48 Stunden im Wochendurchschnitt fest. Nur probeweise dürfen EU-Mitgliedstaaten erlauben, dass nach »freiwilligen« Sonderabsprachen (Opt-out) mit Beschäftigten deren grenzenlose Arbeit vereinbart wird.
Insbesondere in Großbritannien werden solche individuellen Opt-out- Schlupflöcher bei 16% der Beschäftigten genutzt und oft sogar vorsorglich in Teilzeitverträge eingebaut. Es handelt sich dabei jedoch nicht nur um einen Freibrief für gelegentliche Ausreißer: Im Jahre 2002 betrug die durchschnittliche Jahresarbeitszeit dort 1962 Stunden gegen 1760 Stunden in Deutschland. Wie es sich für zahnlose Aufpasser gehört, haben die EU-Parlamentarier genau hingeschaut und am 11.2.2004 den Misserfolg dieser Opt-out-Klauseln beschlossen.
Das EU Parlament »unterstreicht, dass Frauen stärker negativen Auswirkungen auf ihre Gesundheit und ihr Wohlergehen ausgesetzt sind, wenn sie die Doppelbelastung von Berufstätigkeit und familiären Verpflichtungen zu tragen haben«, und »verweist auf den beängstigenden Trend, dass Frauen zwei Teilzeitbeschäftigungen nachgehen, häufig mit einer kombinierten Arbeitswoche, die die gesetzlich zulässige Höchstarbeitszeit überschreitet, um genug Geld für den Lebensunterhalt zu verdienen«. Ferner »unterstreicht« das Parlament, »dass die Kultur der vielen Arbeitsstunden in höher qualifizierten Berufen und leitenden Stellungen ein Hindernis für die Mobilität von Frauen nach oben darstellt und die Geschlechtertrennung am Arbeitsplatz verstärkt«.
Wenige Wochen später berichteten die britischen Zeitungen von einem politischen Deal zwischen Gerhard Schröder und Tony Blair. Der britische Regierungschef habe sich verpflichtet, die Bundesregierung innerhalb der EU beim Erhalt von Mitbestimmungsrechten im Fusionsfall zu unterstützen. Im Gegenzug macht sich Schröder dafür stark, dass auf der Insel und in Europa auch weiterhin Wochenarbeitszeiten von mehr als 48 Stunden zulässig sind.
Prompt ging die zuständige EU-Kommission über den noch druckfrischen Beschluss der Parlamentarier hinweg und forderte die »Sozialpartner« in den Mitgliedstaaten auf, umgehend bei den Arbeitszeiten einen Prozess der branchen- und unternehmensspezifischen Flexibilisierung einzuleiten. Andernfalls droht sie mit EU-weiten Änderungen, die auch die Einführung einer »dritten Zeitkategorie« neben Arbeitszeit und Ruhezeit umfasst. Eine solche »inaktive« Zeit könnte alle Wartezeiten am Arbeitsplatz plötzlich aus den bisherigen Schutzbestimmungen herausfallen lassen.
Die Medien skandalisieren die Lenkzeiten der Fernfahrer zu Recht als gefährlich für die Beschäftigten und für alle Verkehrsteilnehmer. Die ununterbrochenen mehrtägigen Arbeitseinsätze in den Kliniken werden jedoch zur unermüdlichen Versorgung von Patienten stilisiert.
In das zu Jahresanfang novellierte deutsche Arbeitszeitgesetz konnte darum die große Koalition im Vermittlungsausschuss die Opt-out-Lücke bereits einflicken, ähnlich in Frankreich und den Niederlanden. Öffentlich als Ausnahme für die vergleichsweise schlecht organisierten, aber gut bezahlten Krankenhausärzte verstanden, öffnet sie die gesetzlichen Schleusen zur Arbeit ohne Grenzen jedoch für alle.

Tarifliche Umverteilung

Die rot-grüne Regierung versucht im Pilotprojekt, im öffentlichen Dienst die tariflichen Grenzmarken bei den Arbeitszeiten zu versetzen. Denn dieser Bereich ist durch zahlreiche Sonderbestimmungen, durch die eingeschränkte Stellung der Personalräte und die Manövriermasse der Beamten besonders geschwächt. Eine besondere Rolle kommt dabei dem Gesundheitswesen zu, einem der möglichen Wachstumsmotoren aus der Krise heraus.
Zwar wird in deutschen Krankenhäusern bereits seit 1996 im Widerspruch zu geltendem EU-Recht und ganz ohne tarifliche Ausnahmeregelungen offen gegen alle täglichen und wöchentlichen Höchstarbeitszeiten verstoßen. Nur unwillig und unvollständig ist das deutsche Arbeitszeitgesetz aufgrund eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs an die europäischen Mindestnormen angeglichen worden. Doch die Ministerien in den Bundesländern haben die mit der Überwachung betrauten Ämter ausdrücklich angewiesen, lediglich »beratend« tätig zu werden.
Dies gilt auch und gerade, wenn in Gesundheitsbetrieben weiterhin regelmäßig Schichten von über 30 Stunden angeordnet werden. Die einzelnen Arbeitgeber berufen sich bei ihren fortgesetzten Verstößen auf eine angebliche Übergangsfrist von weiteren zwei Jahren und auf die Fortgeltung der tariflichen Ausnahmeregelungen. In den laufenden Tarifverhandlungen um einen grundlegend neu zusammengestellten Tarifvertrag öffentlicher Dienst (TVöD) könnte darum die Arbeitszeit zu einem wichtigen Streitpunkt werden.
Nach den Austritten der Länder aus dem Tarifverbund und massiven Erpressungen der kommunalen Arbeitgeber sind die gewerkschaftlichen Verhandler nun offenbar weich gekocht und zu »Spitzengesprächen« bereit. Seit Anfang Juni kursieren in den Verdi-Gremien bereits ausformulierte »Ergebnisse« und werden dabei auf ihre Vermittelbarkeit an der Basis getestet. Noch gilt die durchschnittliche Wochenarbeitszeit von 38,5 Stunden als nicht verhandelbar. Doch Arbeitszeitkonten und der weitgehende Wegfall von Überstundenzuschlägen scheinen ausgemachte Sache.
Um die Gesundheitsbranche bei der Stange und damit im Flächentarif zu halten, sollen noch weitergehende Zugeständnisse gemacht werden — u.a. die Inanspruchnahme von Öffnungsklauseln des Arbeitszeitgesetzes, nicht nur bei der täglichen Höchstarbeitszeit.
Bereits im Februar hatten Verdi-Funktionäre auf einem Arbeitszeitgipfel der Regierung zusammen mit den Krankenhausarbeitgebern unterschrieben, wie sie die Bereitschaft der Beschäftigten zu Mehrarbeit ausnützen wollen: »Die Tarifvertragspartner tragen die maßgebliche Mitverantwortung für die Ausgestaltung der Bedingungen innovativer Arbeitszeitmodelle. Den durch das neue Arbeitszeitrecht geschaffenen Rahmen gilt es, offensiv zu nutzen.«
Noch ist die Grenze von durchschnittlich 48 Wochenstunden ein Tabu. Dabei hat für die Arbeitgeber die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) eindrucksvoll vorgerechnet, was die Begrenzung auf 10 Stunden werktäglich und 48 Stunden wöchentlich bedeutet: Eine solche Arbeitszeitverkürzung würde 27000—35000 zusätzliche Arztstellen schaffen und 11000 bis 26000 Arbeitsplätze für Fachkräfte in der OP-Pflege, in der Anästhesie, im Labor und im Röntgen-Bereich. Und die Bundesregierung hat bereits jährlich zusätzliche 100 Millionen Euro in ihrem Haushalt vorgemerkt, um den Tribut für solche wenn schon nicht gesunden, aber doch gesünderen Arbeitszeiten zu zahlen. Objektiv scheint die Ausgangslage für eine kämpferisch umgesetzte Arbeitszeitverkürzung also durchaus günstig.
Die Vernunft sagt: Macht eure Arbeitskraft selten, damit sie teurer wird! Doch die Beschäftigten mit ihrer überkommenen Geisteshaltung und ihren oft eher kleinmütigen Interessenvertretungen stehen sich selbst im Wege, nicht nur in der wenig kampferfahrenen Gesundheitssparte. Fast jeder Vierte ist laut Umfragen des Freizeitforschungsinstituts BAT vom März 2004 zu mehr täglicher Arbeit bis zu zehn Stunden bereit, um mehr zu verdienen. Andere Umfragen behaupten sogar, um den eigenen Arbeitsplatz zu retten, seien 62% zu einer Verlängerung der Wochenarbeitszeit auch ohne Lohnausgleich bereit. Die Welt meldete am 2.4. den vorläufigen Tiefststand: 31% glauben, dass durch eine Verlängerung der Arbeitszeit die Wirtschaft angekurbelt wird oder gar neue Arbeitsplätze entstehen.

Betrieblich kein Auge zudrücken

Die Buchstaben in den Gesetzen zum Arbeitschutz, in den Tarifverträgen und in den betrieblichen Vereinbarungen haben keine eigene Kraft. »Schutzgesetze sind nur wirksam als Korrektiv zum Eigentumsrecht über Produktionsmittel, wenn Arbeiter kollektiven Gegendruck ausüben. Ein Schutzschild, das nicht von vielen getragen wird, sondern herumliegt, ist nutzlos«, schreibt Udo Achten in seiner Geschichte des arbeitsfreien Wochenendes (Denn was uns fehlt, ist Zeit, Bund-Verlag, 1988).
Es sind die vielen kleinen Kämpfe um das Recht auf die tägliche Pause am Arbeitsplatz, um den pünktlichen Feierabend, um den verlässlichen Schichtplan, in denen die Belegschaften mühsam und immer wieder neu die tatsächlichen Grenzen für die Arbeitszeit ziehen müssen. Erst in diesen Auseinandersetzungen kann das Selbstbewusstsein für die notwendigen Mobilisierungen um eine gesellschaftlich wirksame Umverteilung der Zeit für die Erwerbsarbeit wachsen.
In diesem Prozess kommt den Betriebs- und Personalräten eine Aufgabe zu, von der sie sich oft überfordert fühlen. Es ist nicht einfach, den inhaltlichen Zusammenhang zu den Erwerbslosen außerhalb des Betriebs und zu der oft patriarchalischen Arbeitsteilung in den Familien der Beschäftigten herzustellen. Und es ist oft noch komplizierter, die von den gesteckten Arbeitszielen vereinnahmten Kolleginnen und Kollegen mit den Tabus der Schutzgesetze zu konfrontieren. Denn sie erleben die Grenzen für die Höchstarbeitszeit allzu oft als fremdbestimmtes Hindernis für den eigenen Vollendungsdrang. Viele lassen sich auch allzu leicht mit vermeintlich attraktiven Zulagen ködern.
Es ist eine lange vernachlässigte Aufgabe der Gewerkschaften, die betrieblichen Interessenvertretungen für solche Konfrontationen zu schulen und auszurüsten. Zumindest für die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi gilt: Sobald die Arbeitszeitpolitik sich nicht mehr lediglich auf die Tarifzirkel stützt und eine Verknüpfung der unterschiedlichen Ebene gelingt, kommt auch eine lebendige Bewegung in die Belegschaften.

Tobias Michel

Tobias Michel ist Betriebsrat im Krupp-Krankenhaus Essen (tobias.michel@kruppkrankenhaus.de).-



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