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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, August 2004, Seite 9

Genua/Göteborg 2001

Drei Jahre danach

Im Juni und Juli 2001 fanden der EU-Gipfel in Göteborg bzw. der G8-Gipfel in Genua statt. Vor allem der Gipfel in Genua erregte großes Aufsehen in den Medien: Etwa 300000 Menschen demonstrierten gegen das Treffen der Staats- und Regierungschefs der führenden kapitalistischen Länder.
Diese Manifestation gilt bisher zusammen mit dem Europäischen Sozialforum in Florenz ein Jahr später als der Höhepunkt der sog. »Antiglobalisierungsbewegung« in Europa. Gleichzeitig gab es bei den Anti-Gipfel- Demonstrationen in Göteborg und Genua eine bisher nicht gekannte Eskalation staatlicher Repression, die ihren traurigen Höhepunkt in der Erschießung des 23-jährigen Carlo Giuliani fand.
In Göteborg sind die Verfahren gegen Demonstrantinnen und Demonstranten, die zum großen Teil mit ungewöhnlich hohen Haftstrafen ohne Bewährung endeten, weitgehend abgeschlossen. In Genua jedoch fangen die gerichtlichen Folgen in diesem Jahr erst an. Seit dem 2. März stehen 26 Demonstrationsteilnehmerinnen und -teilnehmer vor Gericht. Am 26.Juni wurde ein Vorverfahren gegen 29 Polizisten wegen des Überfalls auf die Diaz-Schule eröffnet.
Ein kurzer Blick zurück: In der Nacht vom 21. auf den 22.Juli 2001 stürmten Polizeieinheiten den Schulkomplex Pascoli-Diaz-Pertini. Während sie in der Pascoli-Schule überwiegend nur Sachschaden anrichteten, veranstalteten sie in der Diaz-Schule eine wahre Prügelorgie. Der größere Teil der 93 Festgenommenen wurde schwer, zum Teil lebensgefährlich, verletzt.
Die Polizei rechtfertigte den Einsatz damit, dass in der Schule Molotow-Cocktails gefunden wurden, Polizisten seien aus der Schule mit Steinen beworfen worden, und ein Polizeibeamter soll mit einem Messer angegriffen worden sein. Die in der Schule Anwesenden wurden beschuldigt, Mitglieder einer Vereinigung zu sein, die auf Verwüstung und Plünderung aus ist. Alle Vorwürfe erwiesen sich zwei Jahre nach dem Überfall als falsch. Die Molotow-Cocktails sind sogar von Polizisten in der Schule deponiert worden. Die Verfahren gegen Leute aus der Diaz-Schule werden eingestellt.
Ein Teil der Genueser Staatsanwaltschaft ermittelt seitdem gegen die am Überfall auf die Schule beteiligten Polizisten. Gegen 29 von ihnen wurde am 26.6.2004 das Vorverfahren eröffnet. Bis zur Eröffnung des Hauptverfahrens können noch Jahre vergehen.
Ein Teil der in der Diaz-Schule Misshandelten tritt im Verfahren als Nebenkläger auf. Da eine Reihe der Opfer aus Deutschland stammen, gab es in Berlin am 22.6. eine Kundgebung, an der etwa 90 Personen teilnahmen. Eine Kundgebung in Genua zum Auftakt des Verfahrens war schlechter besucht. Weitere Verfahren gegen Polizisten, die in der Kaserne Bolzaneto oder auf der Straße Demonstrierende misshandelt haben, stehen an. In den Fällen, wo Polizisten wegen Misshandlung von Personen angezeigt sind, die erst Tage nach der Demonstration festgenommen wurden, geschieht aber bisher nichts.
Die 26 Demonstrationsteilnehmerinnen und -teilnehmer, die seit dem 2. März vor Gericht stehen, sind allesamt wegen »Verwüstung« angeklagt. Dieses Vergehen wird mit 8 bis 15 Jahren Haft bestraft. Von der Verteidigung wird vor allem moniert, dass die Aktionen der Angeklagten, die unterschiedlichen politischen Spektren entstammen, aus dem Gesamtzusammenhang der Demonstration gerissen werden. Ferner geht es auch darum, ob die Demonstrierenden ein Notwehrrecht gegen Übergriffe der Polizei hatten. Die Staatsanwaltschaft hat angekündigt, gegen weitere Teilnehmende der Demonstration von 2001, die zum Teil erst Tage nach den Ereignissen festgenommen wurden, Verfahren zu eröffnen.
Das Medienecho in Italien anlässlich der Prozesse war bisher gering. Die Mitte-Links- Parteien unterscheiden sich dabei von den Parteien der Berlusconi-Koalition nur insofern, als dass sie die Demonstrationsteilnehmenden in gute und böse zu unterscheiden versuchen. So versuchte der der sozialdemokratischen DS angehörende Bürgermeister von Genua im Prozess gegen die 26 als Nebenkläger aufzutreten, während er die Opfer des Überfalls auf die Diaz-Schule im Rathaus empfangen wollte, was diese ablehnten. »Wir lassen uns nicht spalten in ›gute‹ und ›böse‹ Demonstrierende«, erklärten sie.
Viele Opfer von Polizeiübergriffen wollen zudem als politisch Handelnde gesehen werden, die ihr Engagement auch nach Genua nicht aufgegeben haben. Von den italienischen Parteien zeigt sich bisher nur Rifondazione Comunista solidarisch mit allen Demonstrierenden von 2001.
Seit dem 29.6. steht fest, dass der 23-jährige Niederländer Maarten Blok von den Niederlanden an Schweden ausgeliefert wird. Er war am 14.Juni 2001 in Göteborg mit unklarer Begründung festgenommen worden. Die Auslieferung erfolgt jetzt, obwohl die Beweislage nicht klarer geworden ist. Er soll angeblich einen Polizisten geschlagen haben.
Das Verfahren wurde u.a. auch von Amnesty International kritisiert. In Schweden gab es bislang keine Prozesse gegen Polizisten. Alle Verfahren wurden in einem sehr frühen Stadium eingestellt. Verurteilt wurden in zum großen Teil sehr fragwürdigen Verfahren bisher nur an der Demonstration Beteiligte.
Von einer gesellschaftlichen und politischen Aufarbeitung der Ereignisse von Genua und Göteborg kann bisher keine Rede sein. Sie wäre aber in Anbetracht von verschärften Sicherheitsgesetzen und Folterdebatten in Italien, den USA und Deutschland umso nötiger. Denn Genua und Göteborg fanden vor dem 11.September 2001 statt und zeigen, dass gewisse Tendenzen in der »inneren Sicherheit« völlig unabhängig von der vielzitierten Terrorabwehr sind.

Andreas Bodden

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