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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, August 2004, Seite 11

NATO-Gipfel in Istanbul

Militäreinsätze im Süden

Der Ort war mit Bedacht gewählt, an dem sich die NATO Ende Juni zu ihrem Gipfel traf: in Istanbul, am Übergang von Europa nach Asien. Wer von Westeuropa nach Asien gelangen will, reist am schnellsten über den Balkan und dann über die Meerenge bei Istanbul. Danach öffnet sich den Reisenden der Weg nach Nahost und Asien.

Einen ähnlichen Weg hat auch die NATO in den letzten zehn Jahren genommen. Längst beschränkt sie sich nicht mehr auf ihren eigentlichen Wirkungskreis im Nordatlantik, dessen Gebiet zu verteidigen sie einst angetreten ist. Wenn der NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer bei Gipfelbeginn am 28.Juni in Istanbul davon sprach, dass es gelte, »Brücken des Vertrauens und des Dialogs zwischen strategisch wichtigen Regionen der Welt« zu bauen und dabei besonders die zwischen der »Euroatlantischen Gemeinschaft und der weiteren Region des Mittleren Ostens« hervorhob, dann zeigt das genau diese Orientierung.
Dass die Türkei dabei ein muslimisches Land und NATO-Mitglied ist, macht das Land für de Hoop Scheffer zudem zu einem »symbolischen Platz« und einem »Erfolg, auf den wir aufbauen können«. Denn wenn sich heutzutage die 26 Staats- und Regierungschefs des mächtigsten Militärbündnisses der Welt treffen, dann geht es nicht mehr nur wie vor knappen 15 Jahren darum, die Rolle des Militärbündnisses in neuen Strategiepapieren festzulegen oder wie vor zehn Jahren über den Einsatz in Bosnien zu diskutieren.
Nein, heute geht es um Einsatzplanung: Welche Truppen werden wo stationiert, welche müssen aufgestockt werden, welche sind andernorts besser eingesetzt — das sind heute die brennendsten Fragen. Und es geht um Rüstungsfragen: Unter dem Stichwort Transformation sollen NATO-Soldaten fit gemacht werden für Militärinterventionen in den Ländern des Südens. So stehen künftig 40% der NATO-Heereseinheiten für einen weltweiten Einsatz innerhalb weniger Tage zur Verfügung, 8% für länger andauernde Einsätze bis zu einem Jahr, wie der jüngst über die PDS-Liste ins Europaparlament eingezogene parteilose Friedensforscher Tobias Pflüger herausgefunden hat. »Damit werden NATO-Interventionen in Zukunft noch wahrscheinlicher werden«, warnt Pflüger.
Im Detail musste an der Aufteilung der Einsätze einiges geändert werden. Denn die USA ziehen Truppen aus Europa ab, allein in Deutschland soll die Zahl der stationierten Soldaten halbiert werden. Das schafft Entlastung für die US- Regierung, die mit der Besatzung des Irak derzeit gut beschäftigt ist. »Im Fokus steht dabei nur vordergründig der Nahe Osten. Der Blick muss weiter schweifen — in Richtung Zentralasien. Es locken die umfangreichen Öl- und Gasschätze rund um das Kaspische Meer«, erklärt das Handelsblatt am 6.Juli die Lage.

Einsatz im Irak

In Bosnien zum Beispiel soll dieses Jahr der NATO-Einsatz enden, die EU übernimmt ihn mit 7000 Soldaten, aus der Sfor-Truppe wird Eufor. Doch auch im Irak kommt die US-Regierung nicht allein zurecht und sucht nach weiteren Truppen. Pünktlich zum Beginn des NATO-Treffens, am 28.Juni, wurde im Irak die »Souveränität« an die irakische Übergangsregierung übertragen. Das war angeblich nötig, um Anschläge in Bagdad zu vermeiden, war aber sicher auch als Signal an den Gipfel gedacht. Doch in der Gipfel-Erklärung wurde lapidar festgehalten, dass das Bündnis Polen, das im Irak eine der drei Besatzungsmächte mit eigener Zone ist, bei diesem Irak-Einsatz unterstützt. Vor dem Hintergrund, dass es sogar Überlegungen gab, die Zone der NATO zu übergeben, war das eine klare Absage.
Letztlich kam es zu einem Kompromiss. Frankreich und Deutschland sperrten sich zwar weiter gegen NATO-Truppen, doch die NATO — einschließlich Deutschland und Frankreich — will nun irakische Soldaten und Polizisten ausbilden. Ob das bedeutet, dass im Irak ein NATO-Büro eingerichtet wird, wurde allerdings von den Staats- und Regierungschefs nicht geregelt. Der französische Präsident Chirac hat sich dagegen ausgesprochen, die irakische Übergangsregierung dafür. Sollte es dazu kommen, wäre die NATO durch die Hintertür in den Irakkrieg verwickelt. »›Kriegsgegner‹ und ›Kriegsbefürworter‹ sind sich weiter näher gekommen«, kommentierte Tobias Pflüger, der die NATO »bald auch im Irak« sieht.
Notgedrungen gibt sich die US-Regierung mit diesen Gipfel-Ergebnissen zufrieden. Die Hoffnung auf neue Truppen aus anderen Mitgliedsländern hatte sie schon vor dem Gipfel aufgegeben. Allerdings drohte der republikanische Senator Richard Lugar, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses, die NATO sei nicht mehr die wichtigste Sicherheitsallianz der Welt, sollte sie sich einem Irak- Einsatz verweigern.

Afghanistan

Größer war die Einigkeit in Istanbul beim Thema Afghanistan. Beschlossen wurde, die Zahl der Soldaten in Afghanistan von 6500 auf 10000 zu erhöhen und vier neue regionale Aufbauteams im Norden einzusetzen, nach dem Vorbild der Bundeswehr in Kundus. Während der geplanten Wahlen im September sollen zusätzliche Truppen eingesetzt werden, möglicherweise sogar die neu gegründete NATO Response Force. Einige Truppen sollen als Verstärkung außerhalb von Afghanistan stationiert werden.
Ob das reicht, ist fraglich. Die vollkommen von Besatzungstruppen abhängige Regierung Karzai hatte jedenfalls vor dem Gipfel nicht weniger als »eine sichtbare und robuste Präsenz« der NATO gefordert, und zwar »in kurzer Zeit überall in Afghanistan«. Und in bürgerlichen Zeitungen wie der FAZ wurde offen über die Schwierigkeiten von NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer berichtet, überhaupt so viele Soldaten zusammenzukriegen.
Im Süden von Afghanistan setzt das US-Militär unterdessen die »Operation Enduring Freedom«, den Krieg gegen Taliban und Al Qaeda, fort. Hinter diesem muss alles andere erst mal zurückstehen, wie der zuständige US-Befehlshaber Generalleutnant David Barno, am 17.Juni auf einer Pressekonferenz deutlich machte. Die Zerstörung von Mohnfeldern etwa lehnte er auf Nachfragen von Journalisten ab — nicht weil er prinzipiell dagegen wäre, im Gegenteil, sondern unter Verweis auf lokale Machthaber, deren Unterstützung das Militär brauche. Barno verwies zudem auf einen neuen Anti-Drogen-Koordinator an der US-Botschaft in Kabul, dessen Arbeit eine »wachsende kritische Bedeutung« zu komme, vor allem was den »langfristigen« Erfolg angehe.
Was das kurzfristig bedeutet, machte eine Delegation der Parlamentarischen Versammlung der NATO, die im Mai Afghanistan besuchte, in ihrem Abschlussbericht deutlich: »Wenn Wahlen unter den jetzigen Bedingungen stattfänden, würden Warlords und Drogenbarone wahrscheinlich die Kontrolle über das Parlament bekommen und Afghanistan in etwas verwandeln, was man eine ›Narco-Demokratie‹ nennen könnte.« Die Empfehlung der Delegation lautete deshalb, die Truppen zu verstärken und vor den Wahlen gegen die Drogenbarone vorzugehen. Eine Aufgabe, die das US-Militär, wie erwähnt, von einem einzigen »Koordinator« in Kabul erledigen lässt.

Dirk Eckert

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