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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, August 2004, Seite 16

Die Versuchungen der Macht

Aufstieg und Niedergang der sandinistischen Revolution

»Die Versuchungen der Macht« war der Teil einer Ringvorlesung, die in Köln die Fachschaft Regionalwissenschaften Lateinamerika anlässlich des 25.Jahrestags der sandinistischen Revolution am 19.Juli organisiert hat. LEO GABRIEL hat 15 Jahre in Nikaragua gelebt und die Revolution in all ihren Phasen hautnah miterlebt.

Sowohl aufgrund ihrer klassenspezifischen Eigenheit — man kann sie im Unterschied zur russischen, chinesischen und kubanischen Revolution als die erste erfolgreiche Revolution des städtischen Lumpenproletariats bezeichnen — als auch aufgrund ihres ideologiekritischen Ansatzes, der weder den »Marxismus-Leninismus«, noch den Maoismus noch irgendein anderes ideologisches System in den Mittelpunkt seiner Analysen stellte, hat die sandinistische Revolution weder die Fehler des sog. Realsozialismus noch irgendeines anderen politischen Prozesses wiederholt. Das heißt nicht mehr, aber auch nicht weniger, als dass die sandinistische Revolution ihre ureigensten Fehler gemacht hat, denen hier nachgegangen werden soll.
Steigt man in die Geschichte der sandinistischen Revolution am Vorabend ihrer Machtergreifung ein, also um die Jahreswende 1978/79 und das Frühjahr 1979, als ich sie in den Bergen von Matagalpa und Estelí kennenlernte, so fiel mir schon damals die enorme Utopielastigkeit (man könnte es auch Idealismus nennen) der in den Bergen kämpfenden Guerrilleros auf. Sie hielten es tatsächlich für wichtiger, das »richtige Bewusstsein« zu haben, als ordentlich schießen zu lernen, und hatten — mit Ausnahme einiger weniger Anführer — keine Ahnung von militärischen Strategien.
Dafür entwickelten die muchachos in den Bergen eine ziemlich differenzierte Vorstellung von christlicher oder primär kommunistischer Basisdemokratie. Ob es nun die sesiones de crítica-autocrítica waren, die die Abende im Guerillalager füllten oder ihr relativ unkompliziertes Verhältnis zum anderen Geschlecht — auf Schritt und Tritt zeigte sich eine gemeinsame Praxis, in deren Mittelpunkt eine fast mystisch anmutende Todessehnsucht stand. »¡Patria libre o morir!«, lautete die Losung.
Es war diese mystische Erfahrung, die bald die rasch Platz greifende Vertikalität der militärischen Strukturen relativierte. »Cada comandante es un combatiente y cada combatiente es un comandante.« Dieser Ausspruch, der 15 Jahre später im »mandar obedeciendo« der Zapatisten seine Fortsetzung erfuhr, bedeutete nichts anderes, als dass sich die Sandinisten als klassenübergreifendes, interkulturelles Amalgam verschiedenster individueller Lebenserfahrungen verstanden, das durch eine kämpferische Praxis in einem monatelangen (nur selten in einem jahrelangen) Prozess zusammengeschweißt wurde.
Diesem Selbstverständnis der sandinistischen Kämpfer als Schicksalsgemeinschaft stand nun die vertikale Ordnung einer Befehlsstruktur gegenüber, die ihren Ausdruck in dem bis heute in ganz Nikaragua mit Recht kritisierten Slogan »¡Dirección Nacional ordene!« fand.
Denn im Unterschied zur sandinistischen Basis gab es in der sandinistischen Führung sehr wohl von Anfang an ideologische Differenzen, die nicht zuletzt in der in den 80er Jahren nie ganz überwundenen Teilung der FSLN in drei Tendenzen zum Ausdruck kam: die Tendencia Insurreccional (Terceristas) unter der Führung der Brüder Daniel und Humberto Ortega, die Tendenz des sog. Verlängerten Volkskriegs (GPP) von Tomas Borge, Henry Rúiz und Bayardo Arce und die Tendencia Proletaria unter der Führung von Jaime Wheelock, die eher eine kleinbürgerliche Abspaltung denn eine maoistische Spielart des Sandinismus war (wie sie nachher vorgab zu sein).

Zwei Kulturen

Zwischen einer eher basisdemokratisch artikulierten Kämpferschaft und der überaus machtbewussten und — aufgrund ihrer jahrelangen Untergrundarbeit — völlig intransparenten Führung gab es ein großes Spannungsverhältnis.
Diese Dichotomie zwischen sandinistischer, eher anarchistisch anmutender Utopie und zentralistischen Machtansprüchen zog sich nun durch die gesamte Geschichte der 80er Jahre und bestimmte bis zu einem gewissen Grad sogar die 90er Jahre. Es ist, als hätte sich eine nie offen zutage getretene Auseinandersetzung von zwei unterschiedlichen politischen Kulturen durch die gesamte Geschichte der nikaraguanischen Revolution gezogen, wobei je nach der Periode, die wir betrachten, einmal die eine und dann wieder die andere die Oberhand gewann.
So war etwa die Alphabetisierungskampagne des Jahres 1980 ein leuchtendes Beispiel für das Überhandnehmen des Bewegungscharakters der sandinistischen Revolution. Gerade weil generationenübergreifend völlig neue Gesellschaftsschichten — vor allem auf dem Land — in den revolutionären Prozess einbezogen wurden, entstand eine Dynamik, die trotz der ersten »Contra«-Überfälle, die es damals gab, ein viel lückenloseres Verteidigungspotenzial schuf als die militärischen Operationen, mit denen eine Armee nach professionellen Standards aufgebaut wurde.
Überhaupt waren die Jahre 1980 und 1981 die vielleicht kreativsten Momente der sandinistischen Revolution. Ob es sich um die Dichterschulen Ernesto Cardenals oder um die landwirtschaftlichen Experimente in den sandinistischen Kooperativen oder um die Stadtteilkomitees, die sog. CDS (Comités de la Revolución Sandinista) handelte — in Nikaragua entfalteten sich die Ansätze eines wirklich partizipativen Gesellschaftswesens. Obwohl es bis 1984 keine Wahlen gab, konnte mit Fug und Recht behauptet werden, dass Nikaragua damals eines der demokratischsten Länder der Welt war.
Gleichzeitig zeigte auch die Führung ihre Schwächen. Ich erinnere mich genau, wie der damalige Innenminister Tomas Borge lautstark in die Welt posaunte: »Es gibt keine Revolution ohne Konterrevolution«, und darauf drängte, dass sich der Prozess so rasch wie möglich militarisiere. Dabei kam es zu äußerst fragwürdigen Entscheidungen, die den Prozess nachhaltig bestimmten. Die Starrheit und Sturheit der Nationalen Führung eliminierte nicht nur die bürgerlichen Fraktionen unter der Leitung von Violeta Chamorro und Alfonso Robelo aus der Regierungsjunta, die zehn Jahre später — eine Art Ironie der Geschichte — wieder aus der politischen Versenkung auftauchen sollten. Sie machte auch vor prominenten Sandinisten wie dem Helden des Nationalpalastes Eden Pastora nicht halt: der Innenminister denunzierte seinen Vize so lange, bis diesem die Geduld riss und es zum offenen Bruch mit der FSLN kam.
Die allgemeine Hetze erwies sich als eine Art self-fulfilling prophecy nicht nur bei Einzelpersonen, sondern — was viel schlimmer war — auch bei ganzen Gesellschaftsschichten wie den indigenen Völkern an der nikaraguanischen Atlantikküste oder den Campesinos im Norden und Osten des Landes. Die teilweise recht brutale Überreaktion gegenüber den Miskitoindianern, die mit bestem Wissen und Gewissen nach einem Weg suchten, sich in die Sandinistische Revolution zu integrieren, trieb diesen Landesteil, der mehr als die Hälfte des Territoriums von Nikaragua ausmacht, förmlich in die Hände der Gegner.
Oder aber die sog. Landreform, die den Campesinos bis zum Ende der 80er Jahre ihre Landtitel vorenthielt, um sie gefügig zu machen, und sie mit Straßenblockaden und Rekrutierungskampagnen verfolgte. Dies rächte sich ganz fürchterlich, als sich die Bauern dazu entschlossen, die Seiten zu wechseln.
Alle diese Irrtümer werden heute sogar von allen jenen zugegeben, die diese historischen Fehlentscheidungen getroffen haben. Zwar wurde gegen Mitte der 80er Jahre etwa an der nikaraguanischen Atlantikküste der Versuch unternommen, die Entscheidungen zurückzunehmen und einen Autonomieprozess in die Wege zu leiten. Die menschenverachtende Umsiedlungspolitik aber wurde erst viel später beendet. Und die längst versprochenen Landtitel wurden den Bauern erst dann zugeeignet, als der Zug der Konterrevolution bereits auf Hochtouren lief und drohte, das ganze Land in einem Meer von Blut und Rache zu ersticken.

Recht auf Leben

Rückblickend habe ich manches Mal sogar den Eindruck, dass Ronald Reagan viel schlauer war, als wir uns das damals alle dachten — was im Vergleich zu dem gegenwärtigen US-Präsidenten keine besondere Kunst ist. Es ging ihm nämlich gar nicht darum, eine direkte US- amerikanische Intervention vom Zaun zu brechen. Ihm genügte es, mit einer solchen zu bluffen und die sandinistische Führung in eine Falle laufen zu lassen, die sie sich letztendlich selbst gestellt hatte.
Die Falle bestand darin, den politischen Prozess so sehr zu militarisieren, dass es letztendlich für die notleidende Bevölkerung keinen anderen Ausweg gab, als in die herrschsüchtigen Arme der »Contras« oder in die der nicht minder trügerischen Vorboten des Neoliberalismus zu flüchten, die 1990 unter großem internationalen Druck eine politische Alternative — die der UNO unter Violeta Chamorro — glaubhaft machen konnten.
Als dann Daniel Ortega in der Wahlnacht davon sprach, dass »die Revolution von unten weitergehen« würde, hörte sich das wie ein verspätetes Eingeständnis vergangener Irrtümer an, die natürlich nicht er allein zu verantworten hatte. Wenn wir es auf den Punkt bringen wollen, dann bestand der hauptsächliche Irrtum der sandinistischen Führung darin, den Versuchungen der extremen Machtkonzentration, wie sie ein langandauernder Krieg mit sich bringt, nicht widerstanden zu haben.
Damals wie heute lautet also die Gretchenfrage: Wie kann sich ein unter dem Druck des Imperiums stehendes Land oder eine bestimmte Region oder ein ganzer Kontinent vor diesen Versuchungen der Macht schützen?
Meine hypothetische Antwort, die sich so leicht sagt, aber immens schwer umzusetzen ist, lautet: Indem es nie aufhört, der eigenen Bevölkerung zu glauben und zwar vor allem jenen, die unter dem Militarisierungsdruck am stärksten leiden: den Müttern der Gefallenen und den Kindern der Toten, die ein ebenso großes Recht auf Leben haben wie die Politiker, die ihre Macht verteidigen.
In diesem Sinne ist auch die sandinistische Revolution noch lange nicht zu Ende. Sie ist ein historisches Beispiel für den Widerstandsgeist einer Bevölkerung, die sich zehn Jahre lang geweigert hat, sich dem Diktat einer Supermacht zu unterwerfen, und die unter ungeheuren Opfern gelernt hat, dass es einen anderen Weg als den des Krieges geben muss, um ihre Gegner zu überwinden.
Welches dieser Weg heute in Zentralamerika, im Mittleren Osten oder in Europa sein könnte, ist eine Frage, die uns alle betrifft. Sie setzt bei einem hintergründigen Verständnis für die eigene und für die Kultur der anderen an und führt zu Strategien, deren Tragweite bis heute noch nicht ausgelotet sind. Auch das können wir aus der facettenreichen Erfahrung der sandinistischen Revolution lernen. Reden wir darüber!

Leo Gabriel

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