SoZSozialistische Zeitung

Zur SoZ-
Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, August 2004, Seite 19

Die Entstehung der Dritten Welt

Ökologie und Imperialismus

Mike Davis: Die Geburt der Dritten Welt. Hungerkatastrophen und Massenvernichtung im imperialistischen Zeitalter, Berlin: Assoziation A, 2004, 460 S., EUR 29,50

Was verstehen wir unter diesem treffendem Ausdruck, »ökologischer Imperialismus«? Vor etwa 15 Jahren veröffentlichte Alfred W. Crosby Ecological Imperialism, ein Werk, das sich als fruchtbarer Text zur Geschichte der Umwelt herausstellen sollte. Die frühe europäische Expansion, so Crosby, wurde von einer globalen Ausbreitung europäischer Pflanzen, Krankheiten und Tiere begleitet, besonders in der Neuen Welt. Beim ökologischen Imperialismus handelt es sich um die Ersetzung einheimischer Ökologien jeweils zugunsten eines biologischen »Neo-Europa«. Doch trotz aller vielversprechenden Ansätze gingen in den folgenden Jahren weder Crosby noch andere Umwelthistoriker über die diffusionistische und ökologisch-reduktionistische Vorstellung von Imperialismus hinaus. Die Idee des ökologischen Imperialismus blieb eng ökologisch konzipiert, losgelöst von den kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnissen.
Das Erscheinen von Mike Davis‘ Late Victorian Holocausts (dt.: Die Geburt der Dritten Welt) 2001 markiert einen klaren Bruch mit solchen zahnlosen Behandlungen des ökologischen Imperialismus. Indem er die El-Niņo-Dürren zu seinem Ausgangspunkt nimmt, die im späten 19.Jahrhundert China, Indien, Brasilien und einen großen Teil Afrikas heimgesucht haben, argumentiert Davis, dass die Dritte Welt durch imperiale Strategien geschaffen wurde, die Dürre absichtlich in Hungersnot verwandelten. Die Todesrate betrug Dutzende Millionen.

Quantensprung globaler Ungleichheit

Davis‘ große Leistung ist die Erklärung, wie diese gesellschaftlich fabrizierten Hungersnöte — wahrscheinlich die weltweit größte ökologische Krise seit 1492 — eine entscheidende Bresche in eine neue globale Phase primitiver Akkumulation schlugen. »Die großen viktorianischen Hungersnöte waren die Antriebskräfte und beschleunigenden Momente eben jener ökonomischen Kräfte, die sie verursacht hatten.« Das Resultat war ein Quantensprung globaler Ungleichheit, als mit der imperialen Umwandlung der Ökologien und Gesellschaften der Dritten Welt eine dramatische Ausdehnung kapitalistischer gesellschaftlicher Verhältnisse in der Peripherie, vor allem in China und Indien, verbunden war.
Die theoretische Architektur von Late Victorian Holocausts ist entschieden minimalistisch. Während Davis seine Bewunderung für die klassische Studie des Geografen Michael Watts über die Subsistenzkrisen in Nordnigeria, Silent Violence, zum Ausdruck bringt, macht er sich eine weit gefasste Perspektive »Politischer Ökologie« zu eigen, »die den Standpunkt der Umweltgeschichte und der marxistischen Politischen Ökonomie« einnimmt.
Davis hat eine Geschichte zu erzählen, und zu diesem Zweck führt er mehrere weittragende Konzepte auf. An erster Stelle Rosa Luxemburgs Vorstellung von Imperialismus — mit der Betonung der Eingliederung der außerereuropäischen Gesellschaften in das System des internationalen Kapitalismus — und ihre Hervorhebung der Rolle der »permanenten Gewalt« beim Aufbau kapitalistischer Märkte.
Märkte, so Davis in einer nicht allzu subtilen Anspielung auf den heutigen Neoliberalismus, »sind immer ›gemacht‹. Trotz der allseits verbreiteten Ideologie, derzufolge Märkte spontan funktionieren, … haben sie durchaus äußerst komplizierte politische Entwicklungsgeschichten«. Es ist genau diese politische Geschichte des Weltmarkts im späten 19.Jahrhundert — mit seinen massiven ökologischen Verlusten an Menschenleben wie an Landschaften —, die Davis enthüllt.
Late Victorian Holocausts ist teilweise erzählte Geschichte, zum Teil »wissenschaftlicher Krimi« und zum Teil analytische Weltgeschichte. In der ersten Hälfte des Buches führt uns Davis durch eine erzählte Geschichte von primitiver Akkumulation und Hungersnot in der Welt der Tropen, welche die beiden großen El-Niņo-Dürren des späten 19.Jahrhunderts begleitet hatten (1876 bis 1878; 1888—1902). Dann folgt eine bemerkenswerte (wenngleich bisweilen ablenkende) Geschichte der Erforschung des Phänomens El Niņo und der Art und Weise, wie sein Zusammenhang mit dem »Weltklimasystem« hilft, ein »Klima des Hungers« zu schaffen. Schließlich entwickelt Davis ein bedeutende Argumentation bezüglich der »Ursprünge der Dritten Welt«.
Die El-Niņo-Dürren des späten 19. Jahrhunderts waren keine bloße Fußnote. Der davon hervorgerufene Klimawechsel verband sich mit einer Jahrhunderte währenden Erosion vorkapitalistischer staatlicher Strukturen und der gleichzeitigen Ausdehnung von Warenproduktion und Austausch, besonders in Süd- und Ostasien. Es folgten Hungersnot, Verelendung und ökologische Krise, und ihre dauerhaften Auswirkungen münden in die heutige extreme globale Ungleichheit.
Mike Davis leistet einige bedeutende Beiträge in seinem Buch — wenngleich ohne eine theoretische Zusammenfassung, was man bedauern mag. In erster Linie erfordert das Buch ein ernsthaftes Überdenken traditioneller Konzepte von Imperialismus und Unterentwicklung. Davis beginnt mit einer im Wesentlichen wallersteinschen Variation über Luxemburgs Theorie des Imperialismus, wenn er die Zwangseingliederung der tropischen Menschheit in die politischen und ökonomischen Strukturen des modernen Weltsystems betont. Sein Hauptbeitrag besteht darin, den Luxemburg-Wallerstein-Ansatz auszuweiten und zu vertiefen, indem er das Verhältnis zwischen exogenen Umweltfaktoren (Klimawechsel), der politischen Ökonomie der britischen Welthegemonie und der Umweltgeschichte weltweiter primitiver Akkumulation betont.
Wenn frühere Sichtweisen in Bezug auf Weltsysteme und Abhängigkeit dazu tendierten, den Imperialismus auf sein politisch-ökonomisches Moment zu reduzieren, so enthüllt Late Victorian Holocausts die Umweltgeschichte der Unterentwicklung. Tatsächlich legt es nahe, dass die Unterentwicklung ohne eine ökologische Kritik nicht erklärbar ist. Die El-Niņo- Dürren Ende des 19.Jahrhunderts trugen zu der sich aufhäufenden Not der Gesellschaften — besonders Indiens und Chinas — bei, die sich bereits unter dem Druck der Kolonialherrschaft und des imperialistischen Krieges krümmten. Der britische Imperialismus untergrub auf radikale Weise die Fähigkeit der asiatischen Staaten, ihre Bevölkerung vor dem Hunger zu schützen, wie sie es in früheren Jahrhunderten vermocht hatten.
Die Weltgeschichte und die Umweltgeschichte teilen eine starke Tendenz, den gesellschaftlich- ökologischen Wandel in Kategorien des Marktes zu erklären. Davis‘ Herangehen kommt dagegen dem, was Marx einst das »organische Ganze« von Produktion und Austausch nannte, viel näher. Sein Buch malt ein Bild, das uns zwingt, die gewaltsame Konstruktion eines Weltmarkts seitens des imperialen Großbritannien auf vielfältigen Skalen, die Erniedrigung und Transformation lebender Umwelten und den Widerstand gegen den Imperialismus zu Ende zu denken — das Ganze als miteinander verknüpfte Bildungsmomente eines einzigen weltgeschichtlichen Prozesses.

Rolle des Goldstandards

Dies wird vollkommen deutlich bei Davis‘ erhellender Diskussion des Goldstandards, der scheinbar mit einer Geschichte der Umwelt wenig zu tun hat. Er wurde von Großbritannien 1821 angenommen und der größte Teil der entwickelten und nahezu entwickelten Welt folgte in den 1870er Jahren. Das Resultat war, dass »[r]iesige Mengen entwertetes Silber den Weltmarkt [überfluteten] und es zu einer Währungskrise in Indien und China, den beiden wichtigsten Nationen außerhalb des hegemonialen Goldblocks, [kam]«. Unter britischer Herrschaft und dem neuen Goldstandard sank der Wert der auf dem Silberstandard beruhenden indischen Rupie von 1873 bis 1895 um mehr als ein Drittel.
Die Folge? Die Inflation (Silberabwertung) zerstörte die Ersparnisse der Bauern und trieb die bäuerlichen Haushalte in ein auf Wucher beruhendes Kreditsystem. Der Goldstandard begünstigte außerordentlich die langwährenden Bemühungen des Empire — zu deren hauptsächlichen Formen ein Steuersystem gehörte, das viel nahm und wenig gab, sowie die böswillige Vernachlässigung einer hydraulischen Infrastruktur —, die indischen Bauern zur Produktion von zum Verkauf bestimmten Anbaufrüchten wie Weizen, Baumwolle, Jute und Opium zu drängen. Davis zeigt, dass dieser weltgeschichtliche Moment primitiver Akkumulation gleichermaßen ökologisch wie ökonomisch war. Mit dem Ziel der Ausdehnung der Warenproduktion unterminierte Großbritanniens Politik die dörfliche und regionale Ökologie und machte die bäuerliche Gesellschaft zutiefst anfällig gegenüber einem ungünstigen Klimawechsel. In Indien allein forderten Hunger und mit Hunger verbundene Krankheiten in den 1870er Jahren 7 Millionen Menschenleben; 19 Millionen waren es in den 1890er Jahren und weitere 2—3 Millionen während des folgenden Jahrzehnts.
Diese imperiale Politik hielt Großbritanniens Welthegemonie zu einer Zeit aufrecht, als es mit einer wachsenden Konkurrenz seitens seiner Rivalen, besonders der USA und Deutschlands, konfrontiert war. Indischer Weizen subventionierte die wirtschaftliche Entwicklung Großbritanniens, besonders in der Folge der »Krise der englischen Landwirtschaft in den späten 1870er Jahren«. Das Ausmaß der indischen Exporte ermöglichte Großbritanniens Handelsdominanz über China, die es ihm wiederum erlaubte, große Handelsdefizite gegenüber den USA, Deutschland und den weißen Dominions aufrechtzuerhalten. Und schließlich finanzierte Indien nicht nur die britisch geprägte Weltwirtschaft, sondern auch die militärische Macht für ihre Aufrechterhaltung. In jeder Beziehung wurde Indiens Fähigkeit, sich vor Hungersnot zu schützen, untergraben: die Ersparnisse der Haushalte wurden zerstört, die Subsistenzproduktion untergraben, die kolonialen Staatsetats umorientiert von der Aufrechterhaltung ökologischer Infrastrukturen zugunsten imperialistischer Abenteuer.
Wenn wir von dieser Umweltgeschichte der britischen Hegemonie überzeugt sind, was machen wir dann mit der zentralen Fragestellung des Buches? Finden sich die Ursprünge der Dritten Welt in diesen Veränderungen des späten 19.Jahrhunderts? Ja und nein. Diesbezüglich sollten wir mehr dem Geist als dem Buchstaben von Davis‘ Interpretation folgen.
Während die Eingliederung Süd- und Ostasiens in das Weltsystem unbestreitbar entscheidend für die Entwicklung des Kapitalismus im darauf folgenden Jahrhundert war, könnte dieses Argument frühere, aber nicht weniger epochale Veränderungen verdunkeln. Dabei ist vor allem an die Erneuerung der Weltökologie zu denken, die sich während des »langen« 16.Jahrhunderts vollzog und von den weitreichenden Auswirkungen von Zuckermonokulturen bis zur Reorganisation regionaler Sozioökologien um Zentren des Silberbergbaus reichte. Die welthistorischen Ungleichheiten — globalisierend, wenn (noch) nicht globalisiert —, die während dieser Ära kapitalistischen Übergangs geschmiedet wurden, waren für die Kapitalakkumulation auf eine Weise ähnlich unerlässlich, wie die Transformationen, die Davis behandelt.

Die Dritte Welt ist mehrfach entstanden

Imperialismus und globale Ungleichheit in der kapitalistischen Ära weisen bemerkenswerte Kontinuitäten auf, aber auch bedeutende Diskontinuitäten. Die Dritte Welt wurde nicht einmal, sondern viele Male geschaffen. Die »globale Kluft« zwischen Zentrum und Peripherie ist in aufeinanderfolgenden Perioden der kapitalistischen Entwicklung immer wieder erneuert worden, und dies in einem stets zunehmend globalisierten Ausmaß.
In Late Victorian Holocausts beginnt und endet Davis mit einer ganzen Reihe antiimperialistischer historischer Untersuchungen: Großbritannien konnte seine internationale Machtposition im späten 19.Jahrhundert durch die Unterordnung der tropischen Welt unter kapitalistische Imperative bewahren. Davis‘ großer Beitrag besteht darin, diese Entwicklungen im Lichte der Umweltveränderungen zu analysieren. Er zeigt, wie das britische Empire seine globale Hegemonie auf der Grundlage einer massiven Neubildung der Weltökologie organisierte und bewahrte — angetrieben durch die Kapitalakkumulation auf zunehmend erweiteter Skala und gleichzeitig neue Bedingungen für sie schaffend.
Dieser Moment des britischen Imperialismus hatte mit der Ersetzung lokaler moralischer Ökologien zugunsten kapitalistischer politischer Ökologien zu tun. Dadurch entstanden sozioökologische Produktionsverhältnisse, die die Kapitalakkumulation an entlegenen Orten auf Kosten ökologischer Nachhaltigkeit begünstigten — darunter der »Nachhaltigkeit« von Menschen, die in dieser sich herausbildenden Dritten Welt lebten.
Dass Davis seine Argumente vorbringt, ohne Zuflucht zu engen Vorstellungen von Industrialisierung, Kommerzialisierung und Bevölkerungswachstum zu nehmen, sondern stattdessen ein stimmiges historisches Konzept der politischen Ökonomie des Kapitalismus vorlegt, hebt seine Studie aus der vorherrschenden Umweltgeschichtsschreibung heraus. Dadurch dass er dabei eine Sichtweise auf den Imperialismus bietet, die die Ökologie in den Mittelpunkt stellt, und gleichzeitig den Versuchungen des ökologischen Reduktionismus standhält, wird sein Buch zu einem Meilenstein für das Verständnis des Antagonismus Kapital—Natur und potenziell zu einer bedeutenden Waffe im Kampf für soziale Gerechtigkeit und eine intakte Umwelt.

Jason W. Moore

Aus: Monthly Review (New York), Juni 2003 (Übersetzung: Hans-Günter Mull). Der Autor studiert Geografie an der Universität von Berkeley (Kalifornien) und arbeitet derzeit an einer Geschichte der Weltökologie beim Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus.



Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch. Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50,
Kontonummer 603 95 04


zum Anfang