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Was für eine Blamage: Von einer B-Elf wurde die deutsche Nationalmannschaft bei der Fußball-
Europameisterschaft in Portugal aus dem Turnier gekegelt. Gegen die tschechische A-Mannschaft, die eine hervorragende Qualifikation gespielt hatte,
hätte man eventuell ja noch verlieren können. Aber nicht gegen einen Gegner, der zu Beginn der Begegnung nur einen Spieler aus der eigentlichen
Startformation auf dem Platz hatte. Nicht gegen einen Gegner, der seine Stars Nedved, Rosicky und Koller für das Viertelfinale schonte.
Für einen Finalisten der Weltmeisterschaft 2002 durfte eine B-Auswahl einfach kein
ernsthaftes Hindernis sein auch wenn es sich um einen der Titelfavoriten handelte. Immerhin hatte man im Endspiel der WM gegen Brasilien und damit
gegen eine der stärksten Mannschaften der Welt die beste Partie im Verlauf des Turniers gemacht und nur durch einen Fehler von Torwart Oliver Kahn
verloren.
Ausgerechnet Kahn: Auf dem Weg ins Finale hatte er sich die Ehrenbezeichnung
»Titan« verdient. Ohne seine hervorragenden Leistungen, so die einhellige Meinung der Fangemeinde in Deutschland, hätte man das Finale
gegen die Südamerikaner gar nicht gespielt, hätte nach dem Viertelfinale gegen die USA oder nach dem Halbfinale gegen Südkorea den
Rückflug antreten können.
Dass Kahn bei dem Schuss von Rivaldo daneben griff und Ronaldo dadurch ein Tor erzielen
konnte, gibt auch Klaus Theweleit unumwunden zu. In seinem Buch Tor zur Welt kommt er bei der Ursachenforschung des kahnschen Fehlgriffs jedoch zu
einem überraschenden Ergebnis. Nicht Kahn oder etwa Dietmar Hamann, der das Spielgerät vor dem eigenen Strafraum gegen Ronaldo verloren
hat, waren letztendlich für den entscheidenden Ballbesitz der Brasilianer verantwortlich zu machen. Vielmehr verstellte nach Einschätzung
Theweleits er untermauert seine These durch zahlreiche Videoaufnahmen Schiedsrichter Colina für wenige Sekunden den für
Hamann besten Passweg und hinderte diesen an einer Spieleröffnung, die diese Folgen nicht gehabt hätte.
Unkonventionell ist in Tor zur Welt nicht nur die Deutung der Begegnung mit Brasilien im Jahr
2002. Dies gilt auch für einen Satz wie »Zidane wäre dann so etwas wie der aktualisierte Lenin, ein unverfänglicherer zumal«.
Mit ihm versucht Theweleit, die in den letzten Jahren beinahe ins Unermessliche gesteigerte »Intellektualisierung« des Fußballs auf den Punkt
zu bringen: »Kannten sich die Leute vor drei Jahrzehnten noch bestens in den diversen chinesischen Wegen zur deutschen Revolution aus, kommentieren
sie heute versiert die Verschiebungen der fußballerischen Gemengelagen.« Oder: »Die Diskussionen über Pressing und Verschieben
wären die Diskussionen des ›richtigen Moments‹ des richtigen politischen Handelns.«
Dieses Verknüpfen von Fußball mit politischen, historischen und sozialen
Aspekten macht die Stärke von Theweleits Buch aus. Zwar kann niemand ernsthaft in Zweifel ziehen, dass die bundesdeutsche, beziehungsweise deutsche
Mannschaft in den letzten vierzig Jahren weltweit erfolgreich Fußball spielte. Die bahnbrechende taktische Fußballrevolution aber schreibt
Theweleit nicht Deutschland, sondern den Niederlanden zu. Die Ende der 60er und zu Beginn der 70er Jahre von Ajax Amsterdam und der
niederländischen Elf »erfundene« fußballbezogene Verengung bzw. Erweiterung des Raumes basiert seiner Einschätzung nach
auf einem besonderen niederländischen Verständnis: »Es [Holland] ist in allen seinen Teilen Produkt künstlicher Raumordnungen;
geschützt von Deichen, aufgeteilt in Quadrate und Rechtecke … in einem durchgeplanten Wechsel von Wasser und Landflächen,
Straßen und Kanälen.« Parallelen erkennt Theweleit in den Grundzügen der niederländischen Malerei: »Es [Holland] ist,
aus der Luft betrachtet und wenn seine regelmäßigen Tulpenfelder blühen, ein einziger großer Mondrian.«
Das Tor zur Welt streift jedes nur erdenkliche Thema, das sich irgendwie mit den
Geschehnissen um den runden Lederball in Verbindung bringen lässt. Vieles aus der Jugendzeit Theweleits kommt bekannt vor. Altersbedingt vielleicht
nicht unbedingt die Schweinsblase, die ihm in jungen Jahren als Ballersatz diente. Die merkwürdigen Flugeigenschaften eines Plastikballs jedoch schon.
Und auch, dass man gegen so ziemlich jedes Objekt getreten hat, das eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Fußball besaß. Die Namen vieler
Vereine, die den 1942 Geborenen jeden Sonntag vor dem Radio in ihren Bann zogen, sind in der Bedeutungslosigkeit der verschiedenen Verbands-, Landes- und
Kreisligen verschwunden. Die Spvgg Erkenschwick, der FK Pirmasens und Hamborn 07 interessieren heute eigentlich nur noch fußballhistorisch
Begeisterte.
Hat man diese Abschnitte hinter sich gelassen, kommt man immer wieder zu Kapiteln, die
durch eine ungewöhnliche Sicht der Dinge faszinieren. Ein Spielmacher à la Günter Netzer, der mit seinen langen Haaren und seinem
Auftreten am Ende der 60er und zu Beginn der 70er Jahre als Rebell, als »fußballerischer Elvis« galt, war laut Theweleit als Regisseur Teil
eines damals vorherrschenden kolonialen Denkens auf dem Platz: »Während Netzers Pässe etwa für den Feuilletonisten Helmut
Böttiger ›den Geist der Utopie atmeten‹, konnte der Betrachter unschwer erkennen, dass sie ihre Basis in einem ausgeprägten Ich-
da-oben-ihr-da-unten-Denken hatten. In einer strikten Trennung von Arbeit und Genie, von Knochenjobs und kreativen Tätigkeitsfeldern, von
Untergebenen und Chefs, die sich konsequent auch in einem unterschiedlichen sozialen Renommee und in der Bezahlung ausdrückte.«
Seit kurzem dürfen neben ehemals kreativen Schaltstellen, wie eben Netzer oder Franz
Beckenbauer, auch Fußballarbeiter wie Thomas Helmer als Analytiker großer Ereignisse auftreten ein Anzeichen für die
Bedeutungsverschiebung, die im Fußball allmählich durchbricht und von Theweleit aufgegriffen wird. Für das beckenbauersche
Anhängsel aus den 70er Jahren, Hans-Georg Schwarzenbeck, ist Tor zur Welt, das en détail die spätestens in den 60er Jahren einsetzenden
Veränderungen nicht nur auf dem rechteckigen Rasen beschreibt, zu spät erschienen. Er wird weiter in seinem Kiosk in München stehen und
in der Fernsehöffentlichkeit nur auftauchen, wenn er um eine Charakterisierung des balltretenden »Kaisers« gebeten wird.
Volker Elste
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