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Berühmt ist die elfte Feuerbachthese von Marx: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es
kömmt drauf an, sie zu verändern.« Diese Veränderung bestimmt Marx in der ersten These als »revolutionäre«,
beziehungsweise »praktisch-kritische Tätigkeit«, die eine sich selbst verändernde, veränderungsfähige Subjektivität
voraussetzt. Marx nennt das »sinnlich-menschliche Tätigkeit, Praxis«. Herbert Marcuse hat diese kritische Theorie der Praxis zum
Ausgangspunkt genommen und gefragt, wie im Kontext des gegenwärtigen Spätkapitalismus sinnliche Praxis und praktische Sinnlichkeit
begründet werden können.
Geboren am 19.Juli 1898 in Berlin, wird Marcuse dort nach seinem Militärdienst im
Ersten Weltkrieg für kurze Zeit Mitglied eines revolutionären Soldatenrates. Weil sich in dem Rat schon bald die alten autoritären
Machtstrukturen wieder durchzusetzen beginnen, verlässt er ihn, bleibt jedoch Zeit seines Lebens der Überzeugung, dass die theoretische und die
praktische Kritik aufeinander bezogen werden müssen, um ernsthaft die Möglichkeit einer befreiten Gesellschaft zu begründen.
Das Praxisproblem führt Marcuse nach Freiburg im Breisgau. Dort studiert er
Literaturwissenschaft und Philosophie, besucht mit großem Interesse Seminare und Vorlesungen bei Edmund Husserl und Martin Heidegger. Insbesondere
in Heideggers fundamentalontologischer Daseinsanalyse (Sein und Zeit, 1927) glaubt Marcuse, zunächst entscheidende Impulse für eine kritische
Praxisphilosophie finden zu können. Er erkennt jedoch schnell, wie sehr Heideggers Denken an den Faschismus anbindungsfähig ist, und
spätestens Heideggers offene Beigeisterung für die Nazis führt zum Bruch.
Noch unter dem Einfluss der Terminologie Heideggers rezipiert er dann als einer der ersten die erst Anfang der 30er Jahre zugänglich gemachten
Frühschriften von Marx. In den 1844 in Paris verfassten Ökonomisch-philosophischen Manuskripten findet Marcuse die Bausteine einer
Praxisphilosophie, in der Geschichtstheorie, Gesellschaftstheorie und Subjekttheorie gleichermaßen kritisch und dialektisch miteinander verbunden werden
können. Für Marcuses späteren Theorieentwurf wird die marxsche Theorie der Entfremdung und Entäußerung grundlegend.
Entfremdung ist dabei für Marcuse kein spezifisches Phänomen kapitalistischer Produktionsverhältnisse, sondern bezeichnet das dialektische
Praxisverhältnis des Menschen in Bezug auf Natur und Gesellschaft in geradezu anthropologischer Hinsicht.
Das Auseinandertreten von Mensch und Natur, der erste Akt der Naturbeherrschung als Akt der
Menschwerdung, bezeichnet eine ursprüngliche Entfremdung. Der Fortschritt der Geschichte ist zugleich eine fortschreitende Entfremdung und die
Aufhebung der Entfremdung ist die Voraussetzung für eine freie Gesellschaft. Erst die freie Gesellschaft ermöglicht ein nichtentfremdetes,
befriedetes Dasein. Aber der Entwurf einer freien Gesellschaft kann bereits jetzt antizipiert werden. Dies ist möglich, weil die Entfremdung zugleich auch
die Freiheit impliziert. Und in dieser existenziellen Freiheit sieht Marcuse zugleich die Begründung für eine widerständige Praxis, die er als
»Große Weigerung« bezeichnet.
Diese Weigerung meint aber indes keinen Aktionismus, sondern reflektiert auf eine
wie man mit Peter Weiss sagen könnte Ästhetik des Widerstands. Marcuses Praxisphilosophie gründet derart in einer
»ästhetischen Dimension«. Die Motive einer solchen Ästhetik findet er bei Marx, bei Hegel und vor allem bei Friedrich Schiller, mit
dem er sich schon in Studentenzeiten eingehend beschäftigte. Mit dem schillerschen Begriffspaar Spieltrieb/Formtrieb hat Marcuse die Bedingungen
für eine dialektische Theorie der Kultur gefunden, mit der praxisphilosophisch erklärbar wird, wieso Kultur sowohl emanzipatorisch wie auch
regressiv sein kann.
Eine solche Dialektik der Kultur bildet die zentrale Denkfigur einer kritischen Theorie der
Gesellschaft, deren Begriff Marcuse in den 30er Jahren im Arbeitszusammenhang des Instituts für Sozialforschung zusammen mit Max Horkheimer
entwickelt. Ausgehend von Kants Erkenntniskritik, von Hegels dialektischer Geschichtsphilosophie, von Marx Kritik der politischen Ökonomie und
von Freuds Konzept der Psychoanalyse sollte die strukturelle Dynamik der Gesellschaft als Totalität entschlüsselt werden. Kultur ist die Ideologie
dieser Totalität; Marcuse formuliert dies als widersprüchliche Hypothesen in seinem Hauptwerk Der eindimensionale Mensch: »1. Dass die
fortgeschrittene Industriegesellschaft im Stande ist, eine qualitative Änderung für die absehbare Zukunft zu unterbinden; 2. Dass Kräfte und
Tendenzen vorhanden sind, die diese Eindämmung durchbrechen und die Gesellschaft sprengen könnten.«
Dass und inwiefern allerdings das emanzipatorische Potenzial der Kultur zurückgedrängt wird, entwickelt Marcuse zunächst in seinem
Aufsatz »Über den affirmativen Charakter der Kultur« (1937) und dann in Triebstruktur und Gesellschaft (1955). Marcuse deutet hier die
freudsche Psychoanalyse als kritische Gesellschaftstheorie. Freud ging von einem regulativen Verhältnis zwischen Eros und Zivilisation aus, wobei die
Lust vom Realitätsprinzip aufgeschoben und sublimiert wird, um letztendlich längerfristig mehr Lust befriedigen zu können.
Für die fortgeschrittene Zivilisation stellt Marcuse hingegen fest, dass einerseits
Bedingungen vorhanden sind, die eine gesteigerte Befriedigung der Lust erlauben würden, dass andererseits im Gegenteil aber das Realitätsprinzip
in übersteigerter Weise die Lust zunehmend hemmt: Das Realitätsprinzip hat sich zum Leistungsprinzip verschoben. Dazu gehört auch, dass
die Wünsche, Bedürfnisse und vor allem die sexuelle Lust mehr und mehr an die kapitalistische Warenproduktion angepasst werden und
schließlich der Lustgewinn unter ökonomischen Gesichtspunkten organisiert wird, dass ferner die Triebbefriedigung selbst als Arbeit erscheint und
umgekehrt die ökonomische Arbeit zur Lust wird. Die von Marx beschriebene Praxis, die »sinnlich menschliche Tätigkeit«, hat sich in
eine eindimensionale Gesellschaft ohne Opposition verkehrt.
Zwar hält Marcuse daran fest, dass die Arbeiterklasse an sich das revolutionäre
Subjekt ist, für sich ist sie allerdings in den »korporativen Kapitalismus« integriert. Zugleich habe sich aber die bestehende Gesellschaft
soweit entwickelt, dass die Arbeit auf ein notwendiges Minimum reduziert werden könnte, womit der Mensch Zeit hätte, sich fantasievoll-
spielerisch und nicht unter ökonomischem Zwang mit seinen Bedürfnissen und Interessen zu beschäftigen. Trotzdem passiert aber genau das
Gegenteil und die kollektiven wie individuellen Bestrebungen der Menschen gelten der Aufrechterhaltung eines repressiven Systems.
Bereits in den 40er Jahren kommt Marcuse in Forschungen über die
nationalsozialistische Gesellschaft, die er für den US-Geheimdienst als seinen Beitrag gegen Krieg und Faschismus durchführte, zu ähnlichen
Ergebnissen. In vielen Diagnosen, die erst vor einigen Jahren unter dem Titel Feindanalysen zugänglich gemacht wurden, nimmt Marcuse bereits sein
Hauptwerk Der eindimensionale Mensch von 1964 vorweg. In der repressiven Gesellschaft wird eine »existenzielle Beziehung zwischen der Arbeitswelt
und der Welt der Kunst« aufgebaut. Der eindimensionale Mensch »verliert das Gefühl der Entfremdung und wird mit der Kunst
vertraut.« Doch diese Kunst wird »selbst zum Repressionsmittel« und verschmilzt »mit dem Bild von einer Ordnung, die erfolgreich die
verborgensten Gefahrenzonen der individualistischen Gesellschaft koordinierte.« So werden die Individuen dazu gebracht, »eine Welt zu lieben und
aufrechtzuerhalten, die sie nur als Mittel der Unterdrückung braucht.«
Gegen die integrative Praxis der eindimensionalen Gesellschaft setzt Marcuse die emanzipatorische Praxis einer Großen Weigerung. Sie verlangt eine
Neubestimmung der Kunst, der Kultur und Ästhetik. In seinem Essay Versuch über die Befreiung (1969) bestimmt Marcuse diese Praxis als
»Neue Sensibilität«: »Sie impliziert die Negation des gesamten Establishments, seiner Moral, seiner Kultur; die Behauptung des
Rechts, eine Gesellschaft zu errichten, in der die Abschaffung von Armut und Elend Wirklichkeit wird und das Sinnliche, das Spielerische, die Muße
Existenzformen und damit zur Form der Gesellschaft selbst werden.«
Marcuse setzte seine Hoffnung auf die weltweite außerparlamentarische Opposition und
wurde zum Stichwortgeber für die Neue Linke. Wie kaum ein anderer kritischer Theoretiker hat er den Versuch unternommen, die Theorie mit der
konkreten Praxis zu verbinden und Stellung bezogen gegen den Vietnamkrieg, zum Israel-Palästina-Konflikt oder für seine Studentin Angela Davis
und die antirassistische Bewegung. Das macht ihn streitbar, bleibt aber der entscheidende Impuls einer noch immer notwendigen Praxis, die der kritischen
Theorie der Gesellschaft nicht äußerlich bleiben kann.
Vor 25 Jahren, am 29.Juli 1979, starb Herbert Marcuse. Er wurde schließlich von einer
bei postmodernen theoretischen Moden Zuflucht suchenden Linken noch einmal für tot erklärt. Gleichwohl spricht für die Lebendigkeit seiner
Theorie, dass sie von der Möglichkeit einer freien Gesellschaft ausgehend argumentiert im Sinne der elften Feuerbachthese.
Roger Behrens
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