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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, August 2004, Seite 21

Zum 25.Todestag von Herbert Marcuse

Die Sinnlichkeit gesellschaftlicher Praxis

Berühmt ist die elfte Feuerbachthese von Marx: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern.« Diese Veränderung bestimmt Marx in der ersten These als »revolutionäre«, beziehungsweise »praktisch-kritische Tätigkeit«, die eine sich selbst verändernde, veränderungsfähige Subjektivität voraussetzt. Marx nennt das »sinnlich-menschliche Tätigkeit, Praxis«. Herbert Marcuse hat diese kritische Theorie der Praxis zum Ausgangspunkt genommen und gefragt, wie im Kontext des gegenwärtigen Spätkapitalismus sinnliche Praxis und praktische Sinnlichkeit begründet werden können.
Geboren am 19.Juli 1898 in Berlin, wird Marcuse dort nach seinem Militärdienst im Ersten Weltkrieg für kurze Zeit Mitglied eines revolutionären Soldatenrates. Weil sich in dem Rat schon bald die alten autoritären Machtstrukturen wieder durchzusetzen beginnen, verlässt er ihn, bleibt jedoch Zeit seines Lebens der Überzeugung, dass die theoretische und die praktische Kritik aufeinander bezogen werden müssen, um ernsthaft die Möglichkeit einer befreiten Gesellschaft zu begründen.
Das Praxisproblem führt Marcuse nach Freiburg im Breisgau. Dort studiert er Literaturwissenschaft und Philosophie, besucht mit großem Interesse Seminare und Vorlesungen bei Edmund Husserl und Martin Heidegger. Insbesondere in Heideggers fundamentalontologischer Daseinsanalyse (Sein und Zeit, 1927) glaubt Marcuse, zunächst entscheidende Impulse für eine kritische Praxisphilosophie finden zu können. Er erkennt jedoch schnell, wie sehr Heideggers Denken an den Faschismus anbindungsfähig ist, und spätestens Heideggers offene Beigeisterung für die Nazis führt zum Bruch.

Ästhetik des Widerstands

Noch unter dem Einfluss der Terminologie Heideggers rezipiert er dann als einer der ersten die erst Anfang der 30er Jahre zugänglich gemachten Frühschriften von Marx. In den 1844 in Paris verfassten Ökonomisch-philosophischen Manuskripten findet Marcuse die Bausteine einer Praxisphilosophie, in der Geschichtstheorie, Gesellschaftstheorie und Subjekttheorie gleichermaßen kritisch und dialektisch miteinander verbunden werden können. Für Marcuses späteren Theorieentwurf wird die marxsche Theorie der Entfremdung und Entäußerung grundlegend. Entfremdung ist dabei für Marcuse kein spezifisches Phänomen kapitalistischer Produktionsverhältnisse, sondern bezeichnet das dialektische Praxisverhältnis des Menschen in Bezug auf Natur und Gesellschaft in geradezu anthropologischer Hinsicht.
Das Auseinandertreten von Mensch und Natur, der erste Akt der Naturbeherrschung als Akt der Menschwerdung, bezeichnet eine ursprüngliche Entfremdung. Der Fortschritt der Geschichte ist zugleich eine fortschreitende Entfremdung und die Aufhebung der Entfremdung ist die Voraussetzung für eine freie Gesellschaft. Erst die freie Gesellschaft ermöglicht ein nichtentfremdetes, befriedetes Dasein. Aber der Entwurf einer freien Gesellschaft kann bereits jetzt antizipiert werden. Dies ist möglich, weil die Entfremdung zugleich auch die Freiheit impliziert. Und in dieser existenziellen Freiheit sieht Marcuse zugleich die Begründung für eine widerständige Praxis, die er als »Große Weigerung« bezeichnet.
Diese Weigerung meint aber indes keinen Aktionismus, sondern reflektiert auf eine — wie man mit Peter Weiss sagen könnte — Ästhetik des Widerstands. Marcuses Praxisphilosophie gründet derart in einer »ästhetischen Dimension«. Die Motive einer solchen Ästhetik findet er bei Marx, bei Hegel und vor allem bei Friedrich Schiller, mit dem er sich schon in Studentenzeiten eingehend beschäftigte. Mit dem schillerschen Begriffspaar Spieltrieb/Formtrieb hat Marcuse die Bedingungen für eine dialektische Theorie der Kultur gefunden, mit der praxisphilosophisch erklärbar wird, wieso Kultur sowohl emanzipatorisch wie auch regressiv sein kann.
Eine solche Dialektik der Kultur bildet die zentrale Denkfigur einer kritischen Theorie der Gesellschaft, deren Begriff Marcuse in den 30er Jahren im Arbeitszusammenhang des Instituts für Sozialforschung zusammen mit Max Horkheimer entwickelt. Ausgehend von Kants Erkenntniskritik, von Hegels dialektischer Geschichtsphilosophie, von Marx‘ Kritik der politischen Ökonomie und von Freuds Konzept der Psychoanalyse sollte die strukturelle Dynamik der Gesellschaft als Totalität entschlüsselt werden. Kultur ist die Ideologie dieser Totalität; Marcuse formuliert dies als widersprüchliche Hypothesen in seinem Hauptwerk Der eindimensionale Mensch: »1. Dass die fortgeschrittene Industriegesellschaft im Stande ist, eine qualitative Änderung für die absehbare Zukunft zu unterbinden; 2. Dass Kräfte und Tendenzen vorhanden sind, die diese Eindämmung durchbrechen und die Gesellschaft sprengen könnten.«

Eindimensionale Gesellschaft

Dass und inwiefern allerdings das emanzipatorische Potenzial der Kultur zurückgedrängt wird, entwickelt Marcuse zunächst in seinem Aufsatz »Über den affirmativen Charakter der Kultur« (1937) und dann in Triebstruktur und Gesellschaft (1955). Marcuse deutet hier die freudsche Psychoanalyse als kritische Gesellschaftstheorie. Freud ging von einem regulativen Verhältnis zwischen Eros und Zivilisation aus, wobei die Lust vom Realitätsprinzip aufgeschoben und sublimiert wird, um letztendlich längerfristig mehr Lust befriedigen zu können.
Für die fortgeschrittene Zivilisation stellt Marcuse hingegen fest, dass einerseits Bedingungen vorhanden sind, die eine gesteigerte Befriedigung der Lust erlauben würden, dass andererseits im Gegenteil aber das Realitätsprinzip in übersteigerter Weise die Lust zunehmend hemmt: Das Realitätsprinzip hat sich zum Leistungsprinzip verschoben. Dazu gehört auch, dass die Wünsche, Bedürfnisse und vor allem die sexuelle Lust mehr und mehr an die kapitalistische Warenproduktion angepasst werden und schließlich der Lustgewinn unter ökonomischen Gesichtspunkten organisiert wird, dass ferner die Triebbefriedigung selbst als Arbeit erscheint und umgekehrt die ökonomische Arbeit zur Lust wird. Die von Marx beschriebene Praxis, die »sinnlich menschliche Tätigkeit«, hat sich in eine eindimensionale Gesellschaft ohne Opposition verkehrt.
Zwar hält Marcuse daran fest, dass die Arbeiterklasse an sich das revolutionäre Subjekt ist, für sich ist sie allerdings in den »korporativen Kapitalismus« integriert. Zugleich habe sich aber die bestehende Gesellschaft soweit entwickelt, dass die Arbeit auf ein notwendiges Minimum reduziert werden könnte, womit der Mensch Zeit hätte, sich fantasievoll- spielerisch und nicht unter ökonomischem Zwang mit seinen Bedürfnissen und Interessen zu beschäftigen. Trotzdem passiert aber genau das Gegenteil und die kollektiven wie individuellen Bestrebungen der Menschen gelten der Aufrechterhaltung eines repressiven Systems.
Bereits in den 40er Jahren kommt Marcuse in Forschungen über die nationalsozialistische Gesellschaft, die er für den US-Geheimdienst als seinen Beitrag gegen Krieg und Faschismus durchführte, zu ähnlichen Ergebnissen. In vielen Diagnosen, die erst vor einigen Jahren unter dem Titel Feindanalysen zugänglich gemacht wurden, nimmt Marcuse bereits sein Hauptwerk Der eindimensionale Mensch von 1964 vorweg. In der repressiven Gesellschaft wird eine »existenzielle Beziehung zwischen der Arbeitswelt und der Welt der Kunst« aufgebaut. Der eindimensionale Mensch »verliert das Gefühl der Entfremdung und wird mit der Kunst vertraut.« Doch diese Kunst wird »selbst zum Repressionsmittel« und verschmilzt »mit dem Bild von einer Ordnung, die erfolgreich die verborgensten Gefahrenzonen der individualistischen Gesellschaft koordinierte.« So werden die Individuen dazu gebracht, »eine Welt zu lieben und aufrechtzuerhalten, die sie nur als Mittel der Unterdrückung braucht.«

Neue Linke

Gegen die integrative Praxis der eindimensionalen Gesellschaft setzt Marcuse die emanzipatorische Praxis einer Großen Weigerung. Sie verlangt eine Neubestimmung der Kunst, der Kultur und Ästhetik. In seinem Essay Versuch über die Befreiung (1969) bestimmt Marcuse diese Praxis als »Neue Sensibilität«: »Sie impliziert die Negation des gesamten Establishments, seiner Moral, seiner Kultur; die Behauptung des Rechts, eine Gesellschaft zu errichten, in der die Abschaffung von Armut und Elend Wirklichkeit wird und das Sinnliche, das Spielerische, die Muße Existenzformen und damit zur Form der Gesellschaft selbst werden.«
Marcuse setzte seine Hoffnung auf die weltweite außerparlamentarische Opposition und wurde zum Stichwortgeber für die Neue Linke. Wie kaum ein anderer kritischer Theoretiker hat er den Versuch unternommen, die Theorie mit der konkreten Praxis zu verbinden und Stellung bezogen gegen den Vietnamkrieg, zum Israel-Palästina-Konflikt oder für seine Studentin Angela Davis und die antirassistische Bewegung. Das macht ihn streitbar, bleibt aber der entscheidende Impuls einer noch immer notwendigen Praxis, die der kritischen Theorie der Gesellschaft nicht äußerlich bleiben kann.
Vor 25 Jahren, am 29.Juli 1979, starb Herbert Marcuse. Er wurde schließlich von einer bei postmodernen theoretischen Moden Zuflucht suchenden Linken noch einmal für tot erklärt. Gleichwohl spricht für die Lebendigkeit seiner Theorie, dass sie von der Möglichkeit einer freien Gesellschaft ausgehend argumentiert — im Sinne der elften Feuerbachthese.

Roger Behrens

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