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Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, August 2004, Seite

Noam Chomsky: Eine Anatomie der Macht, Europa Verlag, 480 Seiten, EUR 25,60

Detailwissen

Die New York Times bezeichnete Noam Chomsky als den »bekanntesten Dissidenten der Welt«. Der 1928 in Philadelphia geborene Professor für Linguistik und Philosophie am MIT, ist allerdings auf die New York Times nicht gut zu sprechen. Zusammen mit Edward S. Herman untersuchte er die Propaganda die diese Zeitung und anderer US-Medien im Auftrag der Herrschenden betreiben.
In Manufacturing Consent: The Political Economy of the Mass Media haben die beiden eine Untersuchung vorgelegt, die vor allem dadurch überrascht, wie geradlinig Anzeigenkunden ihre Interessen in die Meinung von Kommentatoren transportieren. Da erscheint es auf den ersten Blick verwunderlich wenn häufig die New York Times Book Review mit den Worten zitiert wird: »Urteilt man nach Wirkung, Reichweite, Innovation und Einfluss seiner Theorien, so ließe sich Noam Chomsky als der wichtigste Intellektuelle der Gegenwart bezeichnen.« Doch hört man Chomskys Kommentar zu diesem Zitat, wird deutlich, wie wichtig heute Menschen sind, die nicht nur den Header eines Artikels lesen: »Das Zitat wurde von einem Verlagshaus veröffentlicht. Doch da sollte man immer sehr genau lesen: Wenn man nämlich das Original nachschaut, dann heißt es weiter: ›wenn dies der Fall ist, wie kann er dann solchen Unsinn über die amerikanische Außenpolitik schreiben?‹ Diesen Zusatz zitiert man nie. Aber um ehrlich zu sein: Gäbe es ihn nicht, würde ich glauben, ich mache etwas falsch.«
Im Europa Verlag erschien im März 2004 der Chomsky-Reader Eine Anatomie der Macht. Vorlesungen und Gespräche geben auf fast 500 Seiten einen Einblick in die politische Denkweise eines Menschen, der seit seiner Jugend in Opposition zu den herrschenden Machtverhältnissen stand und bis heute nichts an seiner Radikalität verloren hat. Die Texte stammen aus der Zeit zwischen 1989 und 1999, so fehlen die Einschätzungen zum »Battle of Seattle« genauso wie die zum 11.9.2001 und zu den darauf folgenden Kriegen gegen Afghanistan und den Irak. Doch sicherlich hätten diese das Buch eher abgerundet als der Tendenz der Analysen eine neue Richtung gegeben.
Ein wirkliches Manko war für mich jedoch die Tatsache, dass die unzähligen Quellenangaben im Buch zwar durchnummeriert sind, aber die Quellen sich nicht im Buch befinden, sondern lediglich auf der Webseite nachzuschauen sind. Da hat man ein spannendes Buch, dass eine hervorragende Zuglektüre darstellt und ärgert sich mal nicht über Herrn Mehdorn, obwohl der Zug wieder verspätet ist, sondern darüber, dass man gerne mal etwas über die Quelle gewusst hätte, aus der Chomsky wieder einmal Ungeheuerliches zitiert, doch sie ist nicht angegeben. (Den Tischnachbarn bei seinem Ballerspiel am Notebook unterbrechen und ihn fragen, ob er nicht einen drahtlosen LAN-Anschluss hat, ist nun auch nicht meine Sache.)
Die Themen drehen sich um die US-Außenpolitik, z.B. gegenüber den Philippinen und Osttimor, die Medien, den Kalten Krieg, Sport, Sozialismus, Pädagogik, natürlich Israel/Palästina und vieles mehr. Antworten auf die Fragen der Zuhörerinnen und Zuhörer bilden das Gerüst an dem sich Chomsky von Thema zu Thema hangelt, mit einem in den meisten Fällen phänomenalen Detailwissen. Doch er kann auch zugeben, wenn er einmal zu einem Thema nichts zu sagen hat. Wenn er allerdings sagt, er habe die marxsche Dialektik oder Althusser nicht verstanden, ist dies doch eher ein Kokettieren, um sich nicht ernsthaft auseinandersetzen zu müssen.
Am Ende des Buches hat die Leserin wie der Leser einen Mann kennen gelernt, der eher bescheiden ist, der Pressefreiheit auch mal für Neonazis einfordert. Er ist in der Frage von Parteigründung und Wahlen alles andere als ein Anarchist, sondern ein radikaler, pazifistischer Demokrat. Dieser Mann bezieht die Erfahrungen vor allem der US-amerikanischen Arbeiterbewegung in sein Denken ein und begibt sich dabei nicht selten in die Nähe der Anhänger einer Hauptwiderspruchsidee. Ganz Anarchist bleibt er allerdings in der Ablehnung leninistischer Avantgardemethoden und der Einschätzung der Sowjetunion. Dabei liefert die Fülle des von ihm angesammelten Materials eine Menge empirischer Argumente, die die Analysen von Althusser und Wallerstein stützen, doch da bleibt er basisorientierter Aktivist, der lieber an dem Bild einer geradlinigen Durchsetzung gesellschaftlicher Macht von oben nach unten festhält.

Thomas Schroedter

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