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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, August 2004, Seite 22

Polen: Jacek Kuron †

Tragödie der antistalinistischen Linken

Jacek Kuron starb am 17.Juni. Wir blicken zurück auf sein Leben und damit auf die jüngere Geschichte Polens.

Geboren 1934 in Lwow, erlebt Jacek Kuron als Kind die sowjetische Besatzung, die Deportation seiner Angehörigen in die stalinistischen Lager, anschließend die Nazi-Okkupation. 1949 wird er ein stalinistischer »Aktivist«: Er wollte agieren, »ohne den Spuren seines [sozialdemokratischen] Vaters zu folgen«, erklärt er vierzig Jahre später.
Als Polen 1956 von einer beispiellosen antibürokratischen Mobilisierung erschüttert wird, verteidigt Kuron die Arbeiterräte und unterstützt Gomulka, den die Mobilisierungen im Oktober an die Spitze der Partei bringen. Als Gomulka mit der Normalisierung beginnt, begreift Kuron, dass die antibürokratische Revolution scheiterte, weil eine unabhängige Organisation gefehlt hatte.
Zusammen mit Karol Modzelewski beginnt er nun, eine solche Organisation aufzubauen. Sie nehmen Kontakt mit der IV.Internationale auf und verfassen 1964 einen »Offenen Brief an die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei«, ein wirkliches Programm der antibürokratischen und sozialistischen Revolution. Der »Offene Brief« bringt ihnen den ersten Gefängnisaufenthalt ein.
Nach ihrer Freilassung 1967 engagieren sie sich in der Studentenbewegung. Im März 1968 wird diese zerschlagen, Tausende von Abweichlern werden aus der Partei ausgeschlossen. Kuron und Modzelewski wandern wieder ins Gefängnis. Bei den Streiks im Winter 1970/71, die zu einem erneuten Wechsel an der Spitze der Partei führen, ist die linke Opposition abwesend.
Das Jahr 1968 und die Hinwendung der Bürokratie zum Antisemitismus kennzeichnen einen tiefgreifenden ideologischen Wandel in Polen. Er bedeutet die Abkehr vom marxistischen Lack seitens der offiziellen Ideologie wie auch der Dissidenten, eine Wertschätzung des Pragmatismus und vor allem die Rückkehr der katholischen Kirche auf die Bühne: Deren Bischöfe distanzieren sich klugerweise von der antisemitischen Kampagne des Staates!
Reorganisiert um das Komitee zur Verteidigung der Arbeiter (KOR), das zur Unterstützung der von der Repression betroffenen Streikenden von 1976 geschaffen wurde, nimmt die Opposition das Projekt von 1964 nicht wieder auf. Jacek Kuron beteiligt sich an der Verbreitung von Informationen über die Repression, die Arbeiterkämpfe, die ersten Gewerkschaftskomitees und die »fliegenden« Universitäten, und er spielt eine bedeutende Rolle bei der Erneuerung der Opposition, die die Idee unabhängiger Gewerkschaften popularisiert und am großen Streik vom August 1980 maßgeblich beteiligt ist.
Achtzehn Monate lang stellen die unabhängige Gewerkschaft Solidarnosc und die Selbstverwaltungsräte eine Gegenmacht der Arbeitenden dar, die sich das Ziel einer selbstverwalteten Republik setzen, aber keine Strategie zum Sturz der Bürokratie haben. Indem Kuron über die Notwendigkeit der Selbstbeschränkung der Bewegung theoretisiert, erlaubt er der Bürokratie, die Zerschlagung der Bewegung durch einen Militärputsch am 13.Dezember 1981 vorzubereiten. Er bezahlt dies erneut mit Jahren im Gefängnis.
Wie das Jahr 1968 für die Intellektuellen bedeutet die Zerschlagung von Solidarnosc 1981 für die polnische Bevölkerung das Ende der Hoffnung auf einen »Sozialismus mit menschlichem Antlitz«.
Kuron sucht nun nach einem Kompromiss mit der Bürokratie und akzeptiert ihr Privatisierungsprojekt im Austausch gegen eine formelle Demokratie. Er wird 1989 Arbeitsminister in der Übergangsregierung. Der einstige Vorkämpfer der Selbstverwaltung setzt nun seinen Namen unter eine minimale Erwerbslosenhilfe — die sog. kuroniowka — und Suppenküchen, die an das 19.Jahrhundert erinnern. Als neoliberaler Präsidentschaftskandidat wird er 1995 in einer freien Wahl von einem poststalinistischen Bürokraten deutlich geschlagen… Ein trauriges Ende für einen, der die antibürokratische Revolution in Polen repräsentierte.
Wir stellen jedoch fest, dass er in den letzten Jahren eine selbstkritische Reflexion begann. Sein Tod am 17.Juni 2004 ließ ihm nicht die Zeit, erneut zum Dissidenten zu werden.

Jan Malewski

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