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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, September 2004, Seite 4

Perspektiven des Protest

Für einen heißen Herbst — Bürgerstreik!

von Peter Grottian

Die Montagsdemonstrationen sind zu einem Überraschungserfolg geworden, aber sie lassen sich vermutlich weder in den Westen verbreiten, noch im Osten auf eine dynamisierende Dauer stellen. Spätestens nach der 5. oder 6.Montagsdemonstration wird die Frage lauten, mit welchen inhaltlichen Alternativen und Protestsstrategien wird man die Hartz-Gesetze doch noch zu Fall bringen.
Unsere bisherigen Anstrengungen für Alternativen zur Agenda 2010 haben noch entscheidende Defizite:
Die programmatischen Alternativen waren nicht überzeugend und vor allem nicht massenmobilisierend. Es fehlen einsichtige, leicht nachvollziehbare Projekte zum Abbau der Arbeitslosigkeit und zur sozialen Grundsicherung. Die Freiheit, keine Angst vor sozialer Deklassierung zu haben, müsste in einer Doppelstrategie für ein Grundeinkommen und gesellschaftlich finanzierte — wie selbst geschaffener Arbeitsplätze — angegangen werden. Wachstum und Agenda 2010 schaffen wenige Arbeitsplätze. Ein Grundeinkommen, das seinen Namen verdient und 2 Millionen selbstgewählte, gesellschaftlich sinnvolle und bezahlte Arbeitsplätze, sind eine konkrete Utopie.
Die neuen Bündnis-Allianzen (Basis der Gewerkschaften, linke Ränder von SPD, PDS, neue soziale Bewegungen, Wahlalternativen etc.) sind bisher eher formale als inhaltlich-strategische Allianzen. Das Gerede von der gleichen Augenhöhe verschleiert die jeweils betriebene Eigenlogik, die bisher dominiert und keine guten Chancen hat, sich bis zum Herbst aufzulösen. Die Differenzen zwischen den Wahlalternativen und dem Berliner Volksbegehren zur vorzeitigen Abwahl des Senats sowie die außerparlamentarischen Initiativen blockieren die Köpfe für notwendige gemeinsame Projekte zum Herbst, die wichtiger sind als das Interesse an sich selbst!
Alle bisherigen Mobilisierungskampagnen zeichneten sich durch eine Kreuzbravheit ihrer Protestaktionen aus (Demonstrationen), die etablierte Institutionen nicht herausforderten. Der hilflose Ruf von Michael Sommer, die rot-grüne Politik solle sich gefälligst mit der Demonstration der 500000 am 3.April 2004 auseinandersetzen, zeigt die Ohnmacht eigener Protestinstrumente. Zivilgesellschaftliche Widerstände neuen Typs müssen dringend angegangen werden. Statt Kreuzbravheit sind couragierte zivilgesellschaftliche Ungehorsamsprojekte überfällig.
Der Herbst 2004 dürfte durch einen weiteren Legitimationsverlust der SPD und die brutale Zurichtung über Hartz IV in eine Verarmungspolitik gekennzeichnet sein. Wir dürfen uns nicht in Wahlalternativen, außerparlamentarische Linke, Gewerkschaften und soziale Gruppen auseinanderdividieren lassen, sondern politische Projekte und Konflikte entwerfen, die das breite Band unserer politischen Gemeinsamkeiten nutzen.
Am fortgeschrittensten sind die Massenmobilisierungsvorhaben. Neben der nach wie vor wichtigen, undogmatisch linken bis linksliberalen Montagsdemonstrationen, sind die jetzt von einer vorgezogenen Aktionskonferenz vorzubereitende Großdemonstration (2./3.10. in Berlin) und die inzwischen gut vorbereitete Großdemonstration in Nürnberg (6.11.) zwei Höhepunkte. Inhaltliche Alternativen zur Agenda 2010 sollten sowohl von lokalen/regionalen Bündnissen als auch von Wissenschaftlern vorgelegt werden. Der bisher wundeste Punkt sind die zivilgesellschaftlichen Ungehorsamsstrategien, die aber zentral sind, will man eine echte Herausforderung an die Herrschenden erreichen. In der Diskussion sind: Besetzungen von Arbeitsagenturen, eine Manifestation der Verweigerung mit Prominenz Anfang Oktober in Berlin, Armutsproteste neuen Typs (z.B. Störungen der McKinsey-Feiern am 27./28.8. in Berlin, Lumpen-Interventionen bei festlichen Anlässen, Armenproteste in den Reichtumszonen der Städte). Spannend dürfte auch sein, ob die Idee eines Bürgerstreiks gegen Hartz IV konsensfähig ist (10.12.). Da ein Generalstreik noch nicht machbar erscheint, wäre ein Bürgerstreik (Arbeit, Tätigkeiten, Dienstleistungen) der für 3 Stunden das öffentliche Leben lahmlegt, eine eindrucksvolle, regelverletzende und machbare Protest- und Konfliktform. Der Bürgerstreik müsste von Aktionen flankiert werden, die auf Grundbedürfnisse der Ärmsten der Armen ausgerichtet sind (Schwarzfahren für ein Sozialticket, Sammeln für Suppenküchen, Besetzung von öffentlichen Räumen für Wohnungsnutzung etc.). Der Bürgerstreik könnte auch dazu dienen, Gewerkschaften und soziale Bewegungen einem Bündnistest zu unterwerfen.
Trotz der kleinen Erfolge der Montagsdemonstrationen werden klassische Mobilisierungsformen an Hartz IV nicht viel ändern — wir müssen mit zivilgesellschaftlichen Ungehorsamsstrategien nachlegen, ohne die aufbegehrenden Menschen zu überfordern. Aber am erneuten Einüben zivilgesellschaftlichen Ungehorsams kommen wir nicht vorbei, wollen wir wirklich etwas bewegen.

Prof. Peter Grottian ist aktiv u.a. im Berliner Sozialforum, der Initiative Berliner Bankenskandal, im Komitee für Grundrechte und Demokratie.



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