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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, September 2004, Seite 6

Montagsdemos

Nordrhein-Westfalen

Mitte Juli in der Verdi-Zentrale in Bochum: Auf Anregung des örtlichen Mietervereins hatten Verdi, Attac und Sozialforum zum Elchtest geladen: »Hartz IV — Wohnst du noch oder ziehst du schon um?« Sechzig Stühle waren aufgestellt, 300 Besucher kamen. Die Stimmung im Saal machte deutlich: Ein heißer Herbst steht bevor. Nicht die einschlägig verdächtige linke Szene, sondern unmittelbar Betroffene artikulierten recht drastisch ihre Wut. Die von der herrschenden Klasse geplante Deklassierung von Millionen von Menschen in den nächsten Jahren ist von den Betroffenen verstanden worden. Sie wehren sich. Montägliche Demonstrationen sind das Artikulationsmittel, das ihnen von den Medien angeboten wird.
Als im Osten der Republik die ersten Montagsdemonstrationen Zulauf fanden, zögerten im Westen viele Linke. »Wir sind das Volk« war für viele ein zu gruseliger Spruch, die Attraktivität dieses Slogans für Nazis zu naheliegend. Die Montagsdemos wurden allerdings zum Selbstläufer. Insbesondere Gruppen, die links von Rot-Grün zur Kommunalwahl am 26.9. in NRW antreten — in einigen Orten auch die PDS — sahen hier eine hervorragende Plattform für die Selbstdarstellung ihrer oppositionellen Position. Die örtlichen Gruppen von Attac wurden von ihrer Zentrale ermutigt, sich einzumischen. In Herne riefen sogar Verdi und IG Metall zur Unterstützung auf.
Eine äußerst zweifelhafte Rolle spielte an einigen Orten die MLPD. Ihre Abteilung »aktiver Volkswiderstand im ZK« war bemüht, den Protest gegen Hartz IV für sich zu instrumentalisieren. Pannen führten dazu, dass die ZK-Anweisungen öffentlich wurden. In Gelsenkirchen — der Hochburg der MLPD — kam es zur Spaltung des Protestes. In allen anderen Städten scheint es zu gelingen, die MLPD auf ihre marginale gesellschaftliche Bedeutung zurückzuführen.
Vieles spricht dafür, dass der Protest gegen das mit Hartz IV verbundene Konzept der sozialen Deklassierung stärker werden wird. Insbesondere im Ruhrgebiet findet dabei ein gigantischer Abschied von der Sozialdemokratie statt. Wenn Leute, die Jahrzehnte lang Beiträge in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt haben, plötzlich begreifen, was auf sie zukommen kann, wenn ihr Chef oder ihre Unternehmungsführung versagt und sie arbeitslos werden, dann keimt Widerstand auf. Immer stärker setzt sich ein Bild durch: Jemand ist 55 Jahre alt, sein Arbeitgeber setzt den Laden in den Sand, nach 12 Monaten ist der Arbeitslose bestenfalls Sozialhilfeempfänger. Wenn er oder irgendwer in seiner Umgebung gar noch ein bisschen Einkommen oder Vermögen hat, bekommt er keinen Cent.
Diese reale Drohung widerspricht diametral dem Weltbild, das die Sozialdemokratie Jahrzehnte lang ihrer Wählerschaft versprochen hat. Protest gegen die SPD erhält im Ruhrgebiet eine Färbung mit viel Enttäuschung und Wut. Für viele Menschen ist es unbegreiflich, dass die SPD, die in der Stadt, im Land und in der ganzen Republik die Regierungsmehrheit stellt, solche sozialen Deklassierungen durchziehen will. Die angedrohte Zwangsarbeit für Langzeitarbeitslose erinnert so stark an den Faschismus, dass alte SPD- Kämpfer sich verschämt an ihrem Infostand verstecken. Sie sind einsam geworden, viele der Genossen haben die SPD bereits verlassen.

Martin Budich, Bochum (24.8.04)

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