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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, September 2004, Seite12

Polen nach den EU-Wahlen

Krise als Normalfall

Der Triumph der Liberalen und der radikalen Rechten bei den EU-Wahlen ist ein Spiegel der tiefen sozialen Krise in Polen. Und der Schwäche der gesellschaftlichen Linken.
Das hervorstechende Merkmal der Europawahlen war die schwache Wahlbeteiligung (20,9%). Das heißt, für die Mehrheit der Polen hatten diese Wahlen nicht die Bedeutung, die ihnen eigentlich zukommt.
Die Bürgerplattform (PO), die größte neoliberale Partei in Polen, die an die Regierung drängt, hat 24,1% der abgegebenen Stimmen erhalten. Berücksichtigt man die Wahlenthaltungen, sind das gerade mal 6%!
Die Freiheitsunion (UW), die traditionelle Partei der liberalen Schichten, verdankt ihre Sitze im Europaparlament (EP) ebenfalls der hohen Wahlenthaltung. Nach den vorausgegangenen Parlamentswahlen war sie aus dem Sejm herausgeflogen, da die Rechte die Wahlen haushoch verloren hatte; jetzt hat sie 7,3% der Stimmen erreicht.
Das hohe Ergebnis der Polnischen Familienliga (LPR), 15,9%, wird allgemein als die Überraschung der EU-Wahlen gewertet. Die Familienliga ist eine Organisation der radikalen antieuropäischen Rechten, katholisch fundamentalistisch. Schaut man jedoch genauer hin, kann man sehen, dass die LPR 50000 Stimmen weniger bekommen hat als noch bei den Parlamentswahlen 2001. Sie verdankt ihr gutes Ergebnis ausschließlich zwei Faktoren: der hohen Enthaltung und der Disziplin ihrer Wählerinnen und Wähler, die sie auch unabhängig von der politischen Lage mobilisieren kann. Der katholisch-fundamentalistische Radiosender »Radio Marya« spielt dabei eine große Rolle.
Die Partei der autoritären Rechten, »Recht und Gerechtigkeit« (PiS), hat 21,8% erhalten. Eine prominente Figur dieser Partei ist der Bürgermeister von Warschau, Kaczynski; er hat eine Gay-Parade in der Hauptstadt verboten. Die Hauptforderung dieser Partei ist nach wie vor die Wiedereinführung der Todesstrafe.
Die Regierungskoalition aus der Allianz der demokratischen Linken (SLD) und der Arbeitsunion (UP) ist auf 9,3% Stimmenanteil gekommen. Das wurde sogar als Erfolg gewertet, weil die Umfragen vor der Wahl nicht einmal die Überwindung der 5%-Hürde in Aussicht stellten. Die Postkommunisten konnten auf eine treue Wählerschaft rechnen, die ihnen noch einmal eine Chance gegeben hat. In der Koalition spielt die UP die Rolle einer »linken Sozialdemokratie«; sie ist offener gegenüber der globalisierungskritischen Bewegung oder gegenüber Gewerkschaftsforderungen, aber sie ist doch nur der Juniorpartner der SLD und zu einer eigenständigen Rolle nicht in der Lage. Ihr bekanntester Politiker ist Adam Gierek, Sohn des früheren Ersten Sekretärs der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei in den Jahren 1970 bis 1980; er war die »Wahllokomotive« der Koalition in Schlesien.
Das gute Abschneiden der Polnischen Sozialdemokratie (SdPI) war für alle eine Überraschung. Sie erhielt 5,3% und 3 Sitze im EP. Sie ist die dritte sozialdemokratische Partei in Polen, gegründet von ehemaligen Mitgliedern der SLD und der UP, ohne politisches Programm. Sie wird allein vom Willen zusammengehalten, sich auf der politischen Bühne zu behaupten, und versucht zu vertuschen, dass sie Mitverantwortung trägt für den Stil und die Qualität der Regierung Leszek Miller. Jozef Pinior, ehemals ein führender Vertreter der Solidarnosc im Untergrund, der enge Beziehungen zur radikalen Linken hatte, ist für diese Partei ins EP gekommen.
Eine weitere Überraschung war das schwache Abschneiden der Partei der Kleinbauern, Samoobrona (Selbstverteidigung), die einen populistischen Zickzackkurs zwischen rechts und links verfolgt. Sie hat nur 10,7% erhalten. Ungeachtet ihrer sozialen Rhetorik hat sie Listenplätze an lokale Unternehmer verkauft; so wurde in Schlesien der Besitzer einer Billigfluggesellscaft Listenerster für Samoobrona.

Links von der Linken

Bei den Parteien hingegen, die versucht haben, den Platz links von SLD-UP und SdPI zu besetzen, gab es keine Überraschungen. Die Polnische Partei der Arbeit (PPP), die von der Gewerkschaft »August 80« gegründet worden ist, eine linkspopulistische Partei, hat 0,5% der Stimmen bekommen. Die Demokratische Linkspartei (eine Abspaltung von der SLD) hat nur in einem Wahlkreis Kandidaten aufgestellt und landesweit 0,09% erhalten. Die antiklerikale Partei Racja (Vernunft) ist in zwei Wahlkreisen angetreten und hat 0,3% erhalten. Die »Grünen 2004« war in drei Wahlkreisen präsent und kam auf 0,2% (jeweils landesweit). Die Listen, die vor wenigen Monaten die Nowa Lewica (Neue Linke) des früheren Abgeordneten der Polnischen Sozialistischen Partei, Piotr Ikonowicz, und die »Bündnis der antikapitalistischen Linken« angekündigt hatten, sind niemals in Erscheinung getreten.
Aber auf der Linken der Linken gibt es auch Ermutigendes. Trotz der Medienhysterie und der Allgegenwart der Polizei, haben über 4000 Menschen am 29.April in Warschau gegen den Europäischen Wirtschaftsgipfel demonstriert. Verschiedene gloablisierungskritische Gruppen und Gruppen der radikalen Linken hatten die Demonstration organisiert. Daran beteiligten sich auch Arbeitslosengruppen aus Walbrzych (Schlesien) und Pommern, Gewerkschafter der OPZZ (die größte Gewerkschaft des Landes, die inzwischen von der SLD geführt wird), und Solidarnosc ‘80 (eine Abspaltung von Solidarnosc). Das war die größte Demonstration, die die radikale Linke in Polen je organisiert hat.
Das Problem der radikalen Linken ist ihr Sektierertum und ihre mangelhafte Öffnung gegenüber anderen Strömungen und Milieus. Verschiedene Gruppen der Linken streiten sich um den Einfluss in der polnischen Delegation zum Europäischen Sozialforum, oder in den Aktionen der Erwerbslosen, oder in Attac. Es zeigt sich aber immer wieder, dass die erfolgreichsten Aktionen diejenigen sind, die gemeinsam vorbereitet werden, im gegenseitigen Respekt, wie die von Warschau, oder der Widerstandskongress, den anarchosyndikalistische Gruppen zusammen mit der Redaktion der Monatszeitschrift Nowo Robotnik vorbereitet haben. Eine gute Schule für gemeinsame Debatten bietet Attac, die nach mehreren Krisen heute über 100 Aktive in verschiedenen Regionen des Landes zählt.

Wachstum für die Reichen

Die gesellschaftliche Krise hängt eng mit der tiefen Wirtschaftskrise zusammen, obwohl das in den Medien nicht so dargestellt wird. Jede Woche stehen in der polnischen Presse Artikel über das »polnische Wirtschaftswunder«, auf das das »alte Europa« neidisch sein kann. Aber die Zeit der Euphorie ist allmählich vorbei und es kommen Fragen auf. Selbst die größte liberale Tageszeitung, Gazeta Wyborcza, fragte am 19.Juni: »Wo sind die Früchte des Wachstums geblieben? Obwohl das Wachstum bei 7% liegt und viele Fabriken voll ausgelastet sind, hat der Durchschnittspole immer noch Probleme mit der Arbeit und dem Lohn.«
Die Erwerbslosenquote liegt unverändert bei 20%, der schwache Reallohnanstieg wird von der Inflation aufgefressen. Mit dem Beitritt zur EU haben die Preise kräftig angezogen, die Preissteigerung liegt jetzt bei 4%. Von den zehn Städten mit dem höchsten Erwerbslosenanteil in der EU liegen sieben in Polen! In der Flucht vor der Erwerbslosigkeit haben sich nach dem Beitritt Tausende von Polen nach Westen aufgemacht. Dort finden sie besser bezahlte Arbeit, aber es kommen auch schon wieder Polen zurück, ohne Geld in der Tasche.
Es gibt aber auch Polen, denen es gut geht. Die an der Warschauer Börse notierten Firmen schütten Rekorddividenden aus — bis zu 2 Milliarden Zloty (450 Millionen Euro). Der reichste Pole, Jan Kulczyk, der Anteile an der Polnischen Telekom hält und mit allen Regierungen befreundet ist, hat allein etwa 581000 Euro Gewinnausschüttung in Aussicht.
Das Wachstum hängt mit der Ausdehnung der Multis aus dem Westen in Polen zusammen. Sie schaffen sich hier, dank der niedrigeren Arbeitskosten, eine verlängerte Werkbank. Doch die Sache liegt nicht so einfach. Sie flüchten ja nicht einfach mit ihren Betrieben nach Polen. Es gibt auch die entgegengesetzte Tendenz. Der französische Konzern Danone wollte eine Keksfabrik in Jaroslaw im Süden Polens schließen; nach Widerstandsaktionen — u.a. eine Boykottaktion der Produkte von Danone —, hat er darauf verzichtet, aber er hat den Betrieb verkauft. Der Multi Nestlé will eine Fabrik in Poznan schließen (ehemals Goplana) und entlässt Arbeiter in einer anderen Fabrik, Winiary. Eigentlich müsste die Produktion jetzt in den Ostteil Polens verlagert werden, dort wo die Löhne noch niedriger sind und es keine Tradition des sozialen Widerstands gibt.
Vergleicht man die Anzahl der Arbeitsplätze, die durch westliche Investoren geschaffen wurde, mit denen, die von ihnen vernichtet wurden, werden unter dem Strich wahrscheinlich mehr vernichtet. Verlässliche Statistiken gibt es nicht.
Seit Nestlé z.B. 1993 Fuß auf polnischen Boden gesetzt hat, sind durch seine Aktionen über 4000 Beschäftigte erwerbslos geworden. In der Fabrik Goplana waren vor der Ankunft von Nestlé 2700 Menschen beschäftigt, heute sind es 715 — und wahrscheinlich werden auch sie auf die Straße gesetzt. In den zehn Jahren der Tätigkeit des Konzerns in Polen ist sein Umsatz hier auf 314 Millionen Euro gestiegen.

Hinter den Wahlen die Streiks
Die EU-Wahlen besiegeln das Scheitern der Pro-EU-Kampagne der Regierungskoalition und der liberalen Parteien. Eine Anti-EU-Haltung findet man mehr und mehr auch in den Mittelschichten vor — provoziert durch den Anstieg der Mehrwertsteuer, die Preissteigerung und die vielfältigen bürokratischen Reglementierungen. Aber auch das politische System in Polen ist gescheitert, weil nicht einmal die großen Parteien in der Lage waren, ihre Anhänger zu mobilisieren.
Die Regierungskoalition SLD-UP hat auf der ganzen Linie vor den Forderungen der Rechten kapituliert: Sie hat das Arbeitsrecht drastisch abgebaut, die Stütze für die ärmsten Bevölkerungsteile gekürzt, sich am Irakkrieg beteiligt und der Kirche in der Frage der Abtreibung nachgegeben. Das hat in der SLD zu heftigen Auseinandersetzungen geführt. Der innerparteiliche Kampf geht dabei aber nicht um unterschiedliche programmatische Vorstellungen, sondern um die Flucht vor der Verantwortung. Die radikale Linke ist schwacht und zersplittert und nicht in der Lage, das verwaiste Terrain zu besetzen. Doch das Loch, das gerissen wurde, ist so groß wie noch nie.
Die Welle von Mobilisierungen in den Betrieben reißt nicht ab. Auf die Boykottkampagne bei Danone zur Verteidigung des von der Schließung bedrohten Werks in Jaroslaw folgte der Boykott von Nestlé gegen die Schließung des Werks in Poznan. Mehrere hundert entlassene Arbeiter der Baufirma Jedynka in Wróclaw kämpfen für ihre Wiedereinstellung und werden darin vom Studentenkomitee zur Verteidigung der Arbeiter unterstützt.
Die Beschäftigten bei Unionteks, dem größten Hersteller von Textilwaren in Lódz, haben eine Arbeiterkooperative gegründet und damit nach dem Scheitern ihres Streiks einen Teil der Arbeitsplätze gerettet. Die Beschäftigten im öffentlichen Nahverkehr in Kozienice haben gegen die Privatisierung des Unternehmens gestreikt; die Bahnfahrer in Kielce sind gegen die Stilllegung sog. »zweitrangiger Strecken« in den Hungerstreik getreten.
Die radikale Linke in Polen steht vor der Herausforderung, dass sie fähig sein muss, diese Arbeiterinnen und Arbeiter anzusprechen, die darüber hinaus die Europawahlen boykottiert haben. Denn hinter dem Streit um Sitze in Warschau und in Brüssel geht der Klassenkampf weiter.

Konrad Markowski

Konrad Markowski ist Redakteur der Monatszeitschrift Nowo Robotnik (Übersetzung: Angela Klein.)



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