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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, September 2004, Seite 14

Zur EU-Geschichte

Ambivalenter Europagedanke

Am 1.Mai ist die Europäische Union um zehn weitere Staaten angewachsen. Nun steht die nächste Etappe vor der Tür: Eine Europäische Verfassung. Die Architekten des EU-Verfassungsentwurfs behaupten, zu diesem gäbe es keine Alternative. Sollten sich Bürger einzelner Mitgliedstaaten in Referenden mehrheitlich gegen diese Verfassung entscheiden, wie voraussichtlich in Großbritannien, drohen die Konstrukteure mit einem Rausschmiss aus der EU. Aber gibt es tatsächlich keine Alternative? Ein Grund, sich mit der Geschichte der Europaidee zu befassen.
Die Idee Europa ist in die Jahre gekommen. Und mehr als zuvor scheint sie Wirklichkeit zu werden. Doch welche Idee von Europa ist gemeint? Auf welche historischen Wurzeln bezieht sie sich? Nimmt man das 18.Jahrhundert zum Ausgangspunkt, war die Europaidee zum einen Produkt des aufgeklärten Denkens. Der französische Dichter Victor Hugo etwa orientierte sich an den Werten der Französischen Revolution und wollte Kriege und nationalistische Engstirnigkeit in Europa überwinden.
»Ein Tag wird kommen, wo Kugeln und Granaten von dem Stimmrecht ersetzt werden, von der allgemeinen Abstimmung der Völker, von dem ehrwürdigen Schiedsgericht eines großen, souveränen Staates«, sprach er 1849 vor den Delegierten des internationalen Friedenskongresses in Paris. Und selbst Europa war in seinen Augen nur eine Etappe. »In den folgenden Jahrhunderten wird sie sich nochmals verwandeln und wird ›Die Menschheit‹ genannt werden«, schloss Hugo seinen Vortrag.
Aber wirkungsmächtiger war die imperialistische, reaktionäre und blutrünstige Seite der europäischen Geschichte. Damit sind nicht nur die Kriege der europäischen Potentaten und staatlichen Gebilde gegeneinander gemeint. Gemeint ist in erster Linie, dass sich europäisches Denken und Handeln in den verschiedenen Staaten immer auch durch die Konstruktion vermeintlicher Feinde definierte.
Das christliche Abendland suchte und fand seine innere Festigung in der Verfolgung von Andersdenkenden, von Juden, von Muslimen und später von Kommunisten. Und auch die Kolonialisierung Afrikas, Asiens und Amerikas wurde abgesichert und gerechtfertigt mit der Überhöhung der eigenen Kultur zur »Hochkultur« — weit überlegen den sog. Barbaren, Heiden oder Primitiven. Das sogar fast unwidersprochen quer durch alle weltanschaulichen Milieus, einschließlich der sozialdemokratischen.
»Europäer aus allen Teilen unseres Kontinents sind hier zusammengekommen, um in diesem Augenblick höchster Verwirrung und Verwilderung den europäischen Gedanken hochzuhalten und für die europäische Wirtschaftsgemeinschaft zu arbeiten«, sagte 1934 Richard Graf von Coudenhove-Kalergi, der Begründer der Paneuropa-Union in Anspielung auf das faschistische Italien und das nationalsozialistische Deutschland auf einer Versammlung der Union in Wien. »Paneuropa«, so Coudenhove- Calergi, ein Mann mit ausgeprägtem Sendungsbewusstsein, sei »eine neue Kraftquelle, ein neuer Strom von Ideen, der von Jahr zu Jahr mächtiger wird, bis er ganz Europa in seinen Bann zieht«.
Diese Paneuropa-Bewegung des österreichischen Adeligen Richard Nikolaus Graf von Coudenhove-Kalergi, der den imperialistischen Traditionen Europas verpflichtet war und einen konservativen Antifaschismus verfocht, zog auch Regierungschefs in ihren Bann: den Tschechen Thomas Masaryk, den Österreicher Engelbert Dollfuß und den Franzosen Aristide Briand.
Das Ziel der Paneuropa-Bewegung bestand in der Einrichtung eines gemeinsamen Zollvereins, eines Bundesgerichtshofs, der Einführung einer einheitlichen Währung und im Abschluss eines Militärbündnisses. Mit dem Zweiten Weltkrieg und der Eroberung Europas durch das nationalsozialistische Deutschland verlor die Paneuropa-Bewegung zunächst an Bedeutung. Die Nazis hatten eine ihrem Großmachtstreben angepasste Konzeption von Europa, die stark an den Interessen der deutschen Großindustrie ausgerichtet war und das Deutsche Reich als »Makler zwischen den Interessen der Völker, der Stämme und der Rassen« in Europa ansah.
Die deutschen Ordnungspläne landeten mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs auf dem Müllhaufen der Geschichte. Andere standen Pate für die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die spätere Europäische Gemeinschaft (EG), die Vorläufer der heutigen Europäischen Union (EU). Ihr Ziel, gegen die Hauptkonkurrenten am Weltmarkt, Nordamerika und Ostasien, eine Wirtschaftsgemeinschaft zu errichten, baute auf der Europaidee von Richard Coudenhove-Kalergi auf.
Während des Zweiten Weltkriegs entwickelten sich aber auch die Ideen von einem nicht primär wirtschaftspolitisch orientierten, sondern demokratischen, föderalen und sozialistischen Europa, die vor allem in den Widerstandsgruppen gegen den Faschismus zirkulierten.
Besonders das 1941 veröffentlichte Manifest von Ventotene, auch Manifest für ein freies und vereintes Europa genannt, inspirierte zahlreiche Widerstandskämpfer und fand auch im nach dem Konzentrationslager benannten Buchenwalder Manifest von 1945 seinen Niederschlag. Entworfen hatte es Altiero Spinelli, zusammen mit seinen Mithäftlingen Ernesto Rossi und Eugenio Colorni auf der italienischen Gefängnisinsel Ventotene.
Altiero Spinelli hatte als antifaschistischer Widerstandskämpfer mit dem Stalinismus gebrochen. Gemeinsam mit seinen Gefährten ging er bei seiner Analyse des Nationalstaats grundsätzlich andere Wege als Graf von Coudenhove- Kalergi. »Die Ideologie der nationalen Unabhängigkeit« sei zwar »ein mächtiger Gärstoff für den Fortschritt gewesen«, heißt es im Manifest von Ventotene, »trug jedoch in sich die Keime des kapitalistischen Imperialismus, den unsere Generation bis zur Bildung der totalitären Staaten und zur Entfesselung der Weltkriege ins Riesenhafte sich vergrößern sah«.
Spinelli, Rossi und Colorni plädierten für eine »sozialistische Revolution« in Europa, die »sich die Emanzipation der werktätigen Klassen und die Verwirklichung menschlicher Lebensbedingungen« zum Ziel setze, frei »vom Alpdruck des Militarismus und des nationalen Bürokratismus«. Mit diesem Manifest legten die Autoren auch die Keime für die Föderalistische Bewegung Europas als »Grundstein für das noch ferne Ziel der Weltföderation freier Völker«.
Der Weg zu diesem Europa sollte nicht zwischen den herrschenden Eliten im damaligen Europa ausgehandelt werden, sondern möglichst viele Bewohner Europas beteiligen. Als »Krönung« ihrer Träume bezeichneten die Föderalisten »eine verfassungsgebende Versammlung, gewählt aufgrund des soweit wie möglich gefassten Stimmrechts und unter gewissenhafter Wahrung des Rechts der Wähler, sich eine bestimmte Verfassung zu geben … Die Vereinigten Staaten Europas können nur auf der republikanischen Verfassung all ihrer Bundesstaaten beruhen.«
Nach dem Zweiten Weltkrieg wollten viele Widerstandsgruppen in diesem Sinne einen europäischen Bundesstaat ins Leben rufen. Doch dieser Plan von den Vereinigten Staaten von Europa, der außenpolitisch auf eine zivile Politik orientierte, fand weder bei Churchill noch bei Stalin Anklang. Im aufkommenden Kalten Krieg setzten denn auch Adenauer und De Gaulle eine wirtschaftliche Kooperation in Westeuropa durch, die mit den radikaldemokratischen und zum Teil sozialistischen Idealen eines föderalistischen Europas nichts mehr gemein hatte.
Der heutige Verfassungsentwurf für die Europäische Union ist davon noch weiter entfernt. Sein Demokratieverständnis fällt hinter die Errungenschaften der Französischen Revolution zurück und redet dem Neoliberalismus das Wort. Mit seiner Betonung der Wettbewerbsfähigkeit des EU-Binnenmarkts und der Absicht, die militärische Interventionsfähigkeit auszubauen, erinnert der Verfassungsentwurf eher an die Paneuropa-Vorstellungen des Grafen Coudenhove-Kalergi als an das Manifest von Ventotene.
Das ficht die heutige Union der Europäischen Föderalisten, die sich nach wie vor auf ihr antifaschistische Erbe berufen, allerdings nicht besonders an. Sie rühren fleißig die Werbetrommel dafür, dass dieser Verfassungsentwurf auch in Kraft tritt. Vom Geist des antifaschistischen Widerstands und dem Manifest von Ventotene hat sich die heutige Union der Europäischen Föderalisten meilenweit entfernt. Er scheint regelrecht vergessen. Es ist jedoch höchste Zeit, sich dieses Erbe wieder bewusst zu machen, um eine Alternative zur politischen Verfasstheit der heutigen Europäischen Union entwickeln zu können.

Gerhard Klas

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