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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, September 2004, Seite 19

Der lange Weg zur Freiheit

Harry Belafonte über sein Leben, seine Musik und die afrikanischen Wurzeln der Folkmusik

Harry Belafonte, der nun fast 80-jährige US-Amerikaner karibischen Ursprungs, gehört seit den 50er Jahren nicht nur zu den populärsten Folkmusikern. Er hat sich auch einen Namen als schwarzer Bürgerrechtler gemacht. Dass der musikalische Entertainer und der politische Aktivist eine interessante Einheit bilden, wird einmal mehr in einem Gespräch deutlich, das die US-amerikanische Zeitschrift Transition im Jahre 2003 mit ihm führte. Zuvor war gerade The Long Road to Freedom erschienen, ein mehrteiliges Musikalbum über die geschichtliche Vielfalt der »schwarzen Beiträge« zur oralen und musikalischen Kultur Nordamerikas, das Belafonte bereits in den 60er Jahren zusammengestellt hatte, aber erst Ende 2001 veröffentlichen konnte. Wir entnahmen das (hier leicht gekürzte) Interview mit Belafonte mit freundlicher Genehmigung der jüngsten Ausgabe (Heft Nr.277) der ila (www.ila-web.de).

Als ich die Anthologie The Long Road to Freedom hörte, war ich von ihrer Vielseitigkeit erstaunt — der Idee, dass schwarzes Leben in Amerika so viele verschiedene Formen angenommen hat. Dies ist eine Idee, die auch in Ihrer Karriere wichtig gewesen ist.

Wissen Sie, ich komme aus der westindischen Gemeinde in Harlem. Ich bewegte mich nicht in einer Umgebung der Intellektuellen oder Akademiker. Aber als ich in den Krieg geworfen wurde, in eine nach Rassen getrennte Einheit der Marine, war unsere schwarze Einheit ziemlich vielfältig, ziemlich allgemein. Es gab bürgerliche Schwarze, reiche Schwarze, gebildete Schwarze, dumme Schwarze, arme Schwarze, helle Schwarze, dunkle Schwarze und so weiter…

Diaspora in Reinform.

Aber total. Und ich war — vielleicht durch Instinkt, vielleicht durch bewusste Entscheidung — von denen angezogen, die einen interessanten Standpunkt darüber vertraten, was es hieß, schwarz zu sein und in diesem Krieg zu sein. Es gab auch Leute unter uns, die sich dazu entschieden zu studieren, zu lernen, herauszufinden, wie man sich organisiert. Wir fragten, was würde aus uns werden, wenn wir dort rauskamen? Wie konnten wir dabei helfen, die Dinge zu ändern? Also begann ich, Du Bois‘ Pamphlete zu lesen und Dinge, die Leute mit Collegeabschluss mir gegeben hatten. Du Bois [W.E.B. Du Bois: US-amerikanischer Theoretiker der schwarzen Befreiung] war keine einfache Lektüre, man musste kämpfen, um ihn zu verstehen. Aber ich kämpfte diesen Kampf.

Sie haben kein Geheimnis daraus gemacht, dass Sie ziemlich spät zur Folkmusik kamen. Tatsächlich war ihr Wechsel vom Pop zum Folk, zwischen 1950 und 1951, größtenteils das Resultat von Nachforschungen in der Kongressbibliothek. Wie würden Sie Ihre Verbindung zur Folkmusik beschreiben? Ist es eine gelebte oder eine erlernte Verbindung?

Ich war ein sehr ernster Student des Theaters. Also könnte man, anstatt mich als jemanden zu definieren, der von Pop zu Folk wechselte — obwohl das die Wahrheit ist — sagen, dass mein wahrer Antrieb meine tiefgreifende Beschäftigung mit der Literatur des Theaters des 20.Jahrhunderts war.
Im Krieg hatte ich gesehen, wie Propaganda in Film und Theater und Liedern und überall sonst benutzt wurde — nicht nur, um Unterstützung für den Krieg hervorzurufen, sondern auch, um die Ideologie dieses Krieges den Bürgern zu erklären. Als ich den Dienst beendete, musste ich das ausweiten. Ich sah, wie groß die Probleme dieser Nation waren — insbesondere für die Indianer, Hispanics, Frauen und speziell die Schwarzen. Wie drückt man das als Künstler aus? Ich konnte das nicht wirklich im Theater tun. Ich bin kein Bühnenschriftsteller. Aber in der Folkmusik fand ich eine Gelegenheit, Themen großer menschlicher und sozialer Bedeutung anzusprechen, und das in ziemlich künstlerischer Weise.

Wie, genau, kann Kultur — sei es Pop- oder Folkkultur — zu rassischer und sozialer Gerechtigkeit führen?

Nun, es hängt davon ab, wie man das, was die Kultur macht, sieht. Wenn man Hollywood nimmt, so macht es sehr wenig — tatsächlich trennt es die Leute mehr, als dass es sie verbindet.
Aber als Kind, das in New York City aufwuchs, lernte ich die Juden durch die Kultur der Juden kennen: Ich sah jüdische Comics; ich hörte jüdische Sänger; ich hörte die Geschichten der Interpreten von Sholem Alejchem. Zur selben Zeit hörte ich irische Barden und Folksänger, und ich las die Stücke von Sean O‘Casey. Dies war die Kultur, die den Verstand eines jungen Schwarzen vereinnahmte, der in Armut in Harlem geboren und auf den Plantagen von Jamaika aufgewachsen war.
All das brachte mich in Verbindung mit den Welten, die ich nicht kannte, ließ mich erkennen, wie relevant diese Leute für meine Welt waren — und wie relevant ich für die ihre war. Ich wurde zu einem Instrument, das durch sich all das ausdrückte.

Wenn man an Folkkünstler denkt, stellt man sich normalerweise Leute vor, die in spezielle kulturelle Umstände geboren sind und diese Kultur in Kunst wiedergeben. Aber mit Ihnen war es fast genau andersrum: Sie suchten eine kulturelle Form, die Ihrer künstlerischen und politischen Vision entgegenkam. Wie verlief dieser Prozess?

In meiner Jugend hörte ich mir Lead Belly, Woody Guthrie und Big Bill Broonzy und andere an und ich war von dieser Kraft und Schönheit erstaunt. Und dann, in der Kongressbibliothek, hörte ich weitere Lieder, Lieder, die mir halfen, mein eigenes Repertoire zu entwickeln. Mein Werk ist sehr vielseitig, es singt die Sprachen und Melodien anderer Kulturen und anderer Leute. Es gibt keinen Faden, der dies zusammenhält, außer dem menschlichen Faden.

Würden Sie sagen, dass Sie Ihr Material kommerzialisierten, indem Sie ihm diese Showbiz-Ästhetik gaben?

Nun, ich vermute, die Tatsache, dass es kommerziell wurde, bedeutet, dass es kommerzialisiert wurde. Ich wollte ein wenig Geschick verwenden und einen Weg finden, eine Kunstform in eine extrem begrenzte Umgebung einzuführen — fähig zu sein, soziale und politische Aussagen zu machen, ohne dass die Hörer es vermuteten.

Zu diesem Punkt war Folkmusik natürlich eng mit der Arbeiterbewegung und der Linken identifiziert.

Ja, und es war die Arbeiterbewegung, die eine Umgebung schuf, in der Schwarze für ihre Beiträge zur amerikanischen Musik anerkannt wurden. Davor lebten wir an einem sehr eingeengten Ort: Wir waren die Schwarzen der 20er Jahre, die Charleston machten; unser Zweck war es, die Weißen glücklich zu halten und sie zu unterhalten. Die Arbeiterbewegung und die fortschrittliche Umgebung der 1930er — die WPA, die Streiks und die Brotaufstände, die Antifaschistenbewegung in Spanien — erlaubte schwarzer Musik und schwarzer Kunst, in der richtigen Perspektive gesehen zu werden.
Aber nach diesem Krieg, als diese Periode vorbei war, ging Amerika auf einen imperialistischen Marsch, die Welt zu dominieren. Wenn man auch nur ein wenig Kritik an Amerika zeigte, wurde man als Kommunist gebrandmarkt. Es gab sehr, sehr wenige schwarze Kräfte an der Arbeit, die gegen diesen Anschlag ankämpften. Paul Robeson war einer; W.E.B. Du Bois war ein anderer.

Heutzutage sind Sie als ausgesprochener Kommentator zu allem — von Rassenpolitik über die US-Auslandspolitik bis hin zu den Fehlern des Kapitalismus — bekannt. Doch als Sie begannen, machten Sie keine besonders politischen Sachen. Fühlten Sie, dass Sie sich zum Wohle Ihrer Karriere bedeckt halten mussten?

Keine Frage. Es gab ein bewusstes Wissen um die Feindseligkeit der Umgebung und darum, wie schlau man sein musste, um den Jäger reinzulegen. Also gab es Selektion und Auswahl. Aber es gab nie einen Kompromiss dabei. Tatsächlich sang ich damals nicht viele Protestlieder, weil das meiste Material von anderen geschrieben oder gecovert worden war und weil ich einen anderen Weg sah, mein Bild und meine Sache durch die Ränge der menschlichen Familie zu bringen.
Die Frage war diese: Wenn man Vorurteile mitbringt, die meine Menschlichkeit anzweifeln, wie komme ich dazu, mich als Mensch zu sehen? Angenommen, ich singe »Scarlet Ribbon« oder »Try to Remember« oder »Take My Mother Home« oder »Danny Boy« oder »Hava Nageela«, und Sie sind von der Botschaft bewegt. Sie gehen einen Schritt zurück und sehen den Mann, der es singt — den Mann, den Sie als nur schwarz oder karibisch oder amerikanisch oder politisch oder sonst was angesehen haben. Und Sie müssen diese Vorannahmen gegen die Tatsache abwägen, dass ich Sie gerührt habe. Habe ich dann nicht in einer substantielleren Art gewonnen, als wenn ich einfach…

…einen Slogan geschrien hätte.

Genau.

Heute gibt es eine Wiederbelebung der sog. Roots-Musik.

Ich glaube einfach, dass es kein Mehl mehr zu bleichen gibt. Und wenn man keine Bleiche mehr für das Mehl hat, muss man zurückgehen und sich um das Mehl an sich kümmern. Ich meine, dass die weiße Gesellschaft an dem Cholesterol ihres eigenen Entwurfs stirbt. Wo sind ihre Bücher, wo sind ihre Gemälde, wo sind ihre Philosophen, wo sind ihre Poeten, wo sind ihre Sänger? Auf der anderen Seite, schauen Sie sich die sich entwickelnde Welt an — ihre Musik, ihre Kunst, ihre Literatur. Die weiße Jugend saugt alles aus dem schwarzen Ghetto auf — besonders Rap —, weil es der interessanteste Aufenthaltsort ist.

Warum ist es immer die schwarze Kultur, die zur Ausübung dieser Rolle herhält?

Weil es immer noch die einzige Kultur ist — ich meine, es gibt ein paar Ausnahmen, aber in Amerika ist es die einzige Kultur —, die eine Protestkultur ist. Es ist immer noch die einzige Kultur in Amerika, die sich gegen Ungleichheit äußert. Und es gibt eine Aufrichtigkeit in schwarzer Kultur, die den Leuten das Gefühl gibt, dass sie sich mit etwas weitaus Authentischerem beschäftigen als dem, was die weiße Kultur selbst produziert.

Als Sie ein Popstar waren, äußerten Sie sich mit recht starken Meinungen über die Mittelmäßigkeit der Kommerzkultur und der Integrität der Folkkultur. Folkmusik, sagten Sie, sei der spontane, organische Ausdruck einer Kultur des Volkes, und dies war eine Art des Ausdrucks, die unter dem Kapitalismus zunehmend spärlich geworden war, weil die Leute Musik eher kommerziell als gemeinschaftlich konsumierten und produzierten. Fühlen Sie jetzt immer noch so, fast 50 Jahre später?

Mehr denn je. Und ich scheue nicht vor der Tatsache zurück, dass meine Kunst vom Marxismus beeinflusst gewesen war — das war die Parole des Tages. Das sozialistische Ideal war das, was der größte Teil der Kultur der Welt in der Mitte des 20.Jahrhunderts anstrebte. Alle Künstler, die ich als die großen Stimmen der Kultur erwähnt habe, waren Sozialisten oder sozialistisch beeinflusst.

Viele Menschen argumentieren, dass das ganze »Folk«-Unternehmen gewisse koloniale Untertöne hat, da es die Muster der kolonialen Herrschaft wiederholt: mächtige Menschen — üblicherweise mächtige weiße Menschen — marschieren in verschiedene dunkle Ecken der Welt ein und sammeln Rohstoffe, die sie nach Hause mitnehmen und für ihren eigenen Profit oder ihr Vergnügen ausschlachten können. Paul Simon wurde z.B. wegen seiner Arbeit mit südafrikanischen Musikern auf dem Graceland-Album des Neokolonialismus und Kulturimperialismus angeklagt. Mussten Sie sich je um diese Art der Kritik sorgen?

Sicher. Aber was soll‘s? Wissen Sie, ich ermutigte Paul Simon, nach Südafrika zu gehen. Ich arrangierte einige der Treffen und als Graceland veröffentlicht wurde, war ich erfreut, dass Millionen von Menschen, die dieser Kultur nie viel Aufmerksamkeit geschenkt hatten, sie plötzlich liebten. Gewiss, ich fand den Inhalt ein wenig… nun, ich will ihn nicht kritisieren. Ich dachte, es gäbe viele Sachen, die hätten gesagt werden können, die uns eine größere Vorstellung von der Umgebung, aus der diese Töne kamen, gegeben hätten, und diese Sachen hätten nicht unbedingt Paul Simons Schreibstil gestört.

Das alles lässt einen fragen, wie Amerikas Interesse an »fremder« Musik entstand. In den letzten hundert Jahren gab es eine Reihe musikalischer Traditionen, die in der populären Vorstellung so miteinander verwischt wurden, dass sie fast austauschbar geworden sind. Zuerst gab es Rumba, dann Tango, dann Samba und Calypso und Mambo und Cha-Cha-Cha und Salsa und Merengue — es geht immer weiter. Glauben Sie, dass Amerikaner ein aufrichtiges Interesse daran haben, andere Kulturen zu verstehen, oder ist das nur Langeweile wegen der wahrgenommen Leere ihrer eigenen Mainstreamkultur?

Ich glaube, es ist all das, nicht eine einzelne Erklärung. Wissen Sie, als Sie Ihre Litanei musikalischer Genres aufzählten, hatte fast alles, was Sie erwähnten, afrikanische Wurzeln. Wenn Sie sich jetzt »Weltmusik« ansehen, scheint es oft ein Euphemismus zu sein, ein Etikett für Leute, die immer noch, aus rassistischen Gründen, unfähig sind, zu sagen: »Dies ist afrikanische Musik« oder »Dies ist schwarze Musik.« Dadurch wird »Weltmusik« zu einer sicheren Zone, in der die dominante Gesellschaft etwas domestizieren kann, dem sie nicht widerstehen kann. Wieviel einfacher ist es, »Weltmusik« zu sagen als »die Musik von Afrika« oder »die Musik von Leuten, die aus einer Sklavendiaspora kamen«? Wenn man die Entwicklung der Musik in Kuba nicht verstehen kann und wie tief sie in der Sklaverei verwurzelt ist, dann ist das schlecht, weil man unfähig ist zu verstehen, dass das, was man genießt, aus dem Kampf gegen die Unterdrückung kommt.
Deshalb sage ich in der Anthologie: Seht euch die Schönheit dieser Musik an, hört diese Stimmen, hört, was Menschen über ihr Leiden über mehrere hunderte Jahre hinweg sagen. Und wenn ihr mögt, was ihr hört, wenn ihr von dem bewegt seid, was ihr hört, wollt ihr dann nicht mehr über die Entstehung dieser Musik wissen?

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