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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Oktober 2004, Seite 6

Leipzig und anderswo

Ein kleiner Sieg gegen die Ohnmacht

Die beiden jungen Männer, die links des Leipziger Opernhauses mit einem selbst angefertigten Transparent »Keine Reform ist perfekt, aber wir brauchen sie« standen, mussten sich ziemlich verloren vorkommen. Die etwa 15000 Kundgebungsteilnehmer waren gerade deshalb gekommen, weil sie das Standardargument von der Alternativlosigkeit der Reformen als das erkannt hatten, was es ist: eine absurde Propagandaformel, um Widerstand zu lähmen. Ihre Forderungen auf zahlreichen Transparenten waren klar und eindeutig: Hartz IV muss weg, mit dem Sozialabbau muss Schluss gemacht werden, Arbeit für Millionen statt Milliarden für den Krieg, Rücknahme der Steuergeschenke an die Reichen und Superreichen.
Christian Führer, Pfarrer an der Nikolaikirche in Leipzig und einst vor 15 Jahren Initiator der großen Montagsdemonstrationen in der »Heldenstadt Leipzig« mit bis zu 120000 Teilnehmern hatte es anders geplant. Erst am 30.August sollten nach seinen Vorstellungen die Montagsdemonstrationen wieder beginnen. Aber die spontane Erbitterung über die vor der Sommerpause beschlossenen neuen »Hartz«-Gesetze brachte das Fass zum Überlaufen.
Am 2.August machte Magdeburg den Anfang. Eine Woche später fanden sich auch in Leipzig rund 8000 Demonstranten wieder an der Nikolaikirche ein. An den folgenden zwei Montagen erhöhte sich die Zahl der Demonstranten auf jeweils rund 20000. Im Herbst 2003 waren es bei einem Versuch, die Montagsdemos neu zu beleben, nur jeweils 500—1000 Demonstranten gewesen. Mit den Protestdemos konnte die allenthalben verbreitete Stimmung der Ohnmacht gegenüber diesen Entwicklungen und der neoliberalen Politik zumindest partiell durchbrochen werden.

Lektionen in Sachen Demokratie

»Heute waren es so viele wie 1989«, äußerte ein Vertreter des Neuen Forums am 30.8. nach der Demonstration. Etwa 45000 waren auf den Augustusplatz gekommen. Wenn überhaupt nannten die Fernsehsender und Tageszeitungen Zahlen so um die 20000. Die angekündigte Rede Lafontaines und der Medienrummel darum hatten die Teilnehmerzahl deutlich nach oben gebracht.
Seltsam war, dass dies dem Initiator der neuen Montagsdemos Wilfried Helbig, aber auch Pfarrer Führer, offenbar nicht gelegen kam. Helbig forderte im Vorfeld der Demonstration Lafontaine sogar auf, »über einen Verzicht nachzudenken«. Im Aktionsbündnis für die Montagsdemos in Leipzig, aber auch im Sozialforum, deren Sprecher er war, blieb er damit in der Minderheit. Lafontaine kam und mit ihm auch mehrere Dutzend Journalisten.
Über das, was er engagiert und kritisch gegen Hartz IV sagte, wurde kaum berichtet, über das, was er früher einmal im Sinne der Herrschenden gesagt hatte, sehr viel. Der Grundtenor der Berichterstattung war, die Meinung der Kundgebungsteilnehmer sei »geteilt« gewesen. Es wäre auch gepfiffen worden.
Tatsächlich gab es einmütig Zustimmung, sowohl in Form von Beifall als eben auch von Pfiffen. Ein »junger Mann mit Glatze«, kürzlich aus Hamburg nach Leipzig umgezogen, hatte ein Ei geworfen, das unbemerkt von Lafontaine irgendwo an einem Mikrofon zerplatzt war. Daraus wurde ein Mediengroßereignis, ein Beispiel für Protest gegen den »Napoleon von der Saar«.
Viele Leipziger nahmen dies als eine positive Lektion über die Unabhängigkeit und Objektivität der Medien. Es gehört wohl zur List der Vernunft, dass allzu absurde Medienlügen von den Mietmäulern der Herrschenden einen besonders wirksamen aufklärenden Effekt haben können.

Ähnlichkeiten und Unterschiede zu 1989

Bei den erneuten Montagsdemos gerade auch in Leipzig ist das Jahr 1989 immer präsent und der Vergleich damit ist ein Thema für sich. Die Leipziger Demonstranten haben da andere Sorgen. In Leipzig und den angrenzenden Städten gibt es derzeit 24800 Langzeitarbeitslose und 6300 Arbeitslose unter 25 Jahren. Von den mehr als 100000 Beschäftigten im produzierenden Gewerbe 1989 sind noch knapp 19000 übrig geblieben.
Natürlich spielt die Symbolik der einst so wirksamen Montagsdemos — der Stellplatz an der Nikolaikirche, die Demonstrationsroute, Demos als »Projekt von unten« — gerade in Leipzig eine große Rolle. »Das Volk hat erneut die Nase voll« — auf diese einfache Formel brachte es ein Demonstrant, und ein Transparent verkündete: »Wir sind nicht die Melkkuh der oberen 10000 — Wir sind das Volk«.
Auf der Kundgebung am 30.8. sagte es die Friseurin Regina Richter noch etwas genauer: »Ja, wir wollten 1989 Veränderungen, wir wollten eine soziale Demokratie. Bekommen haben wir anstelle der Diktatur des Politbüros die Diktatur des Geldes. Ich will keines von beiden.«
Die Entwicklung der Leipziger Montagsdemos im Herbst 1989 hatte natürlich ihre Eigenheiten und einen zwiespältigen Charakter. Im Unterschied zu heute war sie 1989 nicht irgendeine Montagsdemo unter vielen, sondern die zentrale Protestdemo der DDR. Sie begann im August/September 1989 als dramatisch anschwellender Protest gegen die Fälschungen bei den Kommunalwahlen im Mai und überhaupt gegen die autoritäre Abschottung des politischen Systems der DDR gegen das Geltendmachen grundlegenden Interessen ihrer Bürgerinnen und Bürger.
Sie führte in kurzer Zeit zum Sturz der Regierung, zur Demokratisierung des Parteiensystems, einschließlich der Durchsetzung der innerparteilichen Demokratie in der SED, zu gesetzlich fixierten Mitbestimmungsrechten in den Betrieben und politischen Kontrollrechten der Bürgerbewegung und der Runden Tische gegenüber den staatlichen Apparaten.
Bereits Ende November und dann ganz deutlich im Dezember 1989 änderten sich jedoch ihr Charakter und ihre Zusammensetzung. Der Wechsel der Losungen von »Wir bleiben hier« zu »Kommt die DM nicht zu uns, gehen wir zur DM« und vor allem auch zur Losung »Wir sind ein Volk« macht dies deutlich.
Zwar sprachen sich noch im Januar 1990 nach einer Umfrage noch 73% der Befragten für eine sozialistische Erneuerung und nur 17% für einen kapitalistischen Weg aus, aber angesichts des greifbar nahen Konsumangebots der BRD, der fehlenden Bereitschaft der Arbeiter, ihre Betriebe zu verteidigen und der Erosion aller Machtstrukturen in der DDR waren die Dinge gelaufen. Kritische Teilnehmer der damaligen Montagsdemos, zu denen auch ich gehörte, gaben sich da auch keinen Illusionen hin. »Der halben Revolution folgte bald eine ganze Konterrevolution« (Karl Marx 1848).

Perspektiven

Immer noch finden in jeder Woche, in der Regel Montags, in mehr als 200 Städten Protestdemonstrationen gegen Hartz IV und den Sozialabbau statt. In einigen Städten, auch in Leipzig ist die Tendenz rückläufig (13.9.: rund 10000; 20.9.: rund 3000), aber insgesamt hat sich die Zahl der Protestierenden von etwa 150000 Mitte August auf mehr als 200000 im September erhöht.
Die allenfalls kosmetischen Korrekturen an Hartz IV machen deutlich, dass der bürgerliche Staat gegenüber Massenprotesten druckempfindlich ist. Aber die in der kapitalistischen Gesellschaft der BRD Regierenden verfügen eben über ein bei weitem gestaffelteres und weitaus flexibleres System der Machtsicherung.
Gegenüber dieser »mit Zwang gepanzerten Hegemonie« bedarf es schon eines längerem Atems. Gerade spontaner Massenprotest, das ist wieder einmal deutlich geworden, kann auch Keimform kapitalismuskritischer Erkenntnisse und gesellschaftlicher Mobilisierung von unten sein. Bei der geplanten Großdemonstration in Berlin und weiteren Aktionen wird es auch darum gehen, ob er Ausgangspunkt für stabile Strukturen von Gegenmacht wird.

Ekkehard Lieberam, Leipzig

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