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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Oktober 2004, Seite 9

Landtagswahlen in Sachsen

Nicht die Nerven verlieren

Die NPD mit 9,2% Stimmenanteil im sächsischen Landtag, nur noch ein paar Prozentpunkte nach dem Komma hinter der »Volkspartei« SPD — man konnte es so ähnlich erwarten und ist dennoch verblüfft, wenn man es schwarz auf weiß sieht. Verständnishilfen sind gefragt.

Die Ergebnisse der sächsischen Landtagswahl waren nicht nur, aber auch Ausdruck von Unsicherheit, Ratlosigkeit, Enttäuschung und Unzufriedenheit angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Lage und Ausdruck des erschütterten Vertrauens in das politische System bei vielen Menschen im Freistaat. Das gilt für die Wahlbeteiligung von unter 60% ebenso wie für die wenigstens prozentual leichten Zugewinne der PDS — trotz der kurz vor den Wahlen noch aus dem Hut gezauberten Stasi-Vorwürfe gegen ihren Spitzenkandidaten Peter Porsch.
Es gilt vor allem aber für den Erfolg der Nazis. Es ist zuverlässig davon auszugehen, dass eine ganze Reihe von Wählerinnen und Wählern die Braunen nicht gewählt haben, weil sie mit ihren politischen Vorstellungen übereinstimmen, sondern nur, um den Regierenden einen Denkzettel zu verpassen. Daraus erklärt sich auch das gelegentliche Aufsplitten der Stimmen zwischen PDS und NPD.
Für die Linke kommt es jetzt also darauf an, nicht die Nerven zu verlieren und durch ihr Verhalten die verunsicherten Protestler nicht ganz in die Fänge der Nazis zu treiben. Klarheit und Entschiedenheit in den eigenen Positionen muss mit Einfühlungsvermögen und Verständnis für die ratlosen und wütenden Menschen Hand in Hand gehen.
Sachsen hat durch seine Einverleibung in die BRD als Region mit einer vorher hohen wirtschaftlichen und vor allem industriellen Diversität eine beispiellose Deindustrialisierung erfahren, mit allen ihren Folgen: Arbeitslosigkeit, Entwertung von Biografien und Qualifikationen, Verunsicherung, zahlreichen Demütigungen und einer riesigen Enteignung sowohl was das Eigentum an Produktionsmitteln als auch was das Eigentum an Immobilien betrifft.
Westdeutsche Besatzungsbeamte — unter ihnen durchaus zahlreiche gutwillige und menschlich anständige — exekutieren eine Ordnung, die immer noch oder vielmehr zunehmend als übergestülpt und in vielerlei Hinsicht untauglich erlebt wird. Nur ein Beispiel: Hunderte ausufernde »konkurrierende« Versicherungsbürokratien sind an die Stelle einer einheitlichen, sparsamen und überschaubaren Versicherung in der DDR getreten. Die Jugend wandert nach Westen ab, weil sie in der Heimat keine Arbeit findet. Das Land entwickelt sich zum Altersheim. Die Menschen erleben sich als Fremde im eigenen Land.
Sachsen grenzt zudem an zwei neue EU-Staaten. Die EU-Erweiterung ist in ihren längerfristigen Auswirkungen schwer abzuschätzen. Die Abwanderung von Industrie nach dem Osten, durchaus auch über die EU-Grenzen hinaus, findet längst statt und weckt Ängste, ebenso wie die Zuwanderung billiger Arbeitskräfte.

Identitätspflege als Ersatz

Der ehemalige Ministerpräsident Kurt Biedenkopf hat beizeiten erkannt und auch öffentlich ausgesprochen, dass mit der Neuschaffung von modernen Arbeitsplätzen im selben Umfang, in dem Jobs verloren gehen, in menschlich absehbaren Zeiten nicht zu rechnen ist. Als Ersatz dafür empfahl er den ihrem »König Kurt« ergebenen Landeskindern — seit der »Wende« bis zum jetzigen Einbruch regierte seine CDU mit absoluter Mehrheit — die Pflege ihrer Identität.
Hieran wurde denn seither auch fleißig gearbeitet, mit teils durchaus sinnvollen Auswirkungen, aber eben auch mit einer zunehmenden Tendenz zum Rückzug in Identitätshuberei und zum Herausputzen der Erinnerung an eine »gute alte Zeit«, als in Sachsen »König« noch eine Berufsbezeichnung war und kein bloßer Spitzname.
Dann wurde in diese sich immer weiter verschlechternde Situation hinein von westdeutschen Nazis ein beharrlicher ideologischer und organisatorischer Vorstoß unternommen, um rechte Strukturen aufzubauen. Vergessen wir nicht: Die NPD ist ein Westimport. Es soll nicht beschönigt werden, dass ihre rassistische und fremdenfeindliche Propaganda bei manchen Menschen auf einen Boden fiel, der auch von der DDR mit vorbereitet worden war.
In die DDR kam kein Ausländer herein, dem nicht ausdrücklich der Zutritt gestattet worden war. Ausländische Arbeitskräfte (aus Ungarn, Kuba, Vietnam, Mosambik usw.) wurden aufgrund von Regierungsverträgen ausdrücklich befristet ins Land geholt und kaserniert untergebracht — ein einschlägig genutztes Hochhaus hieß im Volksmund meiner Heimatstadt »Paprikaturm«, als es von Ungarn, und »Zuckerhut«, als es von Kubanern bewohnt wurde. Die Bewohner waren deutlichen Reglementierungen unterworfen. Von Integration keine Rede. Sie geschah höchstens spontan.
Nun also sollen die Leute hier in Sachsen auf einmal fremdenfreundlich, aufgeschlossen, tolerant und multikulturell sein und ja keine rechtsextremen Parteien wählen. Derselbe Staat, der solches Wohlverhalten von ihnen fordert, führt ihnen täglich durch eine rassistische Asylpolitik, eine restriktive Ausländergesetzgebung und Zuwanderungspolitik und das Fehlen eines ernsthaften Integrationskonzepts vor Augen, wie er es wirklich mit der Weltoffenheit und dem Kampf gegen Rassismus hält. (Wir hatten für den Osten vergebens dezentrale Unterbringung statt Asylbewerberheime verlangt.) Was ist denn Multikulti in diesem Zusammenhang anderes als die Vielfalt internationaler Gastronomie und das Naschen am kulturellen Mehrwert anderer Völker für alle, die es sich leisten können?
Insofern ist das böse Wahlergebnis von Sachsen vor allem das Spiegelbild einer miserablen und perspektivlosen Politik und entlarvt die Verlogenheit der wohlanständigen politischen »Mitte«, die sich nun entsetzt gibt. Für die Linke enthält es die Aufforderung, sich ernsthaftere und kreativere Gedanken über gesellschaftliche Alternativen zu machen und ohne Scheu und Verklemmung auf die Menschen zuzugehen, die heute — manchmal leider an der falschen Stelle — nach Antworten und Auswegen suchen. Vergessen wir nicht: Von den 59,6% der stimmberechtigten Sachsen, die überhaupt an der Wahl teilgenommen haben, haben 9,2% für die NPD gestimmt. Schlimm genug, mehr waren es aber auch nicht.

Hans-Jochen Vogel

Hans-Jochen Vogel ist Pfarrer i.R. in Chemnitz.



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