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Das niederländische Poldermodell bezeichnet ein Verfahren für Kürzungen der Sozialleistungen im Konsens
zwischen Regierung, Unternehmen und Gewerkschaften. Die Regierung hat diesen Konsens nun aufgekündigt, die Gewerkschaften gehen auf die
Straße, u.a. in einer landesweiten Demonstration am 2.Oktober.
Am 21.September, dem sog. Prinsjesdag, hat die niederländische Königin in einer Thronrede in Den Haag die Pläne der Regierung
Balkenende für das kommende Jahr verkündet. Folgende Maßnahmen sind zum Abbau der sozialen Sicherheit vorgesehen:
Das Renteneintrittsalter soll wieder 65 Jahre betragen. Bislang gab es die Möglichkeit, durch Sparregelungen über
Prämienzahlungen mit 59 Jahren in den Vorruhestand zu gehen. Die Steuervorteile für diese Sparregelungen werden nun abgeschafft, sodass der
Vorruhestand für die meisten zu teuer wird.
Das Recht auf Arbeitslosenunterstützung wird eingeschränkt.
Alle stehen sich 2004 schlechter, auch die Bezieher eines Mindesteinkommens.
Die Wochenarbeitszeit soll von 36 auf 40 Stunden verlängert werden.
Der Kündigungsschutz soll gelockert werden.
Für 100000 Menschen werden infolge strengerer ärztlicher Untersuchungen die Regelungen zur Arbeitsunfähigkeit nicht mehr
angewendet.*
Dies sind nur einige Beispiele für die Politik, die das Kabinett Balkenende durchführen will.
Die Gewerkschaften hatten im letzten Herbst mit der Regierung und den Unternehmern ein
Abkommen über ein Maßnahmepaket geschlossen, das u.a. ein Einfrieren der Löhne für zwei Jahre beinhaltete. Eine Bedingung in
diesem Abkommen lautete, dass 2004 noch ein Abkommen über Vorruhestand und Frühverrentung geschlossen werden sollte. Dazu kam es jedoch
nicht, deshalb beschlossen die Gewerkschaftsverbände FNV, CNV und MHP unter dem Druck ihrer Mitglieder, gegen die Regierungspolitik Aktionen
durchzuführen. Ende September fanden mehrere Aktionen, Arbeitsniederlegungen und Demonstrationen, u.a. in Rotterdam und Amsterdam, statt.
Der Höhepunkt der Aktionen ist der 2.Oktober in Amsterdam, für den die
Gewerkschaften eine Massendemonstration planen. Neben den Gewerkschaften organisiert das Aktionsbündnis Keer het Tij eine Großdemonstration
vom Dam zum Museumsplatz, wo man sich den Aktionen der Gewerkschaften anschließt. Nach dem 2.Oktober stehen weitere Aktionen auf dem
Programm.
Die Gewerkschaften haben für mögliche Tarifverhandlungen neue Forderungen
gestellt, sie fühlen sich nicht mehr an das 2003 geschlossene Abkommen gebunden. Sie haben bereits angekündigt, dass sie nötigenfalls
wieder streiken werden. Alle Beratungen mit der Regierung und den Unternehmern sind auf die Zeit nach dem 2.Oktober verschoben. Bis dahin finden weder auf
nationaler noch auf betrieblicher Ebene Tarifverhandlungen statt.
Außerdem wird vom 26. bis zum 28.November in Amsterdam das
Niederländische Sozialforum stattfinden, wo die verschiedenen in den Niederlanden aktiven sozialen Bewegungen untereinander über den Kampf
gegen den Neoliberalismus und für eine andere Welt diskutieren.
Woher kommt dieser plötzliche Aufschwung des Widerstands? Tatsächlich
handelt es sich hierbei um eine Entwicklung, die schon vor einiger Zeit begonnen hat. Keer het Tij hat bereits 2003 eine Demonstration mit 15000 Menschen
gegen die Kahlschlagpolitik der Regierung Balkenende organisiert. Immer mehr Menschen haben genug vom Poldermodell, bei dem das Streben nach einer
Lösung der Probleme (zunehmende Armut, schlechtere Gesundheitsversorgung, Korruption beider Ausschreibung von Großprojekten beim Bau und
in anderen Wirtschaftszweigen) in einer zähflüssigen Verhandlungskultur versandet, wo niemand Verantwortung übernimmt und alles beim
Alten bleibt.
Diese Unzufriedenheit kann ebenso nach rechts wie nach links ausschlagen. Es ist deutlich,
dass sich die Gegensätze verschärfen. Dabei ist nicht anzunehmen, dass die heutigen Gewerkschaftsvorstände, ganz sicher nicht CNV und
MHP, darauf aus sind, wieder eine wirkliche Gegenmacht zu schaffen, die eine fundamental andere Politik anstrebt jetzt, wo Streiks und andere
Aktionen in den Niederlanden stattfinden. Jedenfalls wird dies nicht ohne Druck von außen gehen.
Die Gewerkschaftsführungen betrachten die Mobilisierungen als vorübergehenden
Teil eines Verhandlungsspiels, bei dem sie zeitweilig von oben einige Aktionen organisieren, um eine stärkere Verhandlungsposition für das
Zustandekommen eines neuen Polderkompromisses zu gewinnen. Der Kompromiss zielt darauf, die bestehende Politik im Wesentlichen aufrecht zu erhalten und
nur die schärfsten Kanten etwas abzuschleifen.
Ob diese Strategie aufgeht, hängt davon ab, was es auf der Linken wie auch auf der
Rechten für Bewegung gibt. Linke Bewegungen wie Keer het Tij üben Druck aus, aber auch die neue Rechten, die in der Person von Geert Wilders
anscheinend einen Nachfolger für Pim Fortuyn gefunden hat. Das Aufkommen dieser rechten Strömung kann dazu führen, dass die
Regierungskoalition mittelfristig zerfällt und die Gewerkschaftsbewegung gezwungen wird, zusammen mit anderen sozialen Bewegungen den
gesellschaftlichen Kampf fortzusetzen, um der neuen Rechten den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Unter diesen Umständen ist es möglich, dass die Koalition aus Liberalen und
Christdemokraten sich stark fühlt und glaubt, dass der neoliberale politische Wind in jedem Fall in ihre Richtung treibt. Das könnte dazu
führen, dass sie ihre Salamitaktik fallen lässt und bei ihrer Treibjagd auf Erwerbslose und andere Ausgegrenzte neue Grenzen überschreitet.
Dadurch könnten andere Gruppen genötigt werden, ihre Gründe, weshalb sie sich bislang nicht an Aktionen beteiligt haben, beiseite zu
schieben und sich der Bewegung anzuschließen.
Konkret lässt sich das festmachen an den Reaktionen auf die Hausdurchsuchungen der
Sozialdienste bei den Sozialhilfebeziehenden, die seit kurzem in Amsterdam durchgeführt werden. Es bleibt zu hoffen, dass die Gewerkschaftsbewegung
der neuen Unzufriedenheit unter der Bevölkerung Ausdruck verleiht um sich den unseligen Sparplänen der Regierung zu widersetzen, aber
auch um dafür zu sorgen, dass die neue Rechte um Wilders nicht großen Zulauf erhält.
Es besteht die Gefahr, dass die Einheitsfront der Gewerkschaften auseinanderfällt und
dass sich einige Gewerkschaften der Regierungspolitik annähern. Aber auch wenn es ein vorübergehendes Abkommen zwischen Gewerkschaften,
Regierung und Unternehmern geben sollte, bleibt die Tatsache: Die sozialen Gegensätze verschärfen sich und das Poldermodell ist tot.
Piet van der Lende
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