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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Oktober 2004, Seite 11

Russland

Wandlungen eines Linken

Es ist 1996, und der 21-jährige Ilja Ponomarjow, ein typischer Vertreter von Russlands neuen Unternehmern, macht das Beste aus den Marktchancen, die die Perestroika eröffnet hat. Mit 15 hatte er seine eigene Computerfirma gegründet und in zwei Jahren einen 10- Millionen-Dollar-Umsatz erwirtschaftet. Mit 24 wurde er der bislang jüngste Vizepräsident des russischen Ölgiganten Jukos.
Heute, acht Jahre später, ist Ponomarjow ein Gründungsmitglied der antikapitalistischen Koalition Linke Jugendfront und eine führende Gestalt im wiederbelebten Kommunistischen Jugendverband (Komsomol). Den größten Teil seines Geldes hat er einer Moskauer NGO, dem Institut für Globalisierungsstudien (Iprog), gegeben, die als Katalysator für ein neues linkes Denken in Russland fungiert. »Ich habe noch Ambitionen, aber für eine neue Politik, nicht für Geschäfte«, erklärt er, während wir auf den Abschleppwagen warten, der den liegengebliebenen Iprog-Wagen abholen soll, mit dem wir von Iwanowo, dem Ort des ersten Sowjet von 1905, nach Togliatti, der Autostadt an der Wolga, fahren wollten, um dort mit Gemeinderäten und Gewerkschaftern über Beteiligungsdemokratie zu diskutieren.
Ponomarjows politische Erfahrungen begannen bereits sehr früh. Als Sechsjähriger verbrachte er seine Ferien mit seinem Großvater, dem ersten Sekretär der sowjetischen Botschaft in Polen. Es war 1981, auf dem Höhepunkt des Aufstands der Gewerkschaft Solidarnosc. »Das ganze Land streikte, überall waren rote Fahnen, man forderte Brot und Fleisch«, erinnert sich Ponomarjow. Er war mehr als ein Beobachter. Sein Großvater, Nikolai Ponomarjow, war sowohl ein Freund von Solidarnosc- Führer Lech Walesa als auch von Polens Präsident Wojciech Jaruzelski. Er handelte als ein Mittler zwischen den beiden und versuchte den damaligen KPdSU-Generalsekretär Leonid Breshnew dazu zu bewegen, mit Solidarnosc zu verhandeln.
Es war ein delikater Augenblick, und jeder Exodus von Kindern aus der sowjetischen Botschaft konnte auf Vorbereitungen zu einer Invasion wie seinerzeit in der CSSR hindeuten. Die einmonatigen Ferien des jungen Ponomarjow wurden so zu einem zweijährigen Aufenthalt. Er hatte sogar eine Statistenrolle in dem historischen Geschehen, indem er den »Angelausflügen«, die inszeniert wurden, um die heimlichen Treffen seines Großvaters mit Walesa zu vertuschen, Authentizität verlieh. Die Invasion wurde verhütet, und für die Rolle, die er dabei spielte, machten die Polen Ponomarjow senior zum Ehrenbürger. Breshnew schickte ihn ins Exil.
»Ich lernte, dass Wandel möglich ist und dass Individuen eine entscheidende Rolle spielen können«, sagt Ponomarjow über jene Zeit. Die Lehren, die er daraus zog, scheinen seine immense Energie und Entschlossenheit zu untermauern, heute in Russland eine landesweite demokratische Opposition mit starken internationalen Verbindungen zu schaffen.

Vom Komsomol…

Mit zehn Jahren fing er an, sich für Veränderungen zu organisieren: Er wurde Mitglied der Jungen Pioniere, der Organisation für junge Menschen, bevor sie dem Komsomol beitreten. Man schrieb 1985 und es war die Zeit der Perestroika. Die Dinge öffneten sich und Michail Gorbatschow versuchte die KPdSU davon zu überzeugen, die Notwendigkeit eines Wandels zu begreifen.
Zu Gorbatschows Ambitionen gehörte die Schaffung einer neuen Generation intelligenter, gebildeter Leute, die die Partei und ihre Ideologie erneuern sollten. Dies, so meint Ponomarjow, erklärt den großen Freiraum, der den Pionieren gewährt wurde. »Wir verbrachten eine Menge Zeit mit Diskussionen darüber, was Lenin wirklich gemeint hat, welches die wirkliche Rolle Trotzkis war, wie Stalin zu verstehen ist, oder wie ein moderner Sozialismus auszusehen hat. Zu Beginn jedes Treffens sangen wir nonkonformistische Balladen wie die von Wladimir Wyssotzki. Die Behörden wussten, dass dies ein Akt der Rebellion war, aber sie ließen uns gewähren.«
Der graduelle politische Wandel konnte ohne das Vorhandensein oder auch nur die Vorbereitung einer alternativen Ökonomie jedoch nicht mit dem Druck der durch Gorbatschows Reformen entfesselten Marktkräfte Schritt halten. »Es ist eine traurige Tatsache«, reflektiert Ponomarjow (als wir nun schon fünf Stunden auf den Abschleppwagen warten), »dass Führer keine Märkte sind und die Ökonomie schneller ist als die Politik.« Die Komsomol-Führer waren »bereits dabei, nach Wegen zum großen Geldverdienen Ausschau zu halten«. Zu diesen Führern gehörte Michail Chodorkowski: in den 80er Jahren Sekretär des Moskauer Komsomol, mittlerweile ein russischer Oligarch und im Gefängnis. »Sie hatten keine Ideologie. Sie waren bloß Bürokraten, die sich darum nicht scherten«, sagt Ponomarjow.
Seiner Meinung nach war Gorbatschow zu schwach und unentschlossen, um die Apparatschiks daran zu hindern, ihre Positionen zu missbrauchen. Vor allem hatte er keine machbare demokratische und soziale Ökonomie zu bieten, die der politischen Öffnung entsprochen hätte. »Die Leute beklagten sich darüber, dass es eine Menge Freiheit gab, aber keine Nahrungsmittel, und sie lasteten dies dem Sozialismus an.«
Die Marktwirtschaft und die Marktrealität wurden erdrückend. »Es war unmöglich, dagegen anzugehen. Wir teilten diese Stimmung«, erinnert sich Ponomarjow, während wir hören, dass Abschleppwagen Nr.2 unterwegs liegenblieben ist (Nr.1 war verloren gegangen). In der Schule blieb die Perestroika jedoch lebendig. Ponomarjow war an der Initiierung und in der Leitung eines Schulsowjet beteiligt, in den Schüler wie Lehrer einbezogen waren. »Wir haben einige ernsthafte Dinge gemacht. Wir schafften die Schuluniformen ab, wir erhöhten die Zahl der täglichen Unterrichtsstunden, aber hatten dafür nur an fünf Tagen in der Woche Unterricht und nicht mehr an Wochenenden.«

…zum Juppie…

1990 gründete er sein Geschäft für Computersoftware. Die Versorgung Russlands mit Computern begann gerade erst. Ponomarjows Vater, der ein Institut gegründet hatte, das die Folgen von Kernkraftunfällen untersuchte und dabei Computer benutzte, um solche Unglücksfälle zu verhindern, war einer der ersten, die einen Personalcomputer nach Russland brachten. Ilja wurde bald zum Computerwunderkind.
Um 1995 entwickelte er sich rasch fort von seiner linken Vergangenheit. Er entwickelte Computerprogramme für die Ölindustrie und stieg die Karriereleiter bei Jukos hoch. Politisch setzte er seine Hoffnungen auf Boris Jelzin. »Er schien ein Mann der Tat, der bürokratische Privilegien bekämpfte. Ich hielt eine wirklich freie Marktwirtschaft für die einzige Alternative zur öden Herrschaft der Bürokratie. Ich glaubte, alle würden dann die gleichen Chancen haben. Die Sozialleistungen hielten wir für gesichert. Wir glaubten, dass es, wenn alle arbeiteten, genug Steuern gebe für Renten, Gesundheitsfürsorge und Ausbildung. Wir dachten, wir könnten die Armee loswerden und die Ressourcen stattdessen für andere Zwecke verwenden. Wir dachten nur an die Möglichkeiten, die sich nun eröffnen würden. Wir dachten nicht an den Preis.«
Die ersten Kosten waren Demokratie und Fairness. Für Ponomarjow war Jelzins Verhalten während des Präsidentschaftswahlkampfs 1996 der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Im Vorfeld zu diesen Wahlen gab es eine Menge Privatisierungen. Die Unternehmen, die davon profitierten, wurden von Jelzin-Anhängern geleitet. Ponomarjow hatte von der Politik genug. »Diese Typen sind alle dasselbe. Die ganze russische Politik ist eine Sache von Ganoven. Manche geben vor, Kommunisten oder Liberale zu sein, aber in Wirklichkeit haben sie überhaupt keine Ideen.«
Ponomarjow konzentrierte sich auf die Geschäfte. Aber die Politik war nicht zu ignorieren. Sein Unternehmen arbeitete mit dem Fernsehen zusammen, insbesondere über die Entwicklung interaktiver TV-Nachrichten, die den Zuschauern einen Zugang zu den Nachrichten ermöglichen würde, an denen sie interessiert sind.
»Das Fernsehen ist von Natur aus autoritär«, sagt Ponomarjow. »Wir wollten es zu einem Werkzeug echter Demokratie machen.« Das Projekt traf auf großes Interesse in der internationalen Medienwelt. Da war Wladimir Putin schon Russlands Präsident, und einer der schärfsten Kritiker des Präsidenten war der Besitzer des Fernsehkanals NTV. Putin zerschlug NTV. »Dies war das Ende des internationalen Interesses an Investitionen, die mit russischem Fernsehen zu tun hatten«, erklärt Ponomarjow. Es war auch das Ende seines neuen Projekts.

…zum neuen Linken

Zorn und Frust erneuerten Ponomarjows politische Energie. Nun denkt er strategisch. »Es ist wichtig, eine Position zu haben, nicht isoliert zu bleiben. Das heißt, man muss Bündnisse schmieden.« Er trat der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF) bei und begann an zwei Fronten zu arbeiten. Als erstes schloss er sich mit anderen — dem modernisierten Komsomol, unabhängigen Gewerkschaftern und Globalisierungskritikern — zusammen, um die Linke Jugendfront zu gründen und Straßenagitation und Debatten zu organisieren. (Er und seine Kollegen wurden wegen einer Straßenaktion während der Präsidentschaftswahlkampagne im März festgenommen, weil sie Putin verspottet hatten.) Er arbeitet auch mit Iprog zusammen, mit Mitgliedern der mehr und mehr zerstrittenen KPRF, mit den Linken der liberalen Partei Jabloko und mit unabhängigen Gewerkschaftern, um ein gemeinsames linkes Forum für die Vereinigung der demokratischen Linken des Landes zu bilden.
Für solche Projekte stehen die Chancen derzeit schlecht. Doch Ponomarjow und Iprog- Kollegen wie Boris Kagarlitzki und Alla Glintschikowa legen einen nüchternen Optimismus an den Tag. »Russland entwickelt sich rasch von einer unterentwickelten Demokratie zu einem gewöhnlichen Totalitarismus, einer zentralisierten Gesellschaft. Die neue russische Linke ist die einzige Kraft, die diese Entwicklung aufhalten kann. Bislang scheint dies ein unmögliches Unterfangen zu sein. Unsere Ressourcen sind lächerlich. Ich sehe keine Quelle realer Hilfe, es sei denn die westliche Linke. Dies ist einer der Gründe, warum das Europäische Sozialforum so wichtig für uns ist.« Und wie um seinen Optimismus zu bestätigen, kommt unser Abschleppwagen (Nr.3).

Hilary Wainwright (Red Pepper) (Übersetzung: Hans-Günter Mull)

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