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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Oktober 2004, Seite 16

J.-M.Vincent über Internationalismus heute

Magie des Geldes und Religion

Der französische Marxist JEAN-MARIE VINCENT ist am 6.April im Alter von 70 Jahren gestorben. Er hinterlässt ein Werk, das von den 60er bis in die 90er Jahre versucht hat, den Marxismus von seinen scholastischen Interpretationen zu befreien. Der nachstehende Text bildet einen Teil des letzten von ihm posthum veröffentlichten Artikels: »Le trotskysme dans l‘histoire« (Critique Communiste, Nr.172, Frühjahr 2004).

Die Zäsur von 1989—91 (der Fall der Berliner Mauer und das Ende der UdSSR) muss in all ihren Konsequenzen reflektiert werden. Es handelt sich nicht nur um den Zusammenbruch des poststalinistischen Systems und der damit verbundenen Parteien in der ganzen Welt. Es handelt sich für den westlichen Kapitalismus auch um eine Ermutigung, seine Ende der 70er Jahre begonnene Offensive gegen die arbeitende Bevölkerung zu verschärfen.
Die Ideologen des Kapitals proklamieren das Ende der Geschichte, d.h. die Freiheit des Kapitals zur schamlosen Ausbeutung im Weltmaßstab, die Freiheit sich wie ein Räuber zu verhalten, der keinem Gesetz gehorcht und keinen größeren Widerstand mehr zu fürchten hat. Der Anstoß war der erste Golfkrieg gegen den Irak — eine beispielhafte internationale Polizeiaktion, die eine Warnung für all jene sein sollte, die sich den westlichen Großmächten widersetzen wollen.
Allerdings hat dieser von vielen als endgültig betrachtete Erfolg negative Folgen gehabt. Die Heftigkeit der Angriffe des Kapitals gegen die sog. Schwellenländer wie auch gegen die ärmsten Länder haben in unterschiedlichen Formen (Strukturanpassungsprogramme des IWF, Finanz- und Währungskrisen, Schuldendienst usw.) in einem großen Teil der Welt Unordnung und Elend gesät. Ganze Länder leben in sozialer Entwurzelung, Not und Verzweiflung, in einer wachsenden Polarisierung sowohl zwischen Nord und Süd wie auch innerhalb jedes einzelnen Landes (einschließlich der Länder des Nordens).
Heute gibt es wohl eine Weltgesellschaft, aber diese ist keineswegs eine vereinigte Gesellschaft, sondern im Gegenteil eine zerstückelte, fragmentierte, in sich gespaltene Gesellschaft, gekennzeichnet durch unstete Bewegungen und wiederholte regionale Kriege. Die Probleme gehen weit über das hinaus, was manche als Ungleichheit der Entwicklung und Exzesse des Finanzsystems bezeichnen, die sozusagen durch eine Reform des Welthandels und des Kapitalverkehrs geregelt werden könnten.
In Wirklichkeit handelt es sich um strukturelle Ungleichheiten, die vielleicht partiell modifizierbar sind, sich im Wesentlichen aber in chaotischer Weise und endlos selbst reproduzieren. Die Falken und Neokonservativen in Washington haben sich damit abgefunden und bekunden offen ihren Willen, einen Vierten Weltkrieg gegen den Terrorismus, die Schurkenstaaten und die Kräfte der Unordnung bis zum Ende zu führen. (Der Dritte Weltkrieg war der Kalte Krieg.) Da braucht man in der Wahl der Mittel nicht allzu wählerisch zu sein: Weder Präventivkriege noch die Anwendung äußerst zerstörerischer Waffen, weder Sondergesetze noch die Entrechtung großer Bevölkerungsgruppen darf man fürchten.
Die permanente internationale Unordnung wird akzeptiert, es geht nur darum, sie für die herrschenden Mächte erträglich zu machen (z.B. durch die Verhinderung der Weitergabe von Atomwaffen). Die Rechtfertigungen für die Interventionen in Afghanistan und im Irak — die Verteidigung von Marktwirtschaft, Demokratie und Menschenrechten — kann für bare Münze nur nehmen, wer die Erklärungen einiger westlicher Führer ernst nimmt, die mit religiösem Elan vom Kampf gegen das Böse sprechen.
Nicht alle diese Führer sind gläubig wie der (bekehrte) Bush oder Tony Blair, aber sie sind fanatische Glaubenseiferer des Kapitals, ganz und gar davon überzeugt, dass man ihm huldigen muss und dass die, welche in der einen oder anderen Weise seinen Weg behindern, der Schmach und der Hölle zu überantworten sind. Der Heiligenschein um das Kapital und die Kapitalverwertung durchdringt ihre Handlungen, wie sie auch jene durchdringt, die sich in ihrem Bannkreis befinden. Wie Marx im ersten Band des Kapitals bemerkt, ist die Magie des Geldes, welche Geld heckt, eine Art Transzendenz, die anderen Formen der Transzendenz nicht widerspricht, insbesondere nicht jener der Offenbarungsreligionen. So können sich komplementäre, aber auch gegensätzliche Beziehungen zwischen beiden herstellen, ohne dass die »Natur« des Kapitals in Frage gestellt würde.

Der »Antikapitalismus« der Fundamentalisten

Die Fundamentalisten verfluchen gerne die Verlockungen des Geldes und die Gewinnsucht der Kapitalisten, wenn sie zur Solidarität mit den Ärmsten aufrufen. Dies führt sie nicht zu einem wirklichen Antikapitalismus, vielmehr zu einem Konflikt mit den herrschenden Mächten um die Hegemonie über bestimmte Teile der Erde. Der radikale Islamismus in seinen verschiedenen Ausprägungen will die unterdrückten und ausgebeuteten Massen dem Einfluss des westlichen Kulturmodells entziehen, nicht um sie zu befreien, sondern um eine rigorose, ja sogar terroristische soziale Kontrolle an seiner Statt zu errichten.
Bezeichnenderweise sind es die Frauen, welche von ihnen am direktesten ins Visier genommen werden. Sie sollen an der freien Verfügung über ihren Geist und ihren Körper gehindert werden — im Namen des Kampfs gegen die sexuellen Ausschweifungen in den westlichen Ländern (multiple sexuelle Beziehungen, Prostitution, Pornografie).
Die Festigung ihrer Kettung an das rückschrittlichste Patriarchat ist eine Art und Weise, reale soziale Veränderungen auszuschließen. Es ist deshalb nicht übertrieben zu sagen, dass die politisch-ideologische Konfrontation zwischen den westlichen Mächten auf der einen (der niemals endende Kampf gegen den Terrorismus) und einem großen Teil der arabisch- muslimischen Welt auf der anderen Seite (die Anprangerung der Kreuzfahrer und der Juden, der großen und der kleinen Satane) als dominante Konfrontation im Weltmaßstab nur zu einer Spirale der Regression führen kann.
Der Internationalismus kann sich heute nicht leisten, sich mit solch wichtigen Fragen nicht zu beschäftigen. Er muss insbesondere die Kritik der Religion wieder aufgreifen und fortsetzen — dabei allerdings von etwas anderen Prämissen ausgehen als die Religionskritik, die die Arbeiterbewegung betrieben hat. Der Schwerpunkt sollte weniger auf dem unleugbaren Konservatismus der Offenbarungsreligionen (der »Buch-Religionen«) liegen als auf der Art und Weise, wie sie in gesellschaftlichen Dynamiken eingreifen, und auf ihrer Organisierung der Glaubenslehren.
Man muss das Gehör einer maximalen Anzahl von Gläubigen finden, indem man ihre Sorgen und möglichen Konflikte aufgreift. Dabei muss man sich davor hüten, dass die Kritik der Religion als Atheismus verstanden wird, denn es gibt nicht mehr Beweise für die Nichtexistenz Gottes als Beweise für seine Existenz (die Vorstellung eines wissenschaftlichen Atheismus ist absurd). Aus diesem Grund darf man nicht davor zurückschrecken, sich für theologische Streitigkeiten und innerreligiöse Debatten zu interessieren, denn die Religionen können sich aus den gesellschaftlichen Debatten nicht heraushalten.
Als der protestantische Theologe Karl Barth schrieb, dass »die Religion Unglaube ist«, zielte er offensichtlich auf die Religion als weltliche Organisation und als Organisation mit einem Monopol auf die Interpretation des Göttlichen. Andere protestantische wie auch katholische Theologen widersetzten sich später den anthropomorphen Gottesvorstellungen in den monotheistischen Religionen. Sie forderten, jene Bilder von Gott müssten verworfen werden, die aus Gott jeweils einen Kriegsherrn, einen patriarchalischen Familienvater oder eine Art Weltgeist machen.
Die Konsequenzen dieser theologischen Orientierung sind gewaltig. Das Verhältnis zu Gott wird zu einer Befragung über die letzten Ziele des Menschen und über die Art und Weise, sich in der Gesellschaft zu verhalten, ohne die traditionellen Konzepte der Kirchen zu vertreten. Seit einigen Jahren werden katholische Theologen von Johannes Paul II. bestraft, weil sie die traditionelle Sicht der Kirchenhierarchie zur Sexualität und zur Stellung der Frau in der Gesellschaft ablehnen. Der Vatikan versucht diese Rebellen zum Schweigen zu bringen oder zu isolieren, aber es gelingt ihm nicht, die zunehmende Krise unter einem Teil der Gläubigen zu verhindern. Es scheint gar nicht unmöglich, dass es Berührungspunkte und Konvergenzen zwischen denen geben kann, die sich an Marx anlehnen, ohne aus seiner Dialektik einen Universalschlüssel zu machen, und denen, die nicht wollen, dass der Glaube an Gott gegen den Großteil der Menschheit gewendet wird.
Zwischen Befreiungstheologen und Aktiven, die seit langem einen Kampf gegen die Oligarchien Lateinamerikas führen, hat es bereit eine fruchtbare Begegnung gegeben. Begegnungen dieser Art sind sicher auch möglich zur Frage der Frauenunterdrückung und zu den Perspektiven grundlegender sozialer Veränderung.

Begegnungen mit dem Islam

In der arabisch-muslimischen Welt gibt es augenscheinlich derart bedeutende Entwicklungen nicht. Wie der bedeutende Intellektuelle Mohammed Arkoun bemerkt hat, hat der Islam keine Reformation wie das Christentum erlebt. Aber sich damit zu begnügen und über diese Feststellung nicht hinaus zu gehen, hieße schlicht und einfach kapitulieren.
Die Blockaden in der arabisch-muslimischen Welt bedeuten nicht, dass diese unbeweglich und unfähig sei, sich zu entwickeln. Sie bedeuten insbesondere nicht, dass die Ausgebeuteten und Unterdrückten in diesem Teil der Welt auf ewig dazu verdammt sind, den fundamentalistischen Organisationen zu folgen. Und sie bedeuten auch nicht, dass die Intellektuellen dazu verdammt sind, in ihrer Mehrheit die antisemitischen Wahnvorstellungen eines Roger Garaudy oder die paranoiden Konzepte von »einer jüdischen Weltverschwörung« nachzubeten.
Es gibt bereits Minderheiten, die sagen, dass all dies in eine Sackgasse führt und dass man andere Mittel finden muss, sich gegen den kapitalistischen Westen zu behaupten. Selbstverständlich muss man ihnen helfen, aus dem Teufelskreis des Schocks der Barbareien (der Barbarei des Neoimperialismus und der der radikalen Islamisten) herauszukommen und sich gegen religiösen Fanatismen zu wappnen. Dazu müssen aber Internationalisten in den westlichen Ländern aufhören, die Probleme der arabisch-muslimischen Welt als exotisch zu betrachten, d.h. als Probleme, die sie nicht unmittelbar betreffen. Es reicht, sich die Bedeutung der maghrebinischen Immigration in einem Land wie Frankreich zu vergegenwärtigen, um sich davon zu überzeugen. Die Solidarität mit den Migranten, die in immer neuen Wellen zu uns kommen, ist mehr denn je Bestandteil des Internationalismus.
Die internationale Breite der Bewegung gegen den Krieg im Irak hat Brücken gebaut zur arabisch-muslimischen Welt. Aber damit ist nur ein erster Schritt getan, denn ein bedeutender Teil der arabischen Welt sieht darin keine ernsthafte und dauerhafte Opposition gegen den Imperialismus und gegen den Druck und die Einmischung, denen sie von seiner Seite ausgesetzt sind. Viele sind auch nicht von den Aktionen der globalisierungskritischen Bewegung gegen die WTO, die G7 und von der Anprangerung von IWF und Weltbank überzeugt. Sie spüren mehr oder weniger intuitiv, dass Globalisierung mehr ist als die von den internationalen Organisationen unterstützte Globalisierung der Märkte.
Tatsächlich wird Globalisierung nicht wirklich verstanden oder analysiert, wenn nicht Bezug genommen wird auf die Rolle der Staaten der Triade (USA, EU, Japan, in naher Zukunft auch China). Diese Staaten sind eine treibende Kraft der Deregulierung, der Verwaltung der Schulden der Länder des Südens, aber auch bei der Festsetzung internationaler ökonomischer Strategien (z.B. im Bereich der Rohstoffe und der Landwirtschaft). Die Tatsache, dass unter ihnen wirtschaftliche Konkurrenz besteht, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie über einen großen Teil der Staaten der Erde eine echte Vormundschaft ausüben und diese unaufhörlich zu verstärken suchen, auch über den Umweg gezielter finanzieller Hilfen.
Angesichts dieser ungleichgewichtigen transnationalen Struktur wäre es natürlich sinnlos, zur früheren nationalen Souveränität zurückkehren zu wollen. Doch das heißt nicht, dass man das nationale Terrain aufgeben und die Nationalstaaten in ihren vielfältigen Wechselbeziehungen nicht bekämpfen muss. In den Staaten des sog. Zentrums muss der Kampf gegen Privatisierung und Sozialabbau begleitet sein von einem Kampf gegen die Immigrationspolitik und die Handelspolitik ebenso wie gegen internationale Polizeiaktionen. In den Staaten der sog. Peripherie muss sich der Kampf gegen die abhängigen Oligarchien bewusst auf das stützen, was in den imperialistischen Ländern geschieht.
Dieser Internationalismus würde seiner Aufgabe nicht gerecht, wenn er nicht die Konturen einer anderen Weltgesellschaft hervortreten ließe — nicht ausgehend von einer abstrakten Skizze, sondern von dem, was Hegel die bestimmte Negation nannte. Die soziale Transformation (das Fortschreiten zum Kommunismus) folgt nicht Plänen, die man im Kämmerlein ausarbeitet, sondern Prozessen, die sich in unterschiedlichen Bereichen der Logik der Kapitalverwertung widersetzen…

Jean-Marie Vincent, Übersetzung: Hans-Günter Mull

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