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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Oktober 2004, Seite 17

Alternativen zum Neoliberalismus

Zurück zu Keynes?

Im jüngsten Bericht (2004) der Memorandum-Gruppe1, die jedes Jahr ein Gegengutachten zum Gutachten der bürgerlich etablierten »Wirtschaftsweisen« veröffentlicht, finden sich eine Reihe von Vorschlägen und Forderungen, die sich mit den Vorschlägen und Forderungen der antikapitalistisch orientierten Linken durchaus decken: Die Reallöhne sollen verteidigt und erhöht werden; die Arbeitszeit soll nicht verlängert, sondern bei vollem Lohnausgleich verkürzt werden; die Vermögensteuer sollte wieder eingeführt und die hohen und höchsten Einkommen sollen steuerlich entsprechend hoch belastet werden; die Privatisierungsorgien sollen gestoppt und stattdessen ansprechende öffentliche Dienste aufgebaut werden; die sozialen Errungenschaften sollen nicht abgebaut, sondern ausgebaut werden.
Die strategische Orientierung jedoch, die angeboten wird, ist die Rückbesinnung auf Keynes. Das wird zwar nicht begründet, doch findet sich ein Kapitel, in dem die historischen Positionen von Keynes referiert werden. Dieser konzeptionelle Rahmen ist systemimmanent und das bedeutet, dass die Forderungen im Interesse der abhängig Beschäftigten und Besitzlosen nur insoweit konsequent vertreten werden können, wie das »heilige« Privateigentum an den Produktionsmitteln samt der »Notwendigkeit« kapitalistischen Profits es zulassen.
Auch von Linken artikulierter Keynesianismus will zeigen, dass ein besserer Lebensstandard, bessere Arbeitsbedingungen, kürzere Arbeitszeit und eine bessere Beschäftigungssituation und verbesserte Bedingungen für die Durchsetzung der Interessen der Beschäftigten erreicht werden können, ohne mit der bestehenden kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu brechen.
Kernidee ist, dass eine Steigerung der zahlungsfähige Nachfrage (eine andere Nachfrage gilt im Kapitalismus, der ja eine verallgemeinerte Waren- und Geldwirtschaft ist, als nicht gegeben) das Realisierungsproblem bewältigt (indem das Kapital sich nicht mehr Profite dadurch entgehen lässt, dass es eine Masse unverkäuflicher Waren produzieren lässt).
»Linke« Keynes-Anhänger betonen durchaus, dass die abhängig Beschäftigten zusammen mit den Erwerbslosen und allen anderen benachteiligten und ausgegrenzten Bevölkerungsschichten sich mobilisieren müssen, um einen solchen Weg durchzusetzen. Doch bleibt das Versprechen in der Hinterhand, dass alles sehr viel besser werden kann, ohne die Grenzen des bestehenden kapitalistischen Systems in Frage zu stellen.
Der Keynesianismus ist theoretischer Ausdruck der Position der Gewerkschaften, wie sie sich unter den Bedingungen des anhaltenden Aufschwungs der Nachkriegsjahrzehnte im ritualisierten systemimmanten »Klassenkampf«, sprich in der tariflichen Auseinandersetzung mit den Unternehmerverbänden herausgebildet hat. Diese überkommene Form der Auseinandersetzung und die ihr entsprechende Form der Klassenzusammenarbeit (die »Sozialpartnerschaft«) haben sich zwar überlebt und passen nicht zur Entschlossenheit des Kapitals, mittels rabiater Erhöhung der Mehrwertrate (der Ausbeutungsrate) die Profitrate zu sanieren. Jedoch: »le mort saisit le vif«, wie Marx sagte — das Tote ergreift (und überwältigt) das Lebendige.

Ende des Schmusekurses

In einer prosperierenden und expansiven Phase des Kapitalismus hat die Gewerkschaftsseite in diesem ritualisierten Klassenkampf um Lohn, Arbeitszeit und Arbeitsbedingungen eher Recht als die Unternehmerseite, denn dann überwiegt das Motiv der Integration. Unter heutigen Bedingungen hat aber eher die Kapitalseite Recht. Heute überwiegt bei weitem das Motiv des Kampfs um eine höhere Profitrate.
Das Verhältnis des eingesetzten Kapitals zum Gewinn (präziser gesagt zur Gewinnerwartung, denn der erzielte Gewinn interessiert bereits im Moment seiner Realisierung keine Kapitalistenseele mehr) im produktiven Bereich ist zu niedrig — das ist ja auch der Grund für die seit den 80er Jahren spektakulär verstärkte Flucht in die Spekulation. Um Kosten zu sparen, wird lebendige Arbeit aus dem Produktionsprozess verdrängt. Erhöhung der Arbeitsproduktivität produziert relativen Mehrwert (durch Verkürzung jenes Teils des Arbeitstags, den die Beschäftigten den Gegenwert ihres Lohns produzieren).
Andererseits ist diese lebendige Arbeit die einzige Quelle des Mehrwerts, da nur der Arbeitskraft die Fähigkeit innewohnt, über die Reproduktion ihres eigenen Werts hinaus Werte zu schaffen. Dieser Widerspruch ist gegenwärtig in ein Stadium getreten, in der die Produktion des absoluten Mehrwerts wieder in den Vordergrund tritt, und das bedeutet neben Reallohnsenkung vor allem unbezahlte Verlängerung des Arbeitstags. Vereinfacht gesagt: Die Zeiten des sozialpartnerschaftlichen »Schmusekurses« sind vorbei, die »Verteilungsspielräume« sind sehr viel enger geworden.
Darum neigt das Kapital dazu, die »Sozialpartnerschaft« von oben aufzukündigen oder ihre Bedingungen so zu definieren, dass sich das Kräfteverhältnis im Rahmen dieser »Sozialpartnerschaft« drastisch zu Ungunsten der Lohnabhängigen verschlechtert.
Angesichts der katastrophalen Krisenerscheinungen der kapitalistischen Weltwirtschaft in den Jahren 1929 bis 1932 war der historische Keynesianismus ideologischer Ausdruck einer spektakulären Wende der Prioritäten der bürgerlichen Wirtschaftspolitik in den imperialistischen Ländern. John Maynard Keynes drückte es so aus:
»Es gibt nur noch ein wirksames Mittel, die Preise in der Weltwirtschaft zu erhöhen, und das ist eine weltweite Vergrößerung der kreditfinanzierten Ausgaben … So fällt die Initiative den öffentlichen Organen zu. Und sie müsste in breitem Umfang und mit Entschlossenheit ergriffen werden, wenn sie ausreichen soll, den Teufelskreis zu durchbrechen und der fortschreitenden Verschlimmerung der Wirtschaftslage entgegenzuwirken … Zyniker möchten hier folgern, dass nur ein Krieg einen so schweren Verfall zum Stillstand bringen kann. Denn bislang ist der Krieg die einzige Rechtfertigung für eine öffentliche Mehrverausgabung großen Stils gewesen … Ich möchte hoffen, unsere Regierung wird beweisen, dass sie auch die Aufgaben des Friedens meistern kann.«
Dies also begründet das berühmte deficit financing oder deficit spending, Staatsausgaben mit dem Ziel der Erhöhung der zahlungsfähigen Nachfrage, womit »die Wirtschaft« angekurbelt wird und womit die zyklischen Krisen zu »Rezessionen« gedämpft wurden. Die Rüstungsausgaben spielten dabei keine geringe Rolle, aber nicht die entscheidende.
Ein Ankurbeln der Nachfrage durch Rüstungs- oder auch Luxusgüter allein ist nicht machbar. Eine Erhöhung der Ausgaben für Massenkonsumgüter ist notwendig. Daher passt eine restriktive, die Löhne möglichst niedrig haltende Tarifpolitik schlecht zu dieser Art von Wirtschaftspolitik.
Der Preis für diese Politik war die Entstehung eines Schuldenmeers. Nur auf diesem anwachsenden Schuldenmeer konnte der Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg überhaupt wieder aufgebaut werden. Es entstand das Problem der permanenten Inflation, vor allem der Kreditgeldinflation.

Preis des Keynesianismus

Dieses Problem ist auch durch noch so beinharte monetaristische — der Geldwertstabilität höchste Priorität einräumende — Politik nicht aus der Welt zu schaffen. Ihre wichtigste Form ist das Giralgeld, der Kontokorrentkredit, das geliehene Geld zum Zweck der Investition oder des Konsums. Es hat inzwischen einen Umfang angenommen, dass eine Bereinigung nicht mehr denkbar ist — es sei denn in der konvulsiven, große Massen von Kleinbürgern, Erwerbslosen und Lohnabhängigen nochmals im großen Stil zugunsten des Großkapitals enteignenden Form.
Keynes wurde damals vorgehalten, langfristig könne die von ihm vorgeschlagene Politik nur zu einer solchen ausweglosen Verschuldung führen. Das ist immer der rationale Kern der Argumentation der Neoliberalen, Monetaristen, bürgerlich Orthodoxen gegen den Keynesianismus gewesen. Keynes‘ Antwort darauf lautete: »Langfristig sind wir alle tot.« Nun, das stimmt, auch bei ihm selbst. Wir aber leben vorerst noch, und wir haben nun den Salat.
Diejenigen, die heute keynesianische Rezepte vertreten, gehen auf dieses Problem nicht ernsthaft ein. Sie müssten das Schuldenmeer in einen Schuldenozean verwandeln, das Kapital mit hohen Steuern vergraulen und auf eine Jahrzehnte währende expansive Phase des Kapitalismus setzen. Auf welcher Grundlage sollte dies möglich sein?
In dem von Joachim Bischoff und Klaus Steinitz herausgegebenen Sammelbändchen zur alternativen Wirtschaftspolitik2 äußert sich eine Reihe von Autorinnen und Autoren, die aber darauf keine Antwort geben. Joachim Bischoff fasst dabei die Bandbreite der dokumentierten Positionen zusammen und unterscheidet zum einen eher pragmatische Vertreter »alternativer Wirtschaftspolitik«, die einzelne Maßnahmen vorschlagen, eine zweite Richtung, die langfristig angelegte Reformstrategien zu Gunsten einer alternativen ökonomischen Entwicklung im Sinne der Priorität des Sozialen, der gesellschaftlichen Bedürfnisse und der Nachhaltigkeit will und eine dritte Richtung, die auf die »Herausbildung einer sozialistischen Gesellschaft« orientiert. Letztere würde »natürlich einen noch längeren, zeitlich kaum bestimmbaren Zeithorizont umfassen und auch weit stärker auf Visionen beruhen«.
Ob diese platonische Bezugnahme auf eine vage ferne Zukunft irgendeinen Nährwert hat, ist jedoch zu bezweifeln. Bischoff selbst formuliert sein reformistisches Konzept wie folgt:
»Die Ziele alternativer Wirtschaftspolitik, die Wege und Maßnahmen sowie der Ordnungsrahmen und die Instrumente, um diese zu erreichen, sind in ihrer Gesamtheit darauf gerichtet, einen gegenüber der gegenwärtigen typischen ökonomischen Entwicklung in Deutschland und in der EU alternativen Typ der sozial-ökologischen Wirtschaftsentwicklung herauszubilden. Dieser bedeutet in einem absehbaren Zeitraum nicht, den Kapitalismus zu überwinden. Er setzt jedoch voraus, dass es durch Veränderungen in den ökonomischen Machtstrukturen und in den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen gelingt, die Dominanz des Profitprinzips zurückzudrängen und damit auch Elemente einer stärker sozial und ökologisch strukturierten Wirtschaftsweise herauszubilden.«

Lackmustest
Das Programm der französischen Linksunion aus PS und PCF und den linksbürgerlichen »Radikalen« Anfang der 80er Jahre war ungleich radikaler als das und ebenso als die heutigen deutschen Memorandums- und Attac-Expertenpositionen. Da wurde nicht nur abstrakt eine wirkliche Veränderung, ein wirklicher Wandel gefordert, sondern auch die Verstaatlichung einer erklecklichen Anzahl großer Unternehmen, und einschneidende soziale Verbesserungen in Aussicht gestellt.
Doch kaum sechs Monate nach dem Wahlsieg der Linksunion ruderte die Regierung Mitterrand unter dem Druck des Bürgertums zurück. Die Drohung mit Kapitalflucht und Investitionsstreik und die Mobilisierung der Medienmacht des Kapitals reichte, um die Linksregierung zu einer Regierung der prokapitalistischen Krisenbewältigung und der antisozialen Konterreform zu machen.
Was gedenken Bischoff und seinesgleichen in vergleichbarer Situation vorzuschlagen? Wenn sie die sozialen Forderungen und die versprochenen Beschneidungen des »Profitprinzips« für wichtiger halten als das Gezeter, die Macht und das System des Kapitals, dann werden sie eine harte Klassenkonfrontation nicht vermeiden können.
Bisherige Reformisten aber, deren Programm sehr viel radikaler war als das von Bischoff und den anderen Linkskeynesianern heutzutage, reagierten auf den Druck des Kapitals anders. Sie sagten den Herren Kapitalisten: Wir dachten ohnehin nicht daran »in absehbarer Zeit« über euer System hinauszugehen, und wenn ihr sagt, dass dieses System die Realisierung unserer Forderungen nicht überlebt, dann verwässern wir diese eben solange, bis sie euch in den Kram passen.
Und genau mit dieser Art von Politik sind Reformisten im Klassenkampf bislang regelmäßig auf der anderen Seite der Barrikade gelandet. Solange sie treu zu den Forderungen im Interesse der Massen stehen, kann die sozialistische Linke mit ihnen gemeinsam handeln. Wenn sie diese aber dem Erhalt des Systems opfern, dann landen sie im Lager des Klassenfeinds. Die Frage, die wir ihnen bereits heute stellen müssen, lautet: Wie wollt ihr die Macht des Kapitals brechen? Oder haltet ihr das nicht für nötig?
Sozialistische Revolutionäre sind bereit, auch für die mindeste Verbesserung der Lage der abhängig Beschäftigten, der Unterdrückten und Benachteiligten zu kämpfen — bloß wollen sie deren Interessen nicht dem Überlebensinteresse des kapitalistischen Systems opfern. Dementsprechend setzen sie sich nicht nur für außerparlamentarische Mobilisierungen ein, um die Kräfteverhältnisse zu ändern, sondern auch für solche außerparlamentarischen Mobilisierungen, die neue Selbstorganisationsstrukturen von unten entstehen lassen, die die Keime einer neuen staatlichen Ordnung sind, einer zum bürgerlichen Staat alternativen sozialistischen Demokratie.

Manuel Kellner

1. Memorandum 2004. Alternativen der Wirtschaftspolitik (Hg. AG Alternative Wirtschaftspolitik), Köln: Papyrossa, 2004, 289 Seiten, 16,50 Euro.

2. Linke Wirtschaftspolitik. Bilanz, Widersprüche, Perspektiven (Hg. J.Bischoff/K.Steinitz), Hamburg: VSA, 2003, 200 Seiten, 15,80 Euro.X2

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