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Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Oktober 2004, Seite 18

Der Untote

Vor dreihundert Jahren starb John Locke

John Locke (1632—1704) ist zwar am 28.Oktober vor 300 Jahren gestorben, doch seine Lehre ist nicht tot. Die Theorie des Arztes Locke und, wie wir heute sagen würden, des praktischen Philosophen Locke, lebt in der amerikanischen Verfassung genauso wie in den modernen Marketingtheorien weiter.

John Locke war Begründer des Empirismus, d.h. er machte die Beobachtung zur Grundlage wissenschaftlicher Aussagen. Menschliches Wissen bilde sich aus der Wahrnehmung unserer Sinne, aus der Beobachtung. Die Wählerprognosen und Zielgruppenanalysen, auf die sich moderne Werbeagenturen und Parteien zu stützen pflegen, wenn sie die richtige Strategie zur Manipulation oder Information von Millionen von einzelnen Konsumenten und Wähler planen, basieren auf diesen allgemeinen Grundsätzen Lockes.

Empirismus der Sinne

Heutige Werbeexperten sprechen gern vom »Eyecatcher«, wohinter sich ja meistens nicht mehr verbirgt, als ein in Szene gesetztes nacktes Körperteil, das den Konsumenten ins Auge springen soll. Das Auge war für John Locke das Sinnesorgan, mit dem der Mensch am schnellsten der Wahrheit auf die Spur kommen könne. Das menschliche Auge stehe im Mittelpunkt, wenn in einem kurzen Augenblick »eine Vorstellung in dem gewöhnlichen Lauf der Gedanken ausgefüllt« werden soll. Durch das Auge, durch die Nutzung seiner Sinne überhaupt, könne der Mensch zu seinem Glück streben.
Denn, so Locke, »Glück ist das äußerste Maß der Lust, dessen der Mensch fähig ist, und Elend der äußerste Schmerz; der niedrigste Grad, der noch Glück heißen kann, ist so viel Befreiung von Schmerz und so viel gegenwärtige Lust, dass man zufrieden sein kann. Da nun Lust und Schmerz durch die Wirksamkeit gewisser Dinge auf unsere Seele oder unsern Körper und zwar in verschiedenen Graden hervorgebracht werden, so heißt alles, was uns Lust gewähren kann, ein Gut, und alles, was uns Schmerzen macht, ein Übel, bloß weil es diese Gefühle in uns hervorzubringen vermag, in welchen unser Glück und Elend besteht.«
Es seien Dinge oder Güter die dem Menschen Glück oder, bei Versagen dieser Dinge, Schmerz bereiten. Die Natur des Körpers verlange sozusagen nach bestimmten Gütern, die jedem Menschen zugänglich sein müssten, um möglichst alle in einen Glückszustand zu versetzen. Was bislang nur dem Adel möglich gewesen sei, solle allen Menschen zu eigen werden.
Besonders in Amerika erkannte man die von John Locke differenzierte Beziehung von Warenproduktion und Glückserfüllung der Konsumenten. Locke darf als einer der Entdecker der Zielgruppenanalyse genannt werden. Locke wusste bereits, dass »nicht jedes Gut, selbst wenn man es sieht und als solches anerkennt, notwendig bei jedem das Begehren« auslöst, »sondern nur der Teil«, den man in der heutigen Marketingsprache »Zielgruppe« nennt, der dieses Gut »für ein notwendiges Stück zu seinem Glücke ansieht und annimmt.«
Der Werbestratege muss, wenn er die Zielgruppe kennt, nur noch die genauen Gedanken dieser Gruppe erforschen, die diese »von dem Vergnügen hat, welche ein gegenwärtiges oder abwesendes Ding ihm verursachen kann, so hat er die Vorstellung der Liebe.« Auf diese Weise entdeckt der potentielle Konsument durch die Werbung plötzlich seine Liebe zu einem flotten Cabrio, einer Kreuzfahrt oder einem Eigenheim.
Es wäre natürlich völlig vermessen, würde man Locke in eine Reihe mit heutigen Werbestrategen stellen. Locke wollte mit seiner materialistischen Weltsicht der Wahrheit auf die Spur kommen. Welche Banalitäten diese Weltsicht einmal gebären sollte, konnte er noch nicht wissen.
Glück war für Locke etwas, das nicht nur von einer höheren Macht abhing, sondern von der Sinnesfähigkeit des Menschen. Glück war, ganz im Sinne moderner Glücksforscher, für Locke messbar geworden. Ermöglicht durch gigantische Massenproduktionen lassen sich heute Waren zu günstigen Preisen an immer mehr Menschen vertreiben. Also können immer mehr Menschen glücklich werden. Das jedenfalls war die Vision von Locke, die ja längst Realität geworden ist.
John Lockes Theorie legte wichtige Grundsteine für die Erkenntnis, dass der Mensch für sein eigenes Handeln und Tun selbst verantwortlich ist. Er polemisierte heftig gegen jene Denker, die behaupteten, »dass Gott die Grundlagen der Erkenntnis und die Regeln des Lebens der Seele des Menschen eingeprägt habe«. Wenn dem so wäre, so Locke, dann müssten diese Denker nicht ständig mit erhobenem Zeigefinger »die Belehrung ihrer Nachbarn« forcieren. Denn »wenn es wirklich solche angeborenen Grundsätze gäbe«, so würde der Mensch diese Gottesregeln »leicht von anderen Wahrheiten unterscheiden können, die er später gelernt« hat.
Physik oder Naturwissenschaft hatten für ihn allein den Zweck der Erkenntnis und Erforschung der Wahrheit: »und alles, was dazu beiträgt, fällt darunter, also auch Gott, die Engel, die Geister wie die Körper und deren Eigenschaften, als die Zahl, Gestalt usw.«

Erkenntnis, Bewegung, Kommunikation

Diese Gedanken wurden vor über 300 Jahren niedergeschrieben. Damals stellten sie einen unglaublichen Fortschritt zur besseren Erkenntnis der Natur dar. Sie sind für unser heutiges Wissenschaftsverständnis aber noch immer die Orientierung. Noch immer wird die Wissenschaft von der Natur, in der sich die Prozesse kausal vollziehen, ohne dabei einen bewussten Zweck zu verfolgen, auf die Erkenntnisse des gesellschaftlichen Lebens und die menschlichen Beziehungen übertragen.
Die Wahrheit wird so, ganz im Sinne Lockes, im Detail, im Einzelnen gesucht, in der Umsatzstatistik, der persönlichen Sexstatistik, der Unfall- oder Lebenserwartungsstatistik, nicht aber im prozessierenden Komplex des ganzen Lebens.
Locke hat die Naturvorgänge in ihrer Vereinzelung, außerhalb des großen Gesamtzusammenhangs betrachtet. Er erkannte sie nicht in ihrer Bewegung, sondern in ihrem Stillstand, nicht als wesentlich veränderliche, sondern als statisch feste. Durch den Übertrag dieser Anschauung aus der Naturwissenschaft in die Philosophie entstand neben seiner mechanisch materialistischen Weltbetrachtung seine metaphysische Anschauung, an der sich heute nicht nur Tausende von Sekten nähren. Die Metaphysiker denken in lauter unvermittelten Gegensätzen. Für sie gibt es nur Schwarz oder Weiß und keine Dialektik.
Diese Denkweise erscheint auf den ersten Blick äußerst plausibel, ist sie doch die des »gesunden Menschenverstands«, der uns in unserem Alltagsleben durchaus zu leiten versteht. Da heißt es ganz praktisch, soll ich die Fenster putzen oder nicht? Hier gibt es keine Zwischentöne, keine Einheit der Gegensätze. Aber die wissenschaftliche Erkenntnis vom Wesen eines Dings oder gar unseres gesellschaftlichen Seins, lässt sich mit diesem Denken nicht realisieren.
So verbirgt sich hinter der Arbeitslosigkeit, deren Erscheinungsform ja die Summe der arbeitslosen Menschen ist, die gesellschaftliche Dynamik eines Produktionsverhältnisses, dass immer schneller und besser zu produzieren versteht. Die Geheimnisse, die sich in dieser Dynamik verbergen, bleiben dem »gesunden Menschenverstand« verborgen.
Locke hatte die Philosophie des »gesunden Menschenverstandes« begründet, für ihn gab es keine von den gesunden menschlichen Sinnen und dem auf ihnen basierenden Verstand unterschiedene Philosophie. Alles sollte für den einzelnen Menschen nützlich sein. So war auch die Lehre von den Zeichen (Semiotik), die in den modernen Werbeagenturen noch immer hochgeschätzt ist, für Locke eine wichtige Wissenschaft.
Die Semiotik »beschäftigt sich mit Betrachtung der Zeichen für das Verständnis der Dinge oder für die Mitteilung des Wissens an andere. Denn die Dinge sind dem Verstande, mit Ausnahme seiner selbst, nicht gegenwärtig; deshalb bedarf es eines andern, was das Zeichen oder die Darstellung des betrachteten Dinges ist und ihm gegenwärtig ist; dies sind die Vorstellungen.«
Nicht das Sein, sondern die Vorstellungen über dieses Sein, das vom menschlichen Bewusstsein ja stets auch als unabhängig betrachtet werden sollte, stand im Mittelpunkt seiner Wahrheitsfindung.
Auch in diesem Punkt ist Locke ganz aktuell. So hält die Bundesregierung die Proteste an der Hartz-Reform noch immer für ein »Kommunikations- oder Vermittlungsproblem«, also für ein Problem, das durch richtige Zeichensetzung aus der Welt geschaffen werden könne. Diese Zeichen müssten nur an den »gesunden Menschenverstand« appellieren, der dann einsehen soll: Wo kein Geld ist, kann auch keines verteilt werden.
»Die scheinbare Albernheit,« heißt es in der Deutschen Ideologie von Marx und Engels, »welche alle die mannigfaltigen Verhältnisse der Menschen zueinander in das eine Verhältnis der Brauchbarkeit auflöst, diese scheinbar metaphysische Abstraktion geht daraus hervor, dass innerhalb der modernen bürgerlichen Gesellschaft alle Verhältnisse unter das eine abstrakte Geld- und Schacherverhältnis praktisch subsumiert sind. Diese Theorie kam auf mit Hobbes und Locke, gleichzeitig mit der ersten und zweiten englischen Revolution, den ersten Schlägen, wodurch die Bourgeoisie sich politische Macht eroberte. Die eigentliche Wissenschaft dieser Nützlichkeitstheorie ist die Ökonomie.«

Das kleine Glück

Die Ökonomie als Basiswissenschaft mit ihren Dienstleistungsagenturen Werbung, Naturwissenschaft, Informatik etc. bilden heute die Säulen moderner Nützlichkeitstheorien.
Locke, der in Holland im Exil gewesen war, hatte die Dynamik der Ökonomie in der Entwicklung der holländischen Bourgeoisie vor Augen, die früher als die englische Geschichte machte. Schließlich fiel, durch die Entwicklung der Bourgeoisie in England, die aus der lokalen und provinziellen Beschränkung herausgetreten war und eine schon relativ entwickelte Stufe der Manufaktur, des Seehandels, der Kolonisation und von Aktiengesellschaften betrieb, seine Theorie auf einen fruchtbaren Boden.
John Locke vertrat diese neue Bourgeoisie Englands gegen die altmodischen Wucherer. Er war ein echter Liberaler, der die Finanzaristokraten genauso wie die Industriellen gegen die Arbeiter und Paupers stützte. Lockes Theorie wirkte für die damalige Zeit, in der sich die moderne Industrie ihren Weg gegen die absolutistischen Fesseln suchte, revolutionär. Er forderte Freiheit, Gerechtigkeit und den Schutz des Privateigentums. Ohne Privateigentum könne es kein individuelles Glück geben.
Das war ein entschlossener Angriff gegen die absolutistische Monarchie, die sich auf die Leibeigenschaft der Bauern und auf den Großgrundbesitz stützte. Locke konnte nicht ahnen, welche menschlichen Entfremdungen das Streben nach Privateigentum mit sich ziehen würde, wenn Menschen, deren angeborenes Eigentum nur ihre Arbeitskraft ist, die sie auf einem unsicheren Arbeitsmarkt zum Verkauf anbieten müssen, für das Eigenheim oder das neue Auto sich in eine lebenslange Abhängigkeit von Banken begeben und auf diese Weise leicht an der wirklichen Entfaltung eigener Kreativität vorbei taumeln.
Lockes Staatstheorie hat die amerikanische Unabhängigkeitserklärung 1776 und den französischen Verfassungsentwurf 1791 geprägt. Auch im Grundrechteteil des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland von 1949 ist sein Einfluss spürbar. Locke trat für die Trennung von Legislative und Exekutive ein. Jedes Volk solle die ihm gemäße Regierungsform selbst bestimmen. Ein Tyrann, so Locke, der das Volk unterdrückt, darf vom Volk beseitigt werden, allerdings nur im Vertrauen auf Rechtfertigung durch einen »himmlischen« Richter.
In A letter concerning toleration tritt Locke für die Freiheit aller Glaubensbekenntnisse ein, solange sie den liberalen Staat nicht gefährden. Atheisten werden hier allerdings nicht geduldet, da sie nicht eidesfähig seien und keine höchste richterliche Instanz anerkennen würden.
Locke ist in einigen seiner Anschauungen überholt. Doch seine Metaphysik, verbunden mit einem banalen Materialismus, orientiert häufig noch immer unser modernes Denken. Dieses Denken behindert Erkenntnisse, die die Teile mit dem Ganzen und das Ganze mit den Teilen in ihrer ganzen Dynamik in Beziehung setzen.

Jürgen Meier

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