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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Oktober 2004, Seite 19

Spanisches Verwirrspiel

La Mala Educación (Schlechte Erziehung), Spanien 2004, Regie: Pedro Almodóvar, mit Gael García Bernal, Fele Martínez u.a. (Kinostart: 30.September 2004)

Für den jungen Filmregisseur Enrique Godet scheint alles in bester Ordnung zu sein. Er hat mehrere erfolgreiche Filme gedreht und ist auf der Suche nach Material für sein nächstes Projekt, als ihm eine neue Geschichte angeboten wird. Mit dieser Geschichte, der Novelle Der Besuch, jedoch ändert sich für Enrique alles. Der Urheber und Überbringer ist Ignacio, den Enrique seit ihrer gemeinsamen Zeit in einer Klosterschule nicht mehr gesehen hat. Und die Geschichte, die Ignacio ihm vorlegt, ist ihre eigene Geschichte.
Für die Kinobesucher beginnt bereits in dieser ersten Szene von La Mala Educación das Verwirrspiel, das für viele Filme des spanischen Regisseurs Pedro Almodóvar typisch ist und sich im weiteren Verlauf sukzessive steigert. Ignacio, der nach fast zwanzig Jahren überraschend an seiner Madrider Türe auftaucht, erinnert Enrique überhaupt nicht an den Ignacio der Jugendzeit. Und Ignacio will auch nicht mehr Ignacio sein. Er habe sich von der Schriftstellerei abgewandt, sei jetzt Schauspieler und heiße Ángel, erklärt er dem verwirrten Enrique.
Nach und nach lässt sich Enrique auf Der Besuch ein. Nachts beginnt er das Buch über seine Jugend zu lesen und beschließt letztendlich, seine und Ignacios Vergangenheit zu verfilmen. Mit dieser Entscheidung bilden sich die unterschiedlichen Zeitebenen von La Mala Educación heraus, die den ganzen Film durchziehen: Durch die Novelle treten die Jugendzeit in der Klosterschule zu Beginn der 60er Jahre und ein scheinbares Wiedersehen der drei Hauptpersonen — Enrique, Ignacio und ihr ehemaliger Lehrer Padre Manolo — in den 70er Jahren neben das Madrid der 80er Jahre. Es entsteht ein Film im Film, der immer wieder durch die Jetztzeit durchbrochen wird. Komplettiert wird die Unsicherheit der ZuschauerInnen durch die komplexe Struktur der Erzählebenen, die unter anderem an Almodóvars Film Sprich mit ihr erinnert, in den ebenfalls eine Film-im-Film-Szene eingebettet ist: Der erste Strang handelt von der »Realität«, die unter anderem die Liebesbeziehung zwischen Enrique und Ángel und Enriques Erkenntnis thematisiert, dass Ángel eigentlich nicht Ignacio ist, sondern Juan, der Bruder des inzwischen toten Ignacio. Der zweite Strang ist die von Ignacio geschriebene Geschichte Der Besuch und der dritte die filmische Umsetzung der Novelle durch Enrique.
Der Besuch endet in den 70er Jahren. Aus Ignacio ist der Transvestit Zahara geworden, aus dessen Perspektive erzählt wird. In der Stadt seiner Jugend trifft Zahara den inzwischen nicht mehr an der Klosterschule lehrenden Padre Manolo. Und vielleicht ist der Enrique, mit dem Zahara eine Nacht verbringt, identisch mit Enrique Gadet. Begonnen hat für Enrique und Ignacio alles in der Klosterschule. Die strenge Erziehung, der militärische Drill und die Gefühle der jugendlichen Enrique und Ignacio füreinander, die zu Enriques Schulverweis durch den eifersüchtigen Padre Manolo führen, nicht zuletzt die sexuellen Nötigungen, die Ignacio durch Padre Manolo zu ertragen hat.
Erst ganz am Ende von La Mala Educación führt Almodóvar die verschiedenen Zeit- und Erzählebenen wieder zu einer Geschichte zusammen. Im Film-im-Film wird Zahara, der Padre Manolo mit den Ereignissen der Jugendzeit erpresst, von diesem ermordet. Die Wahrheit über Ignacios und damit Juans Geschichte hört Enrique von Seńor Berenguer, der früher Padre Manolo hieß, und der am letzten Drehtag von Enriques Film am Set auftaucht: Juan und er — bereits als Berenguer — haben Ignacio ermordet. Wie bei Zaharas Tod steht auch hinter Ignacios Ermordung die Jugendzeit als Motiv.
Als ZuschauerIn verlässt man das Kino trotz »Erklärung« eher verstört, da die Auflösung die Vielschichtigkeit des Films nicht wirklich auflöst und sie sich auch nicht sofort in den Gesamtzusammenhang integrieren lässt. Wie in vielen anderen Filmen kommen die verqueren bürgerlichen Moralvorstellungen hinzu, die Almodóvar thematisiert. In diesem Fall die Homosexualität der Protagonisten und die Kritik an der Kirche, die sich in den sexuellen Nötigungen Minderjähriger durch Kirchenvertreter manifestiert.
Zugleich ist La Mala Educación aber auch ein Film über die spanische Geschichte der letzten fünfzig Jahre. Die düster dargestellte Jugend in der Klosterschule steht für die Endzeit der faschistischen Diktatur unter Francisco Franco in den 60er Jahren. Die »Haupthandlung« des Films und die zweite Hälfte von Ignacios Geschichte spielt in der Zeit des »Freiwerdens« nach Francos Tod 1975. Sinnbildlich verkörpert Ignacio diese Entwicklung. Er lebt in den 70er Jahren zusammen mit seinem Bruder Juan in Valencia, konsumiert exzessiv Drogen und hat — als Höhepunkt des »Freiwerdens« von der eigenen Vergangenheit — eine Geschlechtsumwandlung vornehmen lassen.
Man kann La Mala Educación als Melodram sehen, als Film über das Geschichtenerzählen oder mit Almodóvar auch als film noir. Aber eigentlich entzieht er sich jeder gängigen Kategorisierung. Letztendlich ist das Genre unwichtig, Hauptsache man hat La Mala Educación gesehen.

Volker Elste

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