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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Oktober 2004, Seite 24

Helmut Dahmer über Arthur Rimbaud (1854—1891)

Die Entriegelung der Sinne

Arthur Rimbaud, der vor 150 Jahren, am 20.Oktober 1854, in dem nordostfranzösischen Städtchen Charleville, nahe der belgischen Grenze, geboren wurde, begann seine Karriere als Dichter, Poetologe und Reisender mit 15 Jahren.

Der deutsch-französische Krieg hatte der Schulzeit des brillanten Schülers noch vor dem Abitur ein Ende gesetzt. Der Junge nutzte das Chaos des Krieges, der ihm unverhoffte Freiheiten bescherte, und versuchte, sich Ende August 1870 — also kurz vor der kriegsentscheidenden Schlacht bei Sedan und dem Sturz Napoleons III. —, in die Hauptstadt Paris, dem politisch-kulturellen Zentrum des Landes, durchzuschlagen. Da er nicht genug Geld bei sich hatte, fuhr er das letzte Stück schwarz, wurde im Gare du Nord erwischt und zunächst einmal in Haft genommen. Heimgekehrt, entkam er im Oktober ein zweites Mal der Obhut seiner Mutter und wanderte hungernd und dichtend über Brüssel nach Douai.
Ende des Jahres wurde das Charleville benachbarte Festungsstädtchen Mézières von den preußischen Truppen in Brand geschossen und Ende Februar gelang dem Jungen eine dritte Flucht. Diesmal blieb er zwei Wochen in der Hauptstadt (vom 25.2. bis zum 10.3.1871) und versuchte vergeblich, zu Pariser Künstlern und Journalisten Kontakt zu finden. Die Stadt war vier Monate lang von der deutschen Armee belagert und schließlich durch Aushungerung und Artilleriebeschuss zur Kapitulation gezwungen worden. Rimbaud wurde Zeuge von Massendemonstrationen gegen die Regierung Thiers und schließlich, am 1.3.1871, des Einmarschs von 20000 deutschen Soldaten.

Poet und Kommunarde

Nur eine Woche nach seiner Rückkehr nach Charleville erhob sich die Pariser Arbeiterschaft gegen die Versailler Regierung; am 28.März wurde die Kommune proklamiert. Begeistert verfolgte der junge Dichter die Ereignisse aus der Ferne. Die alte Ordnung war zusammengebrochen, und im »heiteren Arbeiter-Paris der Kommune« (Marx) schienen die kühnsten Träume der utopischen Sozialisten wahr zu werden. Von einer weiteren Reise nach Paris im April/Mai 1871 hat Rimbaud nur seinem Schulfreund (und späteren Biografen) Ernest Delahaye und seinem Dichterfreund Paul Verlaine erzählt. Sie berichten, er habe sich der revolutionären Nationalgarde angeschlossen und sei in der Babylon-Kaserne untergebracht gewesen.
Einige Autoren halten Rimbauds Erzählungen über diesen zweiten Parisaufenthalt im Frühsommer 1871 für eine Art Tagtraum, doch die zusammenfassende Darstellung, die der Rimbaud-Biograf Jeancolas gibt, steht in gutem Einklang mit dem, was Rimbaud seinen Freunden anvertraute: »Rimbaud beschließt, nach Paris zu gehen und sich an der Revolution zu beteiligen. Er kommt wahrscheinlich um den 23.April in der belagerten Stadt an, nachdem er sich mit großen Schwierigkeiten durch die feindlichen Linien durchgeschlagen hat. Er bleibt drei Wochen. Doch über seine Aktivitäten ist wenig bekannt. Diesmal feiert Paris, die Freiwilligen sind bereit, für ihr Ideal ihr Leben zu opfern. Die Vendōme-Säule, Symbol imperialen Pomps, wird umgestürzt, in den Tuilerien wird getanzt, die Zeitungen erleben eine Blüte, Plakate kündigen neue Regelungen und Ereignisse an…«
Am 13.Mai machte sich Rimbaud wieder auf den Heimweg nach Charleville und entging so dem Gemetzel, das die konterrevolutionären Truppen nach dem Fall der Kommune — während der sog. »Blutigen Woche« (22.—28.5.1871) — unter der arbeitenden Bevölkerung von Paris anrichteten. Kaum daheim, brachte er zwei kühne Entwürfe zu Papier: das Projekt einer kommunistischen Verfassung für eine Republik frei assoziierter Produzenten und, komplementär dazu, das Projekt einer neuen, nichtaffirmativen Dichtkunst der freien Assoziation.
Delahaye berichtet, Rimbaud habe ihm und anderen Freunden aus seinem Verfassungsentwurf — einem eng beschriebenen Heft — vorgelesen. Der Text ist — wie viele Gedichte und Briefe Rimbauds — verloren gegangen, doch sind wir dank Delahaye über die Grundzüge der rimbaudschen Kommune-Verfassung unterrichtet, die die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, einen Bund freier Städte und direkte Demokratie vorsah. In Briefen an seinen Lehrer Izambard und den Dichter Demeny, die Rimbaud Mitte Mai 1871 schrieb, entwickelte er das Programm einer neuartigen lyrischen Dichtkunst. War die Pariser Kommune ein Versuch, Politik und Gesellschaft von Grund auf zu erneuern, so sollte eine neue Generation von Poeten nun auch den ästhetischen Horizont der bürgerlichen Welt überschreiten.
Rimbaud schrieb, die ebenso aktuelle (»moderne«) wie »objektive« neue Dichtung solle »weder beschreiben noch belehren«; sie solle vielmehr das, was bisher »unaussprechlich« gewesen sei, zur Sprache bringen und für diese neuen Themen und Sujets neuartige, adäquate Formen erfinden. Als ein Beispiel dessen, was ihm vorschwebte, sei hier das Prosagedicht »Demokratie« aus den Illuminationen (in der Übersetzung von Walther Küchler) angeführt. Rimbaud hat darin nicht nur den Charakter des Krieges gegen die algerischen Aufständischen (in dem sein Vater gekämpft hatte) oder den des Kampfes der holländischen Kolonialarmee gegen die Bergstämme auf Java (dem er selbst, als Söldner, durch Desertion in letzter Stunde entkommen war) fixiert, sondern das Ideogramm aller imperialistischen Kolonialkriege — bis hin zu denen, die gegenwärtig Tschetschenien und den Irak verheeren — umrissen:

»Demokratie
Die Fahne marschiert in die unreine Landschaft, und unser Kauderwelsch erstickt die Trommel.
In den Hauptstädten werden wir die schamloseste Hurerei hochbringen. Wir werden die vernünftigen Empörungen niedermetzeln.
Hin in die gepfefferten und erschlafften Länder! — im Dienst der ungeheuerlichsten industriellen oder militärischen Ausbeutungen.
Auf Wiedersehen hier, ganz gleich wo. Rekruten des guten Willens, werden wir uns an die Philosophie der Barbarei halten; Stümper in der Wissenschaft, Wüstlinge im Genuss des behaglichen Lebens; krepieren muss die Welt, wie sie heute läuft. Das ist der wahre Fortschritt. Vorwärts los!«

Rimbaud war der Nomade unter den Symbolisten. Tabubrüche, Grenzüberschreitungen und das, was er die »Entriegelung« (oder Entregelung) der Sinne nannte, verhalfen ihm dazu, mehr und anderes zu sehen als seine Zeitgenossen. Im Herbst 1871 gewann er die Liebe des Versartisten Paul Verlaine, der sich ebenfalls aktiv am Kommune-Aufstand beteiligt hatte und in seinen Liedern ohne Worte (1874) die französische Sprache zum Klingen brachte wie kein anderer vor oder nach ihm. Die beiden Dichter reisten gemeinsam von Paris nach Brüssel, wanderten durch die belgische Landschaft und siedelten dann nach London über, wo sie im Kreis der exilierten Kommunarden, zu dem auch Marx gute Beziehungen unterhielt, für kurze Zeit eine Zuflucht fanden.
Ihre schwierige Freundschaft zerbrach im Sommer 1873, als Verlaine in Brüssel auf Rimbaud schoss, der sich aus der Beziehung lösen wollte. Beide Poeten haben in den Jahren 1871—1874 ihre bedeutendsten Dichtungen geschaffen. Rimbaud stieß vom gebundenen zum freien Vers vor und schrieb dann die beiden großen lyrischen Prosadichtungen Eine Zeit in der Hölle und die Illuminationen, in denen er versuchte, so weit wie möglich über die bestehenden Denk-, Lebens- und Dichtungsformen hinauszukommen und ein künftiges irdisches Paradies heraufzubeschwören.

Ruheloser Wanderer

Im Mai 1871 war das Experiment der Kommune blutig gescheitert. Im Juli 1873 zerbrach auch die »Kommune zu zweit«, in die Rimbaud und Verlaine sich geflüchtet hatten. Die freie Stadtrepublik, in der sie gern heimisch geworden wären, war nur noch ein Traum, der Horizont der bürgerlichen Gesellschaft hatte sich wieder geschlossen. Verlaine und Rimbaud erging es damals ähnlich wie fünfzig Jahre später den poetischen »Weggefährten« der russischen Revolution (den Block, Mandelstam und Jessenin, Pasternak und Majakowski, Babel, Pilnjak und Samjatin), denen ebenfalls ihr Vaterland, die Räterepublik, unter den Füßen weggezogen wurde, und die dann in Stalins Russland elend zugrunde gingen. Mit noch nicht zwanzig Jahren sagte Rimbaud, das Dichtergenie, sich nicht nur vom Dichter Verlaine, sondern von der Dichtkunst überhaupt los: »In der Hölle kann man nicht dichten.« Sein Projekt einer antizipatorischen Änderung des Lebens und der Welt durch Wortmagie hielt er für gescheitert.
Nun begann für ihn die Zeit des prosaischen Lebens und der literarischen Prosa. Er setzte nicht mehr auf den Traum von einer anderen Welt, sondern wollte in der bestehenden sein »Glück« machen, nicht mehr dichten, sondern nur noch berichten. In den folgenden 18 Jahren hielt er seine Erfahrungen in der knappen Prosa von Briefen und Berichten fest (die den größeren Teil seiner literarischen Hinterlassenschaft ausmachen). Abermals brach er »ins Unbekannte« auf, nun aber nicht in die imaginäre Welt der ungeahnten Gesichte und der unerhörten Metaphern, sondern in die Weite der wirklichen Welt.
In den Jahren 1875—1880 hielt er sich mit Mühe und Not mit den verschiedensten Gelegenheitsjobs über Wasser, wanderte kreuz und quer durch Europa und fuhr (als Söldner in holländischen Diensten) um die halbe Welt. Was ihn antrieb, war das, was schon den Gymnasiasten zur Flucht aus der französischen Provinz bewogen hatte: die Suche nach dem Abenteuer, nach Unbekanntem und Neuem, nach einem anderen Leben, einer anderen Welt. Und es war die Angst, trotz aller Aufbrüche, Irrfahrten und Strapazen am Ende nirgendwohin zu kommen, jedenfalls nicht heraus aus dem »Bann des bürgerlichen Lebens«. Hatte er zunächst »absolut modern« dichten wollen, so wollte er nun »absolut modern« leben. War der Weg zu einer anderen Gesellschaft, zu einer freieren Lebensform versperrt, dann blieb nur die Möglichkeit, ein abenteuerliches Leben an der Peripherie der (damals) bekannten Welt zu führen und dort
zu versuchen, zu Geld zu kommen.

Kaffeehändler und Waffenschmuggler

War aus dem Kinderpoeten der frühen 70er Jahre ein ruheloser Wanderer und Reisender geworden, so wurde nun, in den 80er Jahren, aus dem Vagabunden ein Kaufmann und ein Entdecker, der vom jemenitischen Aden oder vom abessinischen Harrar aus die somalische Halbinsel, das »Horn von Afrika« bereiste. Er wurde Manager französischer Firmen, die mit Kaffee, Elfenbein, Fellen, Gold, Weihrauch und Moschus handelten; später unternahm er auf eigene Faust Entdeckungs- und Handelsreisen (ins Ogaden) und versuchte sich zuletzt erfolgreich als Waffenschmuggler, also im einträglichsten der kolonialen Geschäfte (abgesehen vom Sklavenhandel). Rimbaud belieferte einen besonders skrupellosen Warlord Äthiopiens, den König von Schoa (der später als Menelik II. äthiopischer Kaiser wurde), mit ausgemusterten Gewehren aus belgisch- französischen Armeebeständen. Seine Hoffnung war es, dadurch in kurzer Zeit ein Vermögen zu machen, um endlich sorglos reisen zu können, nicht mehr als Habenichts, sondern als wohlhabender Rentier.
Was immer er anpackte, gelang ihm. Doch was ihm gelang, schien ihm verächtlich. Wo immer er hinkam, hielt er es bald nicht mehr aus. Gemessen an der Welt, die er sich in seinen Illuminationen erträumt hatte, war die reale stets nur eine andere Art von »Hölle«. Gerade seine Erfolge erschienen ihm als ein besonderes Unglück. Und er hatte Erfolg. Sein jüngster Biograf, Graham Robb, schreibt:
»Gegen Ende des Jahres 1888 drehte sich der größte Teil des Außenhandels im südlichen Abessinien um Rimbaud. Er fungierte als Importeur und Exporteur, als Prospektor und Finanzier, als Mittelsmann für den wichtigsten Waffenimporteur (Savouré), als Agent des ältesten Handelshauses in Aden (Tian & Co.) und als Hauptlieferant für Alfred Ilg, den Chefplaner der neuen Nation König Meneliks.«
Am Roten Meer, das durch den Bau des Suezkanals zu einem neuen Handelszentrum geworden war, belauerten sich damals Ägypten und die europäischen Großmächte. Wer das noch kaum erschlossene und nicht eroberte »Abessinien« unter seine Kontrolle brachte, der hatte auch Zugang zum Inneren Afrikas. Der Entdeckungsreisende und Waffenhändler Rimbaud nutzte diese Situation, um sein »Glück« zu machen. Hören wir noch einmal Robb:
»Indem er eine Ost-West-Route vom Roten Meer zum Stromgebiet des Nils erschloss, gehörte er zur Avantgarde [des französischen] Imperiums, die von Ideen und Gefühlen beseelt war, die zu seinen eigenen im äußersten Gegensatz standen — von gekränktem Patriotismus, Lehnstuhl-Exotismus und dem Streben nach weißer Vorherrschaft. Der eigentliche Witz lag aber darin, dass Rimbaud, der (nach seiner eigenen Schätzung) Meneliks Arsenal um ein Zwölftel vermehrt hatte, damit zur ersten Niederlage beitrug, die eine europäische Nation in offener Feldschlacht gegen eine afrikanische Armee erlitt — Meneliks Sieg über das italienische Heer im Jahre 1896.«
Am Ende seiner Odyssee kehrte der todkranke Europaflüchtling Rimbaud aus der somalischen »Hölle« mit einem Gürtel voll Gold nach Marseille zurück. Zwei Jahrzehnte zuvor hatte er die Welt der Ausbeutung und der Massaker im Hinblick auf die Möglichkeit ihrer Überwindung angeprangert, verbotene und gefürchtete Alternativen dichterisch heraufbeschworen, die innere Zensur durch die Schönheit seiner Lyrik überspielt. Seine Illuminationen sind Fenster im Labyrinth unserer Gegenwart. Er ist der Schutzpatron all derer, die diese Welt ruhelos durchstreifen, auf der Suche nach dem richtigen Wort, dem richtigen Ort, nach der Formel, die alles wendet.

Helmut Dahmer

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