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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, November 2004, Seite 11

10 Years After

Reformruinen und Blockadepolitik in Nordirland

Zehn Jahre nach Verkündigung des ersten unbegrenzten Waffenstillstands der IRA am 31.August 1994 fehlen im Norden Irlands noch immer Menschenrechte, Gleichheit, eine gemeinsame legitime Regierung, eine richtige Polizeireform und die Reduktion der übermächtigen britischen Militärpräsenz. Die jüngsten Verhandlungen zwischen den britischen und irischen Regierungen sowie den nordirischen Parteien in Leeds Castle in England sind ohne Einigung zu Ende gegangen.

Sinn-Féin-Politiker Gerry Adams charakterisierte treffend die administrativ-politische Lage Nordirlands, als er erklärte: »Das nicht gewählte und niemandem rechenschaftspflichtige Northern Ireland Office leitet die six counties wie ein privates Lehen. Britische Minister fliegen für ein paar Stunden in der Woche ein, um Entscheidungen zu unterschreiben, die von Offiziellen des NIO vorformuliert wurden.«
Der Fokus aller demokratischen Kräfte bleibt deswegen die vollständige Umsetzung des Karfreitagsabkommens von 1998 — eines Abkommens, das Gleichheit, Respekt und gegenseitige Wertschätzung sowohl für Unionisten/Loyalisten, wie auch für Republikaner/Nationalisten verspricht.
In diesem Abkommen haben sich die irische und die britische Regierung verpflichtet, »sicherzustellen, dass unabhängig von der Wahl, die die Mehrheit der Menschen in Nordirland in freier Entscheidung trifft, die Regierungsgewalt rigoros unparteiisch ausgeübt wird, für alle Menschen in der Vielfalt ihrer Identitäten und Traditionen, basierend auf den Prinzipien des vollen Respekts für alle Bürger und ihrer Gleichheit, ihren zivilen, politischen, sozialen und kulturellen Rechten, frei von Diskriminierung, in Gerechtigkeit und gleicher Behandlung der Identität, des Ethos und der Wünsche beider Communities.«
Britische Politik toleriert und verfolgt dagegen institutionalisierte Ungleichheit. In der Konsequenz sehen viele Vertreter des politischen Unionismus in Nordirland keine Notwendigkeit, mit ihren irisch-nationalistischen Nachbarn oder deren nationalistischen und republikanischen Vertretern zusammenzuarbeiten. Diese Einstellung wird durch die Tatsache unterstützt, dass der Regierungsapparat, die Symbole und die Führungselite der staatlichen Institutionen vorwiegend unionistisch, d.h. probritisch geprägt sind. Britische Politik erweist sich jedoch als Hindernis dafür, Gleichheit und gegenseitige Wertschätzung zu erreichen und zu praktizieren.

Militarisierung

Neueste Statistiken zeigen, dass die britische Armee und der Police Service of Northern Ireland (PSNI) im letzten Jahr fast 15000 Personen angehalten und durchsucht hat. Etwa 11000 von denjenigen, die durchsucht wurden, wurden von britischen Soldaten aufgehalten.
South Armagh und East Tyrone, zwei fast ausschließlich irisch- nationalistische Gebiete, sind nach wie vor extrem militarisiert. Das Grenzgebiet in South Armagh ist nach wie vor überfrachtet mit Wachtürmen, gewaltigen Militär- und Polizeibarracken und militärischen Helikopterlandeplätzen. Der erst kürzlich erschienene Bericht der International Monitoring Commission macht darauf aufmerksam, dass diese Gegend jeden Monat von mehreren tausend Militärhelikoptern überflogen wird — trotz des Fehlens einer erkennbaren paramilitärischen Bedrohung. Kein einziger Polizist der PSNI und kein einziger britischer Soldat ist seit 1998, seit der Unterzeichnung des Karfreitagsabkommens, durch Paramilitärs ums Leben gekommen.
Zwar folgte dem Waffenstillstand der IRA sechs Wochen später eine Waffenstillstandserklärung des Combined Loyalist Military Command (probritische Paramilitärs der UVF und UDA). Diese beiden größten loyalistischen (probritischen) paramilitärischen Gruppen behielten jedoch ihre Waffen und überziehen nach wie vor in unregelmäßigen Abständen katholische Viertel mit Gewalt. Gewalttätige Auseinandersetzungen gab es in den vergangenen Jahren hauptsächlich in loyalistischen Gebieten, wie z.B. in Ostbelfast oder Norddown. Trotzdem konzentriert die britische Armee ihre Anwesenheit auf die irisch-nationalistischen Viertel. 1996 konnten Katholiken in Mid-Ulster die Gründung der Loyalist Volunteer Force (LVF)miterleben — einer Abspaltung der UVF, die schon bald in Dutzende Mordversuche gegen Katholiken verwickelt war. Man nimmt an, dass die LVF in hohem Maße von Geheimagenten der Polizei RUC und der britischen Armee durchsetzt ist.
Es hängen noch immer viele Fragezeichen über der Polizeireform. Die Geheimpolizei Special Branch, die jahrzehntelang einen Krieg gegen irische Republikaner führte, muss nach Meinung von Sinn Féin erst noch entmachtet werden. Die Partei sagt, sie könne die neuen Polizeistrukturen nicht akzeptieren, solange die Special Branch nicht aus dem Verkehr gezogen und die Hoheit über Justiz und Polizei nicht aus London nach Nordirland transferiert worden ist. Derzeit kann der (in London eingesetzte) Nordirlandminister jederzeit in die tägliche Polizeiarbeit eingreifen.

Menschenrechtspolitik

Bedenkt man, dass in der Vergangenheit die Diskriminierung der irisch nationalistischen Bevölkerung durch den nordirischen Staat zu großem Zuspruch für die IRA geführt hatte, ist sehr erstaunlich, dass sich die britische Regierung so äußerst zögerlich um die Kernpunkte Menschenrechte und Gleichheit kümmert. Die beiden Gremien, die installiert wurden, um sich um Gleichheit und Menschenrechte zu kümmern, erwiesen sich als weitgehend ineffektiv.
Die Human Rights Commission (HRC), die 1999 ins Leben gerufen wurde, wird von irischen Nationalisten wegen des Versagens, ihre Menschenrechte zu schützen, schwer angegriffen. Die Autorität der Kommission wurde völlig ausgehöhlt, als der Vorsitzende Brice Dickson sich auf die Seite des ehemaligen RUC-Chefs Ronny Flanagan und gegen die Eltern der Holy-Cross-Grundschülerinnen stellte. (RUC ist der alte Name der nordirischen Polizei.) Eltern eines der Kinder hatten die Unterstützung der HRC für eine Klage gegen die RUC und ihre Vorgehensweise während der Holy-Cross- Vorfälle gewonnen.
Loyalisten waren damals nicht daran gehindert worden, die Holy-Cross-Kinder auf dem Weg zur Schule zum Spießrutenlaufen zu zwingen. Sie attackierten die Kinder mit Beleidigungen, Urin und Rohrbomben. Dickson schrieb damals privat an Flanagan und versicherte ihm, er stimme nicht mit der Entscheidung der HRC überein, diesen Fall zu unterstützen. Eine parlamentarische Kommission hat mittlerweile die Unabhängigkeit Dicksons wegen dieser Korrespondenz in Frage gestellt.
Die derzeitige Menschenrechtskommission muss erst noch ihr Hauptziel umsetzen, nämlich Rechte verbindlich fest zu schreiben. Vier Mitglieder sind seit der Gründung zurückgetreten und etliche der nationalistischen Mitglieder, die noch nicht zurückgetreten sind, nehmen nicht mehr an Sitzungen teil. Eine Neuorganisation der Kommission ist für dieses Jahr geplant.
Auch der Gleichheitskommission wurde vorgeworfen, dass sie Beschäftigte nicht ausreichend bei ihren Anti-Diskriminierungsvorwürfen gegen Unternehmer unterstützt. Im Jahre 2002 erregte die Kommission Aufsehen, als sie Fällen die Unterstützung entzog, die bereits in Verhandlung waren. Dies führte zum Kollaps etlicher Gerichtsverfahren.
Erst kürzlich wurde enthüllt, dass die Kommission zwar Statistiken zu rassistisch motivierten Gewalttaten führt, aber keine Mechanismen hat, um »sectarian«, also religiös-motivierte Gewalttaten, zu überwachen.

Reformblockaden

Die Reform des Strafrechts lässt ebenfalls auf sich warten. Der für die Überwachung der Reform zuständige Beauftragte hat im Juni berichtet, dass signifikante Reformen noch ausstehen und hat angemahnt, dass die Frage der Reformen nicht Gegenstand der Verhandlungen zur Wiederherstellung der gemeinsamen Regionalregierung sein dürfe.
Die erst kürzlich etablierte Kommission zur Berufung von Richtern soll die Transparenz bei der Einstellung von Richtern in Nordirland verbessern — seit Jahren gehört der Großteil der Richter fest zur unionistischen, d.h. probritischen Elite.
Die neue Wahlgesetzgebung, die angeblich eingeführt wurde, um Wahlbetrug zu unterbinden, hat Zehntausende ihres Wahlrechts beraubt. Nach neuen Statistiken, die auf der jüngsten nordirischen Volkszählung beruhen, war ein Sechstel der Wahlberechtigten nicht in der Lage, bei der Wahl der Regionalregierung im letzten November die Stimme abzugeben. Entweder war der Name aus dem Wahlregister gelöscht worden oder die Identifizierung im Wahllokal war nicht ausreichend.
Wähler sind nun verpflichtet, kontinuierlich (in jährlichem Rhythmus) ihr Wahlrecht neu zu beantragen. Dies trifft vor allem die älteren und die Wähler in benachteiligten Stadtvierteln.
Die Schatten von 1967 zogen schließlich auch auf, als die sozialdemokratische SDLP das nordirische Ministerium für Regionalentwicklung beschuldigte, es würde nationalistische Gebiete bei der Zuweisung von Wohnraum diskriminieren. Gerade diese Form der Diskriminierung war einer der Hauptfaktoren für das Entstehen der Bürgerrechtsbewegung in den 60er Jahren. Und diese Diskriminierung ist heutzutage — nach den Worten der SDLP — noch immer existent.
Die Partei sagt, dass die Pläne des Ministeriums, Schaffung von Wohnraum in vorwiegend katholischen Gebieten zu reduzieren, dazu führen würde, dass junge Nationalisten aus ländlichen Gebieten vertrieben würden. Dies könnte die Stimmenverhältnisse gravierend ändern.
All diese Beispiele zeigen, dass es zu einer effektiven Umsetzung aller geplanten Reformprojekte noch ein langer Weg ist. Nur die demokratische Lösung der konstitutionellen Probleme wie die Wiederherstellung einer direkt gewählten nordirischen Regionalregierung sowie die Etablierung der gesamtirischen Körperschaften werden den Rahmen für einen dauerhaften und tragfähigen Frieden in Nordirland bilden können. Die Blockadepolitik des Northern Ireland Office sowie der stärksten unionistischen Partei DUP verheißt allerdings das Gegenteil.

Paul Stern

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