SoZSozialistische Zeitung

Zur SoZ-
Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, November 2004, Seite 15

Venezuela

Hugo Chávez und die ›bolivarianische Revolution‹

Der heutige Präsident Hugo Chávez Frias ist ein ehemaliger Militär, der angesichts der brennenden sozialen Lage in seinem Land 1992 einen Putschversuch unternommen hatte, der jedoch fehlschlug. 1989 hatte sich die Armut nach IWF-Strukturanpassungsmaßnahmen, die u.a. Preissteigerungen für Lebensmittel von mehreren hundert Prozent nach sich zogen, massiv vergrößert, worauf das Volk mit Aufständen reagierte, die jedoch brutal niedergeschlagen wurden. Damals kamen mehrere hundert Menschen ums Leben.
Auch wenn Chávez nach dem Putschversuch festgenommen wurde, wurde er zu einem Volkshelden, weil er nicht nur in den Zielen mit der Mehrheit der Bevölkerung übereinstimmte, sondern auch die volle Verantwortung für sein Handeln übernahm, ganz im Gegensatz zu den korrupten Herrschern des Landes.
Nachdem Chávez 1994 im Rahmen einer Amnestie freikam, gründete er eine Partei und versuchte seine Ziele über Wahlen zu erreichen. 1998 gelang ihm tatsächlich mit 58% ein phänomenaler Wahlsieg, der 2000 mit 59% bestätigt wurde. Diese Popularität verdankt Chávez ohne Zweifel der Tatsache, dass er sich nicht auf nationalistische und revolutionäre Propaganda beschränkt, sondern tatsächlich nachhaltige Reformen zur Verbesserung der Lebensbedingungen der ärmeren Bevölkerung, die die Mehrheit des Volkes ausmacht, durchführte.

Verfassungspolitik und Armutsbekämpfung

Eines der ersten Reformprojekte der Regierung Chávez war es, eine neue Verfassung mit breitester Beteiligung des Volkes zu erarbeiten, die die Grundlage für eine partizipative Demokratie schaffen sollte. 1999 begann die verfassungsgebende Versammlung ihre Arbeit; außerdem wurden soziale und politische Organisationen und Initiativen aufgefordert, Vorschläge für ihre Bereiche einzubringen und im ganzen Land bildeten sich Diskussionszirkel, um den Prozess zu begleiten.
Wegen der Vielzahl der Vorschläge dauerte der Prozess der Verfassungsgebung ein halbes Jahr. Herausgekommen ist die wahrscheinlich modernste und demokratischste Verfassung der Welt, die die Mitbestimmung und Selbstorganisation der Bevölkerung begrüßt und fördert.
Eines der Mittel dazu ist die Selbstverpflichtung der Regierung, zu allen wichtigen Entscheidungen Volksabstimmungen durchzuführen. Eben dies wurde auch direkt für die Verfassung selbst angewendet: Nachdem der Vorschlag verbreitet und breit diskutiert wurde, wurde er mit über 70% der Stimmen angenommen.
In der Verfassung verankert sind weitgehende Rechte der verschiedenen Bevölkerungsgruppen, z.B. kulturelle, Autonomie- und Landrechte für die indigenen Völker, eine ausdrücklich antirassistische und antisexistische Haltung, die Anerkennung unbezahlter weiblicher Hausarbeit als produktive Arbeit und die Aufnahme von »Nur-Hausfrauen« in die sozialen Sicherungssysteme, Förderung von Umweltschutz und vieles andere.
Die oberste Priorität hat neben der Förderung von demokratischer Mitbestimmung des Volkes die Armutsbekämpfung. Eines der wichtigsten Projekte war die Durchführung einer Landreform und die Einführung eines Gesetzes, das die Enteignung von nicht produktiv genutztem Land ermöglicht. Auf diese Weise erhielten bisher über hunderttausend landlose Familien eigenes Land und viele Kleinkredite.
Neben der Verbesserung der Lage der ländlichen Bevölkerung diente diese Reform auch dem Ziel, die Nahrungsmittelproduktion zu steigern und auf eine Lebensmittelsouveränität hinzuarbeiten, denn Venezuela importiert einen Großteil seiner Nahrung.
Zum Zwecke der Förderung von Frauen wurde eine eigene Frauenbank gegründet, »BANMUJER«, die günstige Kredite vergibt, und zwar ausschließlich an Frauenkooperativen; diese Möglichkeit wurde auch häufig in Anspruch genommen. Auch die Unterstützung von Kooperativen hat zu einem massiven Anstieg dieser kollektiven Organisationen und Unternehmen von 1900 im Jahre 2001 auf über 100000 im vergangenen Jahr geführt. Außerdem wurden und werden seit dem Amtsantritt von Chávez massive Alphabetisierungskampagnen durchgeführt, die Bildung, insbesondere in ländlichen Gebieten gefördert, das Gesundheitssystem ausgebaut, u.a. mit Hilfe Kubas, das Ärzte nach Venezuela entsandte, während gleichzeitig Studierende nach Kuba gingen, um sich dort zu Ärzten ausbilden zu lassen. Auch das Militär wurde zur Unterstützung des Umbaus des Landes und für soziale Aufgaben, wie z.B. Schul- und Straßenbau, herangezogen.

Neue Basisgruppen und Außenpolitik

Diese sozialen und politischen Maßnahmen und die Einbeziehung von Organisationen in den Verfassungsprozess führten auch zur Bildung von neuen Basisgruppen, den sog. Bolivarianischen Zirkeln. Diese wurden tatsächlich nicht, wie ihnen oft unterstellt wird, von oben als Unterstützungsgruppen des Präsidenten gegründet, sondern entstanden 2000 als Eigeninitiative von unten als politische Bildungsgruppen, um die Geschichte des Landes zu lernen und die Verfassung zu diskutieren.
Heute gibt es 200000 dieser Zirkel mit 2,2 Millionen Mitgliedern, die neben politischer Bildung auch Stadtteilarbeit machen, die von politischen Versammlungen und Entscheidungen bis zur Organisation von Kinderbetreuung reicht.
Auch außenpolitisch tat Chávez einiges, um politische und ökonomische Alternativen zu fördern: Als Gegenmodell zu der von den USA vorangetriebenen Freihandelszone ALCA (englisch FTAA), die ganz Nord- und Südamerika umfassen soll, schlug er einen Plan namens ALBA vor, der die regionale Integration und Kooperation der lateinamerikanischen Länder insbesondere in der Andenregion vorsieht, um sich von den ungleichen Strukturen des Welthandels zu lösen und Unabhängigkeit und Souveränität zu fördern.
Natürlich stießen diese Pläne bei den USA, die sich durch die ALCA-Verträge und »Entwicklungs«- und Aufstandsbekämpfungspläne wie dem Plan Colombia oder dem Plan Puebla-Panama mehr Einfluss auf ihren traditionellen Hinterhof sichern wollten, auf wenig Gegenliebe.
Auch die Tatsache, dass Chávez die Zeit als Vorsitzender der OPEC (Organisation der erdölexportierenden Staaten) nutzte, diese aus der Vergessenheit zu holen und den Ölpreis von dem historischen Tiefstand von 3,20 Dollar auf Preise zwischen 22 und 28 Dollar hochzutreiben (auch wenn dieser Anstieg neben der Fördermengendrosselung der OPEC-Staaten auch noch andere Ursachen hat), machte Chávez sich in der US-Regierung nicht gerade Freunde.
Grund zur Besorgnis haben die USA genug: Schließlich ist Venezuela viertgrößter Erdölexporteur der Welt und das Land mit den größten Schwerölreserven. Viel wichtiger ist jedoch die Befürchtung, dass das Beispiel Venezuelas Schule machen könnte. In immer mehr Ländern erstarken soziale Bewegungen, die oft nicht nur den Neoliberalismus, sondern zunehmend auch den Kapitalismus insgesamt in Frage stellen. Argentinien, Ecuador und Bolivien sind nur einige der Länder, die immer wieder von Aufständen erschüttert werden und in denen soziale Bewegungen erhebliche Macht gewonnen haben.
Außerdem sind in Brasilien und Ecuador ebenfalls zumindest sozialdemokratische Regierungen an die Macht gekommen, die zwar innenpolitisch eher für Enttäuschungen gesorgt, aber trotzdem den neoliberalen Durchmarsch etwas behindert haben.
In Venezuela selbst gibt es auch eine starke Opposition, die zwar zahlenmäßig weitaus geringer ist als die Zahl der Chávez-Anhänger, aber durchaus einflussreich ist. Sie umfasst neben weiten Teilen der Mittelklasse vor allem das Unternehmertum, konservative Gewerkschaften und die privaten Medien. Mit dem uralten Argument, dass Chávez das Land in den »Kommunismus« treibe, mobilisiert die Opposition ihre Anhänger.

Der innenpolitische Graben wächst

So absurd es klingt, mit dem Gespenst des Kommunismus zu drohen, dahinter steht die durchaus berechtigte Angst, eigene Privilegien verlieren zu können.
Zwar hat Chávez bisher nichts getan, das der Oberschicht des Landes ernsthaft weh tun könnte, keine Enteignungen und Verstaatlichungen, keine harten Besteuerungen, dennoch hat sich das Klima im Lande gewandelt und der Transformationsprozess greift tief. Ebenso tief ist auch der Graben zwischen beiden Lagern.
Vor zwei Jahren mobilisierte die Opposition zu Protesten gegen die Regierung und nutzte die Situation, um Chávez gefangen zu nehmen und eine gefälschte Rücktrittserklärung zu verbreiten. Die erste Amtshandlung des selbsternannten Übergangspräsidenten, des Unternehmers Pedro Carmona, bestand darin, die Verfassung außer Kraft zu setzen und das Parlament aufzulösen.
Doch hatte die Opposition nicht mit der prompten Reaktion der Chávez- Anhänger gerechnet: Kaum dass sich die Meldungen mit dem angeblichen Rücktritt von Chávez verbreitet hatte, versammelten sich Hunderttausende Menschen, vor allem aus den Armenvierteln, an den Hängen von Caracas vor dem Präsidentenpalast Miraflores. An einen Rücktritt von Chávez wollte niemand glauben.
Schließlich gab die unter Druck geratene Opposition den Aufenthaltsort von Chávez bekannt, der in einer Festung gefangen gehalten wurde, woraufhin er in einer filmreifen Szene von Militärs befreit und per Hubschrauber zurück gebracht wurde.
Nach seiner Rückkehr gab sich Chávez versöhnlich und schlug Verhandlungen und einen Dialog vor. Doch noch immer gab sich das Oppositionsbündnis nicht geschlagen. Mittels eines Streiks in der Erdölindustrie versuchte es, die Regierung an ihrer empfindlichsten Stelle zu treffen, ihrer Abhängigkeit von ausländischen Devisen aus dem Ölmarkt. Auch wenn es sich faktisch weniger um einen Streik als um eine Aussperrung der Arbeiter durch die Bosse und Techniker handelte, richtete er einen Schaden von mehreren Milliarden Dollar an.
Die Opposition spricht von Chávez als »kommunistischem Diktator«, der aus Venezuela ein zweites Kuba machen will, die CIA befürchtet den »Dominoeffekt«, der ihnen schon zu Zeiten des Kalten Krieges den Vorwand zum Eingreifen gab. Die Argumentation ist, dass, wenn ein Land dem »Kommunismus« anheim fällt, die Gefahr des Übergreifens auf andere Länder in der Region besteht, bis schließlich alle umkippen wie Dominosteine. Daher muss das »betroffene« Land schleunigst unschädlich gemacht werden, notfalls mit Gewalt. Mit diesen Szenarien arbeitet die CIA auch heute noch.
Obwohl Chávez seit 1998 sieben Wahlen und Volksabstimmungen gewonnen hatte, drängte die Opposition auf eine erneute Abstimmung. Diese Möglichkeit einer vorzeitigen Abwahl des Präsidenten ermöglicht die neue Konstitution. Dieses Referendum wurde am 15.August durchgeführt. 14 Millionen Wahlberechtigte waren dazu aufgerufen, über einen vorzeitigen Rücktritt von Chávez abzustimmen. Viele Menschen warteten seit 2 Uhr morgens in langen Schlangen, die bis zum Mittag oft auf über einen Kilometer anwuchsen, auf die Abstimmung.
Aufgrund technischer Probleme, vor allem durch die Einführung eines neuen elektronischen Wahlsystems, musste die Wahlzeit mehrmals verlängert werden, zum Teil warteten Menschen noch bis Mitternacht auf die Stimmabgabe. Statt um 6 Uhr abends wurde das Ergebnis erst um 4 Uhr morgens bekannt gegeben: Es ergab einen klaren Sieg von Chávez, 58,25% hatten für das Nein (zu seinem Rücktritt) gestimmt, 41,75% dagegen.
Hatte Chávez vor dem Referendum erklärt, das Ergebnis in jedem Fall zu respektieren, galt dasselbe für die im Bündnis der »Demokratischen Koordination« zusammengefasste Opposition nicht. Ungeachtet des Fakts, dass zahlreiche internationale Wahlbeobachter und selbst das bestimmt nicht Chávez-freundliche Carter- Center des ehemaligen US-Präsidenten Jimmy Carter die Rechtmäßigkeit der Abstimmung anerkannte, focht die Opposition das Ergebnis als angeblichen »Wahlbetrug« an und mobilisierte ihre Anhänger auf die Straße.
Bei den Zusammenstößen zwischen Chávez-Anhängern und -gegnern kam am Tag nach den Wahlen eine Person ums Leben und mehrere wurden verletzt. Bei den Tätern soll es sich um Chavistas handeln, da sie entsprechende Symbole trugen. Am Wahltag selber starben vier Menschen bei Unfällen und Schießereien.
Ohne Zweifel bleibt die Situation weiter angespannt und kritisch. Die Menschen sind stark politisiert und polarisiert, wobei die Spaltung hauptsächlich, wenn auch nicht nur, entlang von Klassenlinien verläuft. Beide Seiten stehen sich ziemlich unversöhnlich gegenüber. Der erneute Vorschlag eines Dialogs mit der Opposition und Verhandlungen stößt bei den meisten auf wenig Gegenliebe, am wenigsten bei Chávez‘ radikalsten Anhängern. Vielen geht der Prozess zu langsam, sie fordern eine Vertiefung und Radikalisierung der »Bolivarianischen Revolution« statt erneuten Zugeständnissen an die Opposition.
Damit befindet sich Chávez in einem Dilemma. Er will mit seinen Gegnern verhandeln, um der Polarisierung und Spaltung entgegenzuwirken und das Land außenpolitisch nicht zu stark zu isolieren, und gleichzeitig seine eigenen Anhänger nicht enttäuschen, die auf eine Radikalisierung drängen. Beides wird schwer möglich sein. Deshalb wird der entscheidende Kampf nicht auf Regierungsebene, sondern auf der Straße entschieden.
In dieser zentralen Phase ist die Unterstützung und Solidarität anderer Länder fundamental wichtig. Den Venezolanern ist zumeist durchaus bewusst, dass der Kampf für eine menschenwürdige Gesellschaft nicht allein in ihrem Land geführt und entschieden wird, sondern dass Venezuela eine der Vorreiterrollen des Kampfes inne hat. Das Bewusstsein für die Verbundenheit der Kämpfe ist in Lateinamerika sehr ausgeprägt, und zunehmend entstehen durch Vernetzungsprozesse auch reale und praktische Verbindungen und koordinierte Kämpfe.

Miriam Fischer

Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch. Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50,
Kontonummer 603 95 04


zum Anfang