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Als er Ende 1950 aus dem ostdeutschen Halle an der Saale Richtung Westberlin flüchten musste,
ließ Leo Kofler große Hoffnungen zurück. Mit sich führte er allerdings ein Buchmanuskript, das, wie man so sagt, seine
eigene Geschichte hat und dessen Neuauflage im DKP-nahen Neue Impulse Verlag theoriepolitisches Interesse verdient.*
Der an Max Adler und Georg Lukács geschulte Österreicher war nach seiner Schweizer Emigration »mit
größter Begeisterung« nach Halle gekommen und hatte sich dort »außerordentlich wohl« gefühlt, wie er
sich später erinnern sollte, »viel besser als in der Schweiz, wo ich genügend zu essen hatte, während das Leben in Halle
zunächst voller Entbehrungen war. Aber ich habe mich sehr wohl gefühlt. Das war für mich die neue Heimat. Ich dachte: Hier
hast du endlich Sozialismus! Mein Traum schien erfüllt.«
Im Januar 1950 war dieser koflersche Traum jedoch geplatzt. Niemand
geringeres als der SED-Cheftheoretiker Fred Oelssner hatte ihn auf einer großen landesweiten FDJ-Tagung als »Trotzkisten«
entlarvt: »Ist es nicht klar«, führte Oelssner dem still gewordenen Publikum aus, »dass an der Hallenser Universität
unter der Maske wissenschaftlicher Interpretation des Marxismus sowjetfeindliche Konterbande eingeschmuggelt wird? Und ist es nicht an der
Zeit, dass die fortschrittlichen Studenten in Halle dazu übergehen, gegen die Träger dieser sowjetfeindlichen Konterbande einen
energischen ideologischen Kampf aufzunehmen? Ich glaube, auch das ist eine Aufgabe der FDJ-Hochschulgruppe an dieser
Universität.«
Ein dreiviertel Jahr hatten bis dahin die jungen SED-Kaderphilosophen
gebraucht, Kofler »abzuschießen« und es sollte ein weiteres dreiviertel Jahr dauern, bis das von Oelssner verkündete
politische Todesurteil im Rahmen der Hallenser Kampagne zur Formierung der »Partei neuen Typs« vollstreckt und der Professor
für Geschichtsphilosophie sowie mittlere und neuere Geschichte vertrieben werden konnte. Bis dahin hatte der leidenschaftliche
Bürokratiekritiker Kofler noch auf die Fortsetzung seiner ostdeutschen Universitätslaufbahn gehofft und jene theoretische
Verteidigungsschrift gegen die stalinistischen Angriffe weitgehend vollendet, die er später Geschichte und Dialektik. Zur Methodenlehre der
dialektischen Geschichtsbetrachtung betiteln sollte.
Vordergründig der Versuch, »die Geschichtswissenschaft erkenntnistheoretisch zu unterbauen«, ist Geschichte und
Dialektik vor allem eine thematische Vertiefung von Koflers 1944 veröffentlichtem Erstlingswerk Die Wissenschaft von der Gesellschaft.
Umriss einer Methodenlehre der dialektischen Soziologie. Beide Schriften sind soziologisch oder geschichtswissenschaftlich nur im groben Sinne.
Faktisch sind es vor allem Einführungsschriften in die marxistische Methodologie. Und diese Methodik ist wesentlich gekennzeichnet durch
die Rekonstruktion einer marxistischen Dialektik, die zwischen Theorie und Praxis, Basis und Überbau, Ideologie und Ökonomie nicht
mechanisch trennt. »Die mechanistische Deutung des historischen Materialismus übersieht«, so Kofler, »dass trotz der
Bestimmtheit der Ideologie durch die Ökonomie der historische Gesamtprozess seine Bewegung nicht anders vollziehen kann als mittels der
Ideologie, die eben ein wesentliches, zu seiner Gesetzlichkeit selbst gehörendes Moment dieses Prozesses darstellt.«
Gesellschaftliches Leben begreift sich für Kofler im Ideologischen selbst
und zwar unabhängig davon, ob dieses Denken richtiges oder falsches Bewusstsein ist. So betrachtet bekommt auch das
offensichtlich falsche Bewusstsein eine eminent praktische Wirkung und Bedeutung, denn solcherart Ideologie ist eine Form des
Sichbewusstwerdens der Gesellschaft. »Es kann somit«, formuliert Leo Kofler in Zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft
(1948) sein geschichtswissenschaftliches Credo, »nicht allein darauf ankommen, den Schein zugunsten der Erkenntnis des Wesens
aufzulösen, sondern ebenso, ihn als Schein in seiner historischen Funktionalität und damit Notwendigkeit zu erklären.«
Im Großen und Ganzen ist Leo Kofler hiermit integraler Teil jener
faszinierenden und durchaus heterogenen intellektuellen Strömung der 30er/40er Jahre, die manche die neue hegelsche Linke und andere
den »westlichen Marxismus« genannt haben. Deren historisches Verdienst ist, bei aller möglichen Kritik im Detail, dass sie das
marxistische Denken aus den intellektuellen und politischen Sackgassen des sozialdemokratischen und stalinistischen Marxismus befreit, und den
subjektiven Faktor, die Rolle des Bewusstseins im gesellschaftlichen Sein, zurückerobert hat. Auch Kofler rekonstruiert das, was man die
»relative Autonomie des Ideologischen« nennen kann, und was später, bspw. im Althusserianismus der 70er und 80er Jahre,
ihre durchaus nicht unproblematische Renaissance erfahren hat, um im sich fast schon organisch daran anschließenden Postmodernismus
vollkommen zu pervertieren. Diesen Weg der weitgehenden Verselbstständigung des Ideologischen in die Welt frei flutender Diskurse hat
der Marxist Kofler natürlich nicht mitgemacht. Trotzdem kann er als einer der Ahnherren dieser Theoriediskussion gelten.
Allerdings bot sich erst 1955 ein Verleger für Geschichte und Dialektik an,
und zwar ausgerechnet der kleine, von Ost-Berlin finanzierte Hamburger Kogge-Verlag. Ob Kofler über die Hintermänner des
Verlages Bescheid wusste, ist unklar. Auf jeden Fall sollte die Veröffentlichung im Kogge-Verlag dazu führen, dass sich seine
linkssozialistischen Genossen Ende 1955 von ihm trennten. Die Redaktion der SoPo, der Sozialistischen Politik (Wolfgang Abendroth, Theo
Pirker, Peter von Oertzen, Erich Gerlach u.a.), zerschnitt das langjährige Tischtuch, weil, so der SoPo-Redakteur Georg Jungclas, selbst
»die geringste nachweisliche Verbindung der sozialistischen Linken zu stalinistischen Unternehmungen sich zu einem großen
Schaden der Linken auswirkt«. Zudem hatte Kofler in seinem Vorwort (hier ebensowenig wieder aufgelegt wie das damalige Nachwort) in
für ihn in der Tat ungewöhnlicher Diktion von »jenem abgesplitterten Teil« Deutschlands gesprochen, »in welchem
der Marxismus die weltanschauliche Grundlage bildet und daher selbstverständlich zu Wort kommt« eine Formulierung, die
darauf schließen lässt, dass Kofler wusste, wem er hier zu danken hatte.
In dieser historischen Anekdote verdeutlicht sich die Ambivalenz des koflerschen Buches. Koflers theoretisch versierter, radikaler
Antistalinismus war zeitlebens gekoppelt mit mal mehr, mal weniger weitgehenden reformkommunistischen Hoffnungen. Dass Geschichte und
Dialektik, anders als seine kurz danach, 1951/52, verfassten stalinismuskritischen Schriften (u.a. Das Wesen und die Rolle der stalinistischen
Bürokratie), auch reformkommunistisch gelesen werden kann, liegt sicherlich an dessen aus der Entstehungsgeschichte erklärbaren
Begrenzung auf die rein theoretische Kritik.
Andererseits ist die in Geschichte und Dialektik zentral entfaltete Rekonstruktion
einer Subjekt-Objekt-Dialektik strukturell unvereinbar mit jenem erziehungsdiktatorischen Substitutionismus, durch den sich nicht nur der
historische Hoch- und Spätstalinismus ausgezeichnet hat. Wo es dem Bewusstsein nicht nur um den mechanischen Nachvollzug eines sich
im Politbüro verkörpernden objektiven Weltgeistes geht, da müssen sich Gedanke und Tat danach befragen lassen, was sie in
den Köpfen der Menschen anrichten. Wo es um die Emanzipation der Menschen aus ihrer Unterworfenheit unter scheinbar anonymes
Schicksal geht, da müssen sich Mittel und Wege mit den Zielvorstellungen in einen dialektischen Zusammenhang bringen lassen. Wo sich
eine herrschende Schicht oder Kaste auf den Sozialismus beruft, da muss sie sich befragen lassen, ob sie diesem Ziel wirklich näher zu
kommen vermag. Die Geschichte hat hier, marxistisch betrachtet, ihr Urteil gesprochen: Weder Stalinisten noch Reformkommunisten haben Recht
behalten.
Nicht gerade kofleristisch ist deswegen, wenn der bekennende Kofler-
Schüler Werner Seppmann in seinem Nachwort zur Neuauflage den antibürokratischen Charakter von Geschichte und Dialektik zuerst
herunterspielt, um sodann mindestens missverständlich zu formulieren, Kofler hätte in der DDR auch noch nach seiner Flucht
»das Land des sozialistischen Aufbaus« gesehen. Geradezu kurios wird es allerdings, wenn er Koflers Auseinandersetzung mit
dogmatischen Dialektik-Konzeptionen explizit zum »Beginn einer Selbstemanzipation der DDR-Philosophie« erklärt, »die
immer wieder Rückschritte erlitten hat, aber letztlich nicht zu verhindern war«. Die Emanzipation einzelner Ex-DDR-Philosophen sollte
nun wirklich nicht mit der Selbstemanzipation einer bürokratischen Staatsphilosophie verwechselt werden.
Mehr noch als den Ambivalenzen des koflerschen Antistalinismus dürfte
diese philosophiegeschichtliche Einordnung den Interessen der heutigen Herausgeber geschuldet sein. Im Restmilieu der
»kommunistischen« Bewegung scheint sich einiges zu tun. Während einerseits Rechtfertigungslehren des historischen
Stalinismus fröhliche Urständ feiern, arbeiten andererseits führende DKP-Aktivisten solidarisch mit Linkssozialisten und
Trotzkisten in einem Freundeskreis der Europäischen Antikapitalistischen Linken zusammen. Namhafte DKP-Theoretiker diskutieren mal
mehr, mal weniger angeregt und solidarisch mit »Trotzkisten« und »Brandleristen«. Und der DKP-Verlag gibt Leo Kofler
heraus…
Wir haben es hier mit einer theoriepolitischen Gemengelage zu tun, die
derjenigen von Mitte der 50er Jahre nicht unähnlich ist. Und erneut bietet der sich in Figuren wie Kofler und Abendroth verkörpernde
Strang eines antistalinistischen Linkssozialismus, der als Kind der Volksfrontperiode trotz teilweise harter Kritik zugleich an die Reformierbarkeit
des ehemals »real existierenden Sozialismus« glaubte, als ein möglicher Brückenschlag zwischen den heterogenen
Strömungen der sozialistischen Linken an.
Der die bürokratisch-halbherzig betriebene Entstalinisierung begleitende
Brückenschlag von 1955 scheiterte allerdings mit der Restalinisierung der offiziellen kommunistischen Bewegung ab 1956/57 in der Folge
der Niederschlagung des Aufstands in Ungarn. Bei Kofler führte dies zur Reaktivierung eines ausgesprochen scharfen Antistalinismus und
zur Hinwendung zu jener sich damals gerade entwickelnden Neuen Linken, deren Aufstieg er als einer der weltweit ersten marxistischen Denker
wahrgenommen und als neue »progressive Elite« geradezu geschichtsphilosophisch gerechtfertigt hat. Umso
interessanter wird es sein, ob und wieweit sich die »postkommunistische« Szene mit der Schrift eines Autors auseinandersetzen wird,
der nicht zu Unrecht bis zum bitteren Ende der DDR auf deren schwarzer Liste stand.
Christoph Jünke
*Leo Kofler: Geschichte und Dialektik, Essen: Neue Impulse, 2004, 239 Seiten, 15,80 Euro.X2
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