SoZSozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Dezember 2004, Seite 11

Reportage vom ESF in London

Süße Kakofonie

Sweet cacophonia! An Stimmenvielfalt mangelt es nicht auf dem diesjährigen European Social Forum (ESF) in London. Zwei Großveranstaltungen werden, aus unterschiedlichen Gründen, gestört oder gesprengt. Schon bei der Eröffnung am Donnerstagabend zeigten die Veranstalter sich überfordert oder überrollt: 900 Leute passten in die Halle im Stadtzentrum von London, aber 6000 standen vor den Türen im plätschernden Regen und machten ihrem Unmut Luft.

Auch wenn es sich einige erhofft hatten: Die Teilnehmerschaft an der europaweiten Debatten- und Austausch-Versammlung lässt sich nicht so einfach für eine »Linie« vereinnahmen. Nichtsdestotrotz sind natürlich diverse Parteien und politische Gruppen präsent, darunter auch einige skurrile Sekten. Den größten Lacherfolg verzeichnet ein Grüppchen von Maoisten der »Weltbewegung der Volkswiderstände«. An ihrem Stand prangen Plakate in grellem Gelb: »Eine bessere Welt ist möglich: Schaut nach Nepal — eine bessere Welt im Entstehen«, heißt es dort mit Bezug auf die maoistische Bauernguerilla im Himalayastaat.
Insgesamt sind an die 20000 Menschen angereist, die sich gleich mit diversem Infomaterial eindecken können: Die Landminenkampagne wirbt für ein Produktions- und Exportverbot dieser Waffen; Flüchtlings- und Asylgruppen protestieren gegen die Unmöglichkeit für »illegale« Einwanderer aus der ganzen EU, zu dem Forum auf der britischen Insel anzureisen; Bürgerrechtsgruppen berichten von Plänen zur Einrichtung zentraler Datenregister; Prekärengruppen vertreiben preisgünstige Videos über die Kämpfe von »intermittents du spectacle« in Frankreich, streikende McDonald‘s- Beschäftigte oder koreanische Telekom-Arbeiter.

Freitagmorgen auf dem ESF: Von nebenan hört man den Redner einer anderen Versammlung agitieren — die meisten Veranstaltungen im Alexandra Palace, dem riesigen Kongresszentrum im Norden der britischen Hauptstadt, sind nur durch provisorische Stellwände in halber Raumhöhe voneinander abgetrennt. Geht es nebenan um die »Organisierung migrantischer Arbeiter« sowie um »Bürgerrechte und den Krieg gegen den Terrorismus«, soll bei uns der Frage nachgegangen werden: »Ist Europa eine Alternative zur US-Hegemonie?«
Der ägyptische Marxist Samir Amin eröffnet die Runde mit einem Statement, demzufolge die Konkurrenz zwischen Europa und den USA zwar nicht automatisch progressive Perspektiven eröffne, es wohl aber möglich sei, Europa mit »einem anderen sozialen Inhalt« und »einer anderen Politik gegenüber dem Süden« zu verbinden. Das wollen die anderen Podiumsteilnehmer nicht so sehen. Der britische Politikwissenschaftler Alex Callinicos warnt vor einer Gut-Böse-Einteilung zwischen der EU und den USA: Mit der europäischen Geschichte seien auch der Sklavenhandel und der Holocaust verknüpft, und zu den USA gehörten »nicht nur Bush und christliche Fundamentalisten«, sondern auch »die Radical Republicans, die gegen die Sklaverei aktiv waren, und die Bürgerrechtsbewegung«. Seine Schlussfolgerung: »Statt für ein soziales Europa sollten wir für eine sozialistische Welt kämpfen.«
Einen weiteren argumentativen Schlagabtausch liefern sich Callinicos und Michael O‘Brian vom irischen Anti-War-Movement. Callinicos, der auch der britischen Socialist Workers Party (SWP) angehört, bezieht sich ohne nähere Differenzierung positiv auf alle »Strömungen des irakischen Widerstands«, nimmt davon allerdings die Gruppe des jordanischen Islamisten Abu Mussab al-Zarqawi aus; deren »barbarische Akte« seien allerdings vielleicht von Geheimdiensten inspiriert. Dagegen will O‘Brian sich explizit nur auf »die säkularen und progressiven Kräfte im Irak« beziehen, nicht aber auf »jene, die dem iranischen Modell nacheifern wollen«.

Annick Coupé von den französischen linksalternativen SUD-Gewerkschaften eröffnet die Debatte der europäischen Gewerkschaftslinken mit einem kritischen Rückblick: Auf dem letztjährigen ESF seien gemeinsame europaweite Aktionstage gegen den Sozialkahlschlag beschlossen worden. Aber nichts sei wirklich passiert. Man solle daher damit aufhören, einmal jährlich die Aktionseinheit feierlich zu beschwören, und endlich konkret zur Zusammenarbeit übergehen. Prompt wird eine Liste ausgelegt, um die Mailadressen zu sammeln.
Piero Bernocchi assistiert: Es sei höchste Zeit für neue Initiativen in der Arbeitswelt, denn die traditionellen Gewerkschaften stellten ihr Versagen kräftig unter Beweis — wegen ihrer Bindung an die Sozialdemokratie und ihrer Unfähigkeit, neben den Kernbelegschaften auch den Prekären gleiche solidarische Perspektiven zu geben.
Britische Gewerkschaftslinke berichten von den tiefen Spaltungen und neuen Kampfperspektiven, welche die Sozial- und Kriegspolitik Tony Blairs verursache und eröffne. Gewerkschafter aus der Slowakei treten aus dem Publikum ans Mikrofon und berichten, dass und wie ihr Land zum »Laboratorium« moderner Ausbeutungsformen und Prekarisierung werde. Besonders österreichische Firmen hätten im Rahmen der EU-Erweiterung die Slowakei als verlängerte Werkbank entdeckt und dort massiv Firmen aufgekauft. Sie berichten ebenso davon, wie in einer Firma mit 12000 Mitarbeitern die Initiative zur Gründung einer unabhängigen Gewerkschaft ergriffen wurde, die binnen drei Tagen mehr Mitglieder zählte als die »offizielle« Gewerkschaft.

Am Abend steht mit »Die Okkupation des Irak beenden« ein Thema auf der Tagesordnung, das stark im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Doch die Debatte findet nicht statt. Neben britischen und polnischen Vertretern sitzen auch zwei Iraker auf dem Podium, einer von ihnen ist Subhi Al Mashadani vom Gewerkschaftsverband Iraqi Federation of Trade Unions (IFTU). Die IFTU steht der irakischen KP nahe, die der Provisorischen Regierung angehört. Und für einige im Saal steht es schon vor der Debatte fest: Al Mashadani ist ein Verräter und Kollaborateur, den man deswegen besser gar nicht erst zu Wort kommen lässt.
100 bis 150 Leute von diversen Splittergruppen brüllen die Diskussionsleitung nieder, während 3000 Leute zuhören wollen und auf die Stühle steigen. Nachdem die Situation eskaliert, entscheidet sich die Veranstaltungsleitung für den geordneten Rückzug. Die SWP, deren Sprecher Alex Callinicos in der morgendlichen Debatte im Vorgriff auf den Abend ebenfalls von einem »Kollaborateur« auf dem Podium gesprochen hatte, steht dabei auf Seiten derer, die die Debatte stattfinden lassen wollen, zumal sie auf dem Podium vertreten ist. Lindsay German, eine energische Rednerin, die für die britische Stop the War Coalition (aber zugleich auch für die SWP) spricht, meistert die Situation, indem sie das Gewirr im Saal mit ihrer mächtigen Stimme übertönt und eine Rede über Tony Blairs Kriegslügen hält, der niemand im Saal widersprechen wird. Daraufhin wird die Veranstaltung abgebrochen, die mit einem Punktsieg für Lindsay German endet.

Am folgenden Tag betrachte ich die Dinge vorübergehend vom Podium aus: Am Samstagmittag geht es bei einem Seminar im Londoner Innenstadtbezirk Bloomsbury um »Globalisierungsdiskurs und extreme Rechte«. Neben der Situation in Deutschland, Österreich und Frankreich, wo die extreme Rechte das Thema »Globalisierung« mit eigenen Inhalten, sprich: Verschwörungstheorien, in Beschlag zu nehmen versucht, geht es vor allem auch um die Situation in Osteuropa. Dort ist es Rechtsextremisten teilweise gelungen, in die globalisierungskritische Bewegung einzudringen, wie ein — mittlerweile beendeter — rechter Übernahmeversuch bei Attac Polen zeigt. Wie nötig die Auseinandersetzung allerdings bleibt, zeigt der Redebeitrag einer Russin, die unter nationalrevolutionärem Einfluss zu stehen scheint und paranoide Weltverschwörungsthesen verbreitet: Der »NATO-Faschismus« wolle die Welt beherrschen und deswegen den Leuten »Identity Chips« unter die Haut verpflanzen.
Später geht es im Alexandra Palace um »den Kampf für Demokratie und gegen den Krieg im Nahen und Mittleren Osten«. Die Ägypterin Aida Seif el-Dawla berichtet von der harten Repression gegen Antikriegsaktivitäten in ihrem Land. Zwei Frauen aus dem Iran, eine Schriftstellerin und die Vertreterin einer regierungsunabhängigen Frauenorganisation, berichten von der Repression im »Gottesstaat«, aber auch von der Existenz einer widerständigen »Zivilgesellschaft« und dem notwendigen Kontakt zu westlichen Frauenbewegungen.
Beide tragen ein Kopftuch, vermutlich jedoch aus Sicherheitsgründen, weil ihnen sonst im Iran schlimme Konsequenzen drohen könnten, wenn sie ohne Verhüllung fotografiert würden. Zwei Stunden später jedenfalls treffe ich die beiden Frauen wieder, dieses Mal beide ohne Kopftuch. Und die Anliegen, die sie vortragen, sind durchweg säkular. Gleichzeitig betonen sie: »Unsere Gesellschaft ist erwachsen, wir brauchen keinen Bush, der uns die Demokratie von oben bringt.«
Am Abend ist noch eine Großveranstaltung zum Thema »Rechtsextremismus in Europa« angesetzt, die jedoch nachhaltig gestört wird. Denn 200—400 Anarchistinnen und Basisaktivisten stören sich daran, dass der Londoner Bürgermeister Ken Livingstone als Redner angekündigt ist, der zu seinem Antirassismusprojekt sprechen soll. Aus ihrer Sicht geht die Institutionalisierung des ESF damit zu weit, zumal das Londoner Rathaus einen Gutteil der Kosten in Höhe von 400000 Pfund (umgerechnet 580000 Euro) übernommen hatte, wovon vor allem die Drei-Tages-Fahrtkarten für den Großraum London spendiert wurden. Livingstone taucht jedoch nicht auf, und so kann das Plenum mit halbstündiger Verspätung doch noch stattfinden.

Am Samstagabend, zeitgleich mit dem beeinträchtigten Rechtsextremismus-Forum, geht es einige Trennwände weiter um »Arbeit und soziale Rechte: Kollektive Rechte gegen Prekarisierung, Ausbeutung und Deregulierung«.
Barbara Radziewicz von der polnischen Arbeitslosenunion leitet die Diskussion und plädiert im Angesicht der Standorterpressung des Kapitals für eine verstärkte internationale Zusammenarbeit der Arbeiterbewegung. Die indische Gewerkschafterin Meena Menon plädiert in einem mitreißend vorgetragenen Beitrag gegen ein »Wir gegen Euch«, etwa in der Form, dass Gewerkschafter im »Norden« die Arbeiter in jenen Ländern des »Südens«, in die Produktionszweige ausgelagert werden, als ihre Konkurrenten betrachten. Der Druck, unter den das Kapital die Arbeitskräfte durch systematisches Ausspielen der sog. Standortkonkurrenz setze, laste stattdessen genauso auf den Arbeitern im »Süden«.
Wer bspw. in Indien in blinder Euphorie die »Schaffung von Arbeitsplätzen«, etwa durch die Auslagerung von Informatik- oder Servicebetrieben (Call Centers usw.), begrüße, übersähe nicht nur die damit oft verknüpfte Arbeitsplatzvernichtung andernorts, sondern vor allem auch, »dass hier keine dauerhafte Beschäftigung geschaffen wird: Diese Industrien können weiterziehen, wenn die kurzfristigen Chancen auf schnellen Profit erschöpft sind«. Das gehe auf Kosten der Schaffung einer lebensfähigen Nationalökonomie in der Dritten Welt. Gewerkschaftliche Organisierung unter den Mitarbeitern der Softwareentwickler und Informatikbetriebe sei zudem notwendig, aber bisher oft schwer, »da hier oft die Kinder der Mittelklasse mit Universitätsabschluss eingestellt werden, die ohne Bezug zu kollektiver Solidarität sind, wenn sie auf den Arbeitsmarkt kommen«.
Francine Blanche von der französischen CGT berichtet ihrerseits von ihrer Tätigkeit im Konzernbetriebsrat eines multinationalen Unternehmens. In Frankreich, sagte sie, würden Arbeitsplätze vernichtet mit dem Argument, sie würden nach Ungarn verlagert. »Aber dann erhalten wir Telefonanrufe aus Ungarn, die uns darüber informieren, dass dort auch Arbeitsplätze abgebaut werden, weil das Produzieren in der Ukraine noch billiger sei. Aus der Ukraine erhalten wir Anrufe, denen zufolge dort ebenfalls Arbeitsplätze vernichtet werden, weil man in Indien noch billiger herstellen könne. Aus Indien wiederum werden wir darüber informiert, dass dort dasselbe passiere, weil China noch billiger sei. Aber wenn wir China am Telefon haben, werden wir davon unterrichtet, dass auch dort Arbeitsplätze abgebaut werden, weil man mit weniger Leuten noch kostengünstiger produzieren könne.« Ein Spiel ohne Grenzen, bei dem unter den Arbeitskräften eigentlich nur Verlierer entstehen…

Am Sonntag schließt das ESF mit einer »Versammlung der sozialen Bewegungen«, die den nächsten Aktionskalender beschließt. Im kommenden Februar soll gegen den NATO-Gipfel in Nizza demonstriert werden. Vor allem aber soll es ein gemeinsames Aktionswochenende am 19./20.März 2005 geben, mit einer zentralen Demonstration am Samstag in Brüssel gegen die »Lissabon-Agenda«: Vor zwei Jahren beschloss ein EU-Gipfel in der portugiesischen Hauptstadt einen Fahrplan zur »Flexibilisierung des Arbeitsmarkts«. Gleichzeitig soll es am Sonntag, dem 20.März, Mobilisierungen zum dritten Jahrestag des Beginns des US-amerikanischen und britischen Irakfeldzugs geben. Am 2.April 2005 wird es europaweit gegen Abschiebungen gehen, und die Frauenbewegung des Kontinents soll Ende Mai in Marseille demonstrieren.
Das nächste Sozialforum des Kontinents soll ebenfalls in klimatisch angenehmen Gefilden stattfinden — im Frühsommer 2006 in Athen. Dass dieses Mal über anderthalb Jahre zwischen zwei Sozialforen liegen werden, hängt damit zusammen, dass die beteiligten Organisationen ein wenig aus dem bisherigen, ständigen Termindruck herauskommen möchten. Das wird dann vielleicht auch eine bessere inhaltliche Vorbereitung erlauben.

Bernhard Schmid

Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch. Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50,
Kontonummer 603 95 04


zum Anfang