SoZSozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Dezember 2004, Seite 15

Beteiligungshaushalt in Brasilien

Vorbild für andere

Was kann man aus der Erfahrung des Beteiligungshaushaltes von Porto Alegre lernen, und welche Bedingungen sind erforderlich, um einen Beteiligungshaushalt nach den Grundprinzipien von Porto Alegre einführen zu können? Diese Frage stellen sich immer mehr Menschen weltweit.

Porto Alegre ist die Hauptstadt von Rio Grande do Sul — dem südlichsten Bundesstaat Brasiliens — und hat etwa 1,4 Millionen Einwohner. Unter der Militärdiktatur und besonders während der 80er Jahre haben hier organisierte soziale Bewegungen wie die Bewohnerorganisationen in den ärmsten Stadtteilen an politischer Bedeutung gewonnen.
1988, im selben Jahr, in dem Brasilien seine erste Verfassung verabschiedete, kam es zum riesigen Erfolg der Arbeiterpartei PT im Bündnis mit anderen kleineren linken Parteien in Porto Alegre.
Es waren also ideale Bedingungen vorhanden: einerseits eine stark mobilisierte soziale Bewegung, anderseits eine neu gewählte Regierung, die sich für Erweiterung der Demokratie stark machte.
Der sog. Beteiligungshaushalt machte die Millionenstadt in den letzten 16 Jahren zu einem Gegenmodell zu neoliberalen Politikmustern. Wesentliche Teile des Haushalts der Stadt werden jährlich einem mehrmonatigen öffentlichen Diskussions- und Entscheidungsprozess unterzogen, an dem die gesamte Bevölkerung teilnimmt, die über wichtige Investitionsprojekte entscheiden kann.
Standen 1988 wegen der hohen Stadtverschuldung lediglich 2% des Haushaltes für Investitionen zur Verfügung, so waren es im Jahr 2003 20%, dessen Prioritäten direkt von der Bevölkerung bestimmt wurden. Die Beteiligung ist also stetig gewachsen und hat zu einer Entwicklung des politischen Bewusstseins geführt.
Die Bürger Porto Alegres haben sich aber nicht darauf beschränkt, das zu verteilen, was die Unternehmer bereit waren, ihnen an Steuern zu überlassen. Sie haben die Steuern aktiv dahin ausgedehnt, wo Geld vorhanden war, der verfügbare Etat wurde damit allmählich erhöht — ohne Schulden zu machen und ohne dass die Investoren der Stadt den Rücken gekehrt hätten.
Porto Alegre ist seit zehn Jahren die Hauptstadt Brasiliens mit der höchsten Lebensqualität und die Stadt, die die zweitmeisten Investitionen anzieht. Die internationale Ausstrahlung der praktizierten direkten Demokratie hat u.a. dazu geführt, dass in Porto Alegre 2001, 2002, 2003 und 2005 das Weltsozialforum veranstaltet wird — was inzwischen einen Wirtschaftsfaktor für die Stadt darstellt.

Qualifizierung der Armen

Aber verstößt das Modell nicht gegen die Gesetze? Und welche Funktion hat noch das Parlament, wenn das Volk doch schon selber die Entscheidung über die öffentlichen Investitionen trifft? Nach der brasilianischen Verfassung ist die Aufstellung des Haushalts einer Stadt Aufgabe des Bürgermeisters. Er muss dem Stadtrat einen Entwurf vorlegen, der schließlich darüber abstimmt.
Die Verfassung sieht aber auch vor, dass die Gewalt vom Volk ausgeht und deren Ausübung sowohl durch gewählte Vertreter als auch direkt erfolgen kann. Ein Bürgermeister kann also die Entscheidung treffen, die Verantwortung über die Aufstellung des Haushalts direkt dem Volk zu übertragen und ihn erst danach dem Stadtrat vorzulegen.
Die Entscheidung über den Haushalt hängt damit immer noch von der Abstimmung im Stadtrat ab, dessen Mitglieder stehen jetzt aber ständig unter Druck. Verstoßen sie gegen den Volkswillen, ist ihre Wiederwahl gefährdet. Das Parlament wird dadurch nicht in seiner Aufgabe behindert; die Bevölkerung bekommt aber ein weiteres Mittel in die Hand, um das Handeln der Politiker zu kontrollieren.
Das partizipative Modell ermöglicht eine Umkehrung der Investitionsprioritäten zugunsten der Mehrheit der Bevölkerung, die meistens in den ärmsten Stadtvierteln wohnen, es verringert zudem aufgrund seiner öffentlichen Transparenz die Korruption.
Man hat festgestellt, dass eine einfache Bürgerin, die ein paar Jahre am Beteiligungshaushalt teilgenommen hat, das durchschnittliche politische Wissensniveau eines Stadtratsmitglieds erreicht. Das führt zu einem selbsttätigen politischen Bewusstsein, und es entsteht ein neues Verhältnis zwischen Staat und Zivilgesellschaft. In diesem Sinne ist der Beteiligungshaushalt nicht einfach eine Methode zu regieren, sondern er ein Mittel zur Radikalisierung der Demokratie.
Als konkrete Ergebnisse des Modells seien genannt:
verfügten noch 1990 nur 80% der Bevölkerung über einen Trinkwasseranschluss, waren es 2002 98%;
stand das Abwassersystem 1989 46% der Bevölkerung zur Verfügung, waren dies 1996 85%;
die Anzahl von Einschreibungen in Schulen hat sich zwischen 1989 und 1999 verdreifacht;
die Anzahl der Elendsviertel ist kontinuierlich gesunken
der Haushalt ist gestiegen; die Stadt hat keine Schulden mehr und eine gerechtere Steuerreform wurde durchgeführt.
Zudem können Investitionen mit öffentlichen Geldern besser, effektiver und demokratischer durchgeführt werden, wenn sie sich auf eine lokale Basisorganisation stützen.

Wie geht das?

Aber wie funktioniert der gesamte Prozess? Dauert es nicht zu lange mit den ganzen Treffen und Diskussionen? Nach dem aktuellen jährlichen Zyklus dauert er von März bis Dezember eines Jahres und läuft erstaunlicherweise viel schneller als das normale bürokratische Verfahren innerhalb und zwischen Stadtverwaltung und Stadtrat. Er fängt mit Vorbereitungstreffen im März/April an, wo die Bevölkerung in kleinen Gruppen über mögliche Prioritäten nachdenkt. Danach geht es in die Bezirksversammlungen, die im April/Mai stattfinden.
Hier wird ein Rechenschaftsbericht der Stadt vorgestellt und über die Delegierten und Prioritäten jedes Bezirks abgestimmt. Seit 1994 wurden auch thematische Foren eingerichtet: Verkehr und Transportwesen, Gesundheit und Soziales, Erziehung und Freizeit, Stadtentwicklung und Stadtorganisation, Wirtschaftsentwicklung und Steuerpolitik, und — seit 2000 — Kultur.
Im Juli ist die große Stadtversammlung, wo die Prioritäten der Stadtbezirke vorgestellt werden. Im September wird der Haushaltsentwurf überarbeitet und bis Ende des Monats der Stadtverwaltung übergeben, die ihn dem Stadtrat vorstellt.
Der Stadtrat hat bis zum 30. November Zeit zur Abstimmung. Ein Rat der Delegierten sorgt dafür, dass die Investitionen tatsächlich und effektiv durchgeführt werden.
Inzwischen gibt es in Brasilien 200 Städte, die auf kommunaler Ebene einen Beteiligungshaushalt durchführen.
Aber auch in anderen Städten Lateinamerikas — Montevideo, San Salvador und Rosario — bezieht man sich auf die Grundprinzipen Porto Alegres. In Europa gelten Barcelona, Córdoba und Rubi in Spanien; Saint-Denis, Morsang-sur-Orge und Bobigny in Frankreich; Pieve Emanuele in Italien; Palmela in Portugal; Manchester in England und Mons in Belgien als die bisher erfolgreichsten Beispiele.
Das Argument, direkte Demokratie sei nur in kleinen Kommunen möglich, wurde in Brasilien überwunden, als zwischen 1999 und 2002 ein Beteiligungshaushalt im gesamten Bundesstaat Rio Grande do Sul durchgeführt wurde.
Die damals von der PT geführte Landesregierung war bereit, die südbrasilianische Bevölkerung direkt an die Entscheidung über den verfügbaren Haushalt von etwa 13 Milliarden Reais (ungefähr 3,7 Milliarden Euro) zu beteiligen. Dafür wurde der Bundesstaat in 22 Regionen eingeteilt, in denen insgesamt 333040 Menschen in 775 Versammlungen beteiligt waren.
Dies ermöglichte die Teilnahme der Bevölkerung an Entscheidungen über Themen wie die Agrarreform, die Gesundheits- und Erziehungspolitik, die Steuerreform usw. — also Bereiche, in denen die Kommunen nur geringen Einfluss haben.

Antônio Inácio Andrioli

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