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Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Dezember 2004, Seite 16

Arbeiterklasse in China

Passivität ist ein Mythos

Kapitalistische Globalisierung ist ein geläufiger Begriff. Aber selten haben wir die Möglichkeit zu erfahren, wie sie vor Ort wirkt und wie sie eine Gesellschaft umkrempelt. Von der chinesischen Abeiterklasse wird in westlichen Medien meist das Bild gefügiger, unbegrenzt ausbeutbarer Arbeitskräfte gezeichnet.

In den letzten 20 Jahren standen sämtliche Errungenschaften der chinesischen Revolution auf dem Prüfstand. Auch die Arbeitsbedingungen der Werktätigen in den Städten waren massiven Angriffen ausgesetzt. Sie wurden dazu »ermutigt«, ihnen gegenüber so passiv wie möglich zu bleiben.
Die Propaganda der Institutionen von Bretton Woods — IWF und Weltbank — sowie der chinesischen Regierung besagt einmütig, die kapitalistische Globalisierung — die chinesische Regierung spricht lieber von der »sozialistischen Marktwirtschaft« — habe einen gewaltigen Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts und des Nationaleinkommens gebracht.
Betrachten wir das Durchschnittseinkommen in China, so hat es in den letzten 20 Jahren allerdings einen enormen Zuwachs gegeben. Das ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass die Wirtschaft in China 1978 mehr oder weniger stagnierte — der Ausgangswert war also sehr niedrig.
Aber man muss auch sehen, wer davon profitiert hat. In den letzten 25 Jahren ist in China ein breites Bürgertum geschaffen worden, das über beträchtliche Mittel verfügt. Für die Arbeiterklasse war die Entwicklung jedoch viel düsterer.

Dabei ist es nicht nur schlecht für sie gelaufen. Einem Arbeiter in einer großen Stadt mit einem guten Job, womöglich bei einem staatlichen Unternehmen oder bei einem ausländischen Multi mit einem halbwegs festen Arbeitsvertrag — die Rede ist von drei Jahren, nicht von Jobs für ein ganzes Leben — geht es ziemlich gut. Er hat eine ordentliche Sozialversicherung. Wahrscheinlich hat er mittlerweile ein eigenes Haus gekauft oder wohnt günstig zur Miete. Doch das ist eine Minderheit.
Die meisten chinesischen Arbeiter hat ein Los getroffen, das man mit zwei Bildern skizzieren kann. Das erste betrifft Arbeiter mittleren Alters, 45 Jahre und darüber, die früh in den Ruhestand gezwungen oder einfach auf die Straße gesetzt wurden. Sie wurden von den »Reformen« im Wesentlichen ausgebootet. Sie haben ihr Leben mit Arbeit für die staatlichen Betriebe verbracht und wurden dann entlassen.
Zunächst waren diese Entlassungen vorübergehend, doch inzwischen haben sie sich in einen Dauerzustand verwandelt, d.h. in registrierte Erwerbslosigkeit oder vorzeitigen Ruhestand. Das Problem dieser Menschen ist, dass sie keine Erwerbsarbeit mehr haben und somit auch über keinerlei Macht mehr verfügen.
Obwohl sie protestieren — Chinas Rentner sind sehr militant, wobei mit Rentner Menschen über 45 Jahre gemeint sind —, haben sie keinerlei Macht. Sie können nicht streiken, weil sie keinen Arbeitsplatz haben, den sie bestreiken können. Also blockieren sie die Fabriktore der Werke, in denen sie früher gearbeitet haben, demonstrieren vor den Behörden, gelegentlich auch gegen die offizielle Gewerkschaft, weil diese nichts tut und der Regierung gegenüber loyaler ist als gegenüber ihren Mitgliedern.
Sie fordern die nicht gezahlten Löhne, die nicht gezahlten Renten und die unbezahlten Arztkosten ein, denn sie haben ihre Krankenversicherung verloren. Diesen Menschen geht es, vor allem im Nordosten Chinas, sehr dreckig und es ist nicht übertrieben zu sagen, dass sie aufgegeben wurden.

Das zweite Bild betrifft die jungen Arbeiterinnen und Arbeiter vom Land. Es hat eine gewaltige Expansion der Arbeiterklasse in China gegeben. Zahlenmäßig ist sie heute stärker als je zuvor, und sie nimmt noch zu. Aus meiner Sicht ist das ein Grund zu Optimismus. Eine Menge dieser jungen Arbeiter kommt vom Land; das übt einen gewaltigen Druck auf die Landwirtschaft aus und schafft eine Menge überschüssiger Arbeitskräfte in den Städten. Die Städte wiederum sind die Zielscheibe der nach China kommenden transnationalen Konzerne, die sich in den Exportzonen an der Küste niederlassen, aber auch weiter im Binnenland.
Diese Werktätigen sind oft 18, 19, 20 Jahre alt und müssen unter abstoßenden Bedingungen arbeiten: 12- bis 15-Stunden-Tage, erzwungene Überstunden, Löhne, die wenn überhaupt, oft nicht fristgemäß gezahlt werden, schreckliche Gesundheits- und Sicherheitsmängel, sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz. Solche Bedingungen sind den Werktätigen wohl überall auf der Welt vertraut.
Aber in China haben sie nicht das Recht, dagegen ihre eigenen Gewerkschaften zu organisieren.

Eine der interessantesten Fragen, die sich in Hinblick auf die Geschichte der englischen Arbeiterklasse stellen, ist, ob die Menschen von ihrem Land vertrieben wurden und dann als Lohnarbeitskräfte zur Verfügung standen, oder ob sie von den neuen, durch die Industrie gebotenen Möglichkeiten veranlasst wurden, ihr Land zu verlassen.
Diese Frage wird heute sehr heftig auch unter den in Hongkong und zunehmend auch auf dem chinesischen Festland ansässigen NGOs diskutiert, die eine große Anzahl von Forschungen und Kampagnen für die Arbeitsmigranten durchgeführt haben. Betont sei das »für«, denn es handelt sich dabei nicht um Gewerkschaften, es geht nicht darum, dass sich die Werktätigen selbst organisieren.
Man kann nicht sagen, dass chinesische Unternehmen oder transnationale Konzerne die Werktätigen auf dem Land unmittelbar zwingen würden, dieses zu verlassen. Aber diese haben auch keine andere Wahl; es gibt für sie auf dem Land keine Arbeit.
Die chinesische Regierung hat den Rat der Weltbank befolgt und sieht in der Urbanisierung die Antwort auf die Armut auf dem Land. Die Werktätigen strömen nicht nur vom Land in die großen Städte an der Küste oder in nahe gelegenen Provinzen. Die Regierung errichtet auch Hunderte neuer Millionenstädte. Das schafft natürlich auch gewaltige Umweltprobleme.
Ein weiterer Grund, warum junge Leute vom Land weg in die Stadt ziehen, ist die Langeweile auf dem Land. Fragt man junge Arbeiter in den Exportzonen, wo sie gewaltig ausgebeutet werden, ob sie wieder zurück aufs Land wollen, antworten sie stets ablehnend. Sie hängen immer noch am Traum, genug Geld zu verdienen, um sich selbst ein kleines Geschäft aufzubauen, damit zu Hause einen Bruder oder eine Schwester zu unterstützen und irgendwie aus der Armut herauszukommen. Auch Zugang zu Konsum zu bekommen, ist ein ganz wichtiger Punkt.

Die Regierung hat die Losung ausgegeben: »Befreit unser Denken.« Damit meint sie: »Gewöhnt euch daran, erwerbslos zu sein.« Diesen Ausdruck verwenden auch die Medien. Er richtet sich an die älteren Beschäftigten in den Staatsbetrieben, die vor der Privatisierung stehen.
Die Regierung mag das ominöse »P- Wort« nicht verwenden. Es ist im Chinesischen tabu. Weil die Regierung noch an der Ideologie der »sozialistischen Marktwirtschaft« festhält, kann sie das Wort »Privatisierung« nicht verwenden, obgleich es zunehmend in den Mediendiskurs eindringt.
Sie benutzt deshalb einen Propagandatrick. Sie übernimmt ein Stereotyp der ausländischen kapitalistischen Medien über die Beschäftigten in den chinesischen Staatsbetrieben: sie seien faul und es sei ihnen viel zu lange zu gut gegangen. Und argumentiert: »Nun bist du auf dich allein gestellt. Nun bist du da draußen und musst selbst für dich sorgen, nach all den Jahren mit medizinischer Versorgung, Arbeitslosenunterstützung, kostenlosen Schulen für die Kinder und sogar einem subventionierten Friseurbesuch. Diese Zeiten sind vorbei. Das Neue ist jetzt die wirkliche Welt. Das ist die Globalisierung.«
Die Reaktion der Werktätigen darauf ist sehr unterschiedlich. Die Antwort der Arbeitsmigranten vom Land entspricht nicht dem Klischee der jungen, leicht auszubeutenden Arbeitskräfte, die passiv sind und der kapitalistischen Globalisierung gelähmt gegenüber stehen. Es gibt junge Arbeitsmigranten, die unter sehr schwierigen Bedingungen Widerstand leisten — Aktionen durchführen, streiken, Kontakt mit wohlgesonnenen Journalisten aufnehmen, die dann über sie berichten.
Sie bemühen sich unter schwierigsten Bedingungen darum, dass ihr Anliegen Gehör findet, dass rücksichtslos agierende kapitalistischen Unternehmer kontrolliert werden oder wenigstens gesetzlichen Rahmenbedingungen unterliegen. Auf dem Papier ist das chinesische Arbeitsgesetz gar nicht schlecht. Das Problem ist seine Durchsetzung.
In den Staatsbetrieben hingegen gibt es derzeit eine gewaltige Privatisierungswelle, sodass es in Zukunft nicht mehr allzu viel Beschäftigte in staatlichen Betrieben geben wird. Das ist zwar eine Vereinfachung, aber Privatisierung von Staatsbetrieben ist heute seltener als noch vor 20 Jahren. Ineffiziente Staatsbetriebe lässt man bankrott gehen; die Beschäftigten werden in sehr schwieriger Lage zurückgelassen.
Ineffizient heißt dabei, dass diese Betriebe mit dem globalen Kapital nicht konkurrieren können. Es hat nichts zu tun mit der Fähigkeit, für Menschen Jobs bereitzustellen bzw. ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Gemeint ist hier die Effizienz im Sinne von Adam Smith, nicht im Sinne von Marx.
Der offizielle chinesische Gewerkschaftsverband — eine riesige Organisation mit über 100000 Hauptamtlichen — unterstützt den Widerstand nicht. Zweifellos gibt es gute Leute darin. Aber die Gewerkschaft ist verfassungsmäßig und rechtlich an die staatlichen Institutionen, die Regierung und die Führung der KP gebunden, die immer noch de facto die Regierungsmacht innehält. Immer wenn es einen Interessenkonflikt gibt, ist die Staatsgewerkschaft auf der Seite des Staates.
Unter solchen Umständen erfordert jeder aktive Widerstand — sei es eine Demonstration vor einer Behörde, sei es die gewaltige Demonstration in Nordostchina im Frühjahr 2002 gegen Entlassungen — die Schaffung einer unabhängigen Organisation. Nur selten jedoch kann sie in eine Gewerkschaft verwandelt werden, wegen der Repression. Wer eine Gewerkschaft außerhalb der Staatsgewerkschaft organisiert, muss mit Verhaftung und bis zu 20 Jahren Gefängnis rechnen. Also werden andere Wege gesucht, und zwar täglich. Die Passivität der chinesischen Werktätigen ist ein Mythos.

Tim Pringle

Tim Pringle lebt in Hongkong und ist Redakteur der Zeitschrift Globalization Monitor, die die Auswirkungen der kapitalistischen Globalisierung auf die Arbeiterklasse in Asien, insbesondere in China untersucht (www.globalizingmonitor.com.hk) (Übersetzung: Hans-Günter Mull).



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