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Der nachfolgende Beitrag ist der erste Teil einer 2002 veröffentlichten
umfangreichen Auseinandersetzung mit der ideologischen Verbrämung von Chinas Weg zum Kapitalismus
durch die Führung der KP Chinas.
1Auf einer Feier aus Anlass des 80.Jahrestags der Gründung der Kommunistischen Partei Chinas
(KPCh) stellte der Generalsekretär der Partei, Jiang Zemin, seine Theorie der »Drei
Repräsentanten« vor. Mit ihrer Hilfe, schlug er vor, sollten die Statuten geändert und die
Aufnahme von Kapitalisten in die KPCh erlaubt werden. Damals gehörten bereits etwa 120000 sog.
»private Unternehmer« der KPCh an, die große Mehrheit von ihnen waren aber bereits
Parteimitglieder, als sie Kapitalisten wurden. Jiang rief nun die KP dazu auf, in ihre Reihen
Geschäftsleute aufzunehmen, die ihre Profite vollkommen außerhalb der Reihen der Partei
zusammengerafft haben. Für die ausländische Presse war dies ein Festtag.
2Obwohl Jiangs Rede in der Volksrepublik China anfänglich auf Zustimmung stieß, wurde
bald klar, dass es innerhalb der Parteiführung eine starke Opposition dagegen gab. Auf einer Konferenz
des inneren Führungskerns in Bedaihe im August 2001 kam es zu einer offenen Konfrontation zwischen
Jiangs Anhängern und einer beträchtlichen Zahl älterer linksorientierter Parteikader, die in
einem »Brief der Vierzehn« an das ZK erklärten, Jiangs Forderung nach Zulassung von
Kapitalisten stelle »in keiner Weise eine ›schöpferische Erneuerung‹ des Marxismus
dar, sondern vielmehr eine offene Verneinung seiner grundlegenden Prinzipien«.
Auf dem 15.Plenum der KPCh im Oktober 2001
wurde Jiangs Vorschlag zur Änderung der Statuten nicht einmal vorgebracht, um zu vermeiden, dass der
Generalsekretär sein Gesicht in der Öffentlichkeit verlor. Doch Jiangs Initiative ist damit
keineswegs vom Tisch; die Doktrin der »Drei Repräsentanten« wird als Jiangs originärer
Beitrag zur KP-Theorie der Nach-Mao-Ära in die Geschichte eingehen, zusammen mit Deng Xiaopings
»Vier Hauptprinzipien«.
Wichtiger ist, dass die Praxis mit der Theorie
schrittgehalten, ja sie sogar wie es für China heute typisch ist, übertroffen hat. Kurz nach
Jiangs Rede berichtete die South China Morning Post, dass die KPCh von neuen Beitrittsgesuchen
»überschwemmt« werde, sogar von Seiten Hongkonger Geschäftsleute. Der Dachverband der
chinesischen Gewerkschaften lobte überschwänglich die privaten Unternehmer, die sie einst als
Feinde der Arbeiterklasse betrachtet hatte. Unter den Empfängern von Ehrungen aus Anlass des 1.Mai
2002 waren vier Geschäftsleute, zwei davon Parteimitglieder, die wegen ihres »Beitrags zur
wirtschaftlichen Entwicklung Chinas« ausgewählt wurden.
Trotz fortgesetzter Opposition aus den Reihen
der KP und trotz verbreiteter Unzufriedenheit unter der breiten Bevölkerung deutet alles daraufhin,
dass Jiang Erfolg haben wird, ja, dass er, zusammen mit den Teilen der herrschenden Eliten Chinas, für
die er spricht, bereits gesiegt hat.
3Es gibt eine Reihe von Indikatoren für die These, dass die VR China praktisch ein
kapitalistisches Land geworden ist und selbst die Restbestände der sozialistischen »eisernen
Reisschale« im raschen Verschwinden begriffen sind. Die Einkommensunterschiede haben sich so schnell
vergrößert wie sonst kaum auf der Welt: Während der Ginikoeffizient für den Grad der
Armut 1981 noch 0,33 betrug, überschritt er 1994 die kritische Marke von 0,4 und beträgt
mittlerweile mehr als 0,45. Er liegt damit in China höher als in Indien oder Bangladesh.
Das jährliche Pro-Kopf-Einkommen
beträgt 900 Dollar, aber die meisten Menschen erreichen nur etwa 200 Dollar. Auf der anderen Seite
gibt es bereits 1,2 Millionen Haushalte mit Einkommen von 100000 Dollar und mehr, die reichsten 20% der
Bevölkerung beziehen die Hälfte des gesamten Einkommens. Es gibt Tausende von Mercedes fahrenden,
in Villen lebenden Multimillionären in China, und die Zeitschrift Forbes stellt jetzt jährlich
eine Liste der Superreichen zusammen.
Die meisten der rund 5 Millionen Jobs, die im
Jahr 2001 geschaffen wurden, gehören zum Exportsektor; sie halten keinesfalls Schritt mit der
wachsenden Erwerbslosigkeit. Etwa die Hälfte der in den Staatsbetrieben beschäftigten
Werktätigen ist entlassen worden, dieser Anteil wird wohl noch steigen angesichts der jüngsten
Entscheidung, die 500 wichtigsten noch verbliebenen Staatsunternehmen an ausländische Investoren zu
verkaufen.
Die offizielle Erwerbslosenquote beträgt
fast 5% das sind etwa 7 Millionen Menschen , darin nicht eingerechnet sind die 12 Millionen
aus Staatsbetriebenen Entlassenen. Viele westliche Beobachter schätzen die Erwerbslosenquote in den
Städten auf 25%, manche glauben sogar, dass diese Zahl verdoppelt werden muss. Allein 2001 verloren 20
Millionen städtische Lohnabhängige ihre Jobs. Ein kürzlich erschienenes Weißpapier der
Regierung sagt voraus, dass weitere 20 Millionen in den nächsten vier Jahren ihre Stelle verlieren
werden, weil dann die Erwerbslosigkeit einen neuen Höhepunkt erreicht.
Darüber hinaus gibt es 150 Millionen
»überzählige« Arbeitskräfte auf dem Land. Zwischen 80 und 100 Millionen
Arbeiterinnen und Arbeiter entwurzelte Bauern ohne festen Wohnsitz, »illegale Fremde« im
eigenen Land ziehen durch das Land auf der Suche nach Arbeit. Wenn sie Glück haben, arbeiten
sie 1114 Stunden am Tag für einen Subunternehmer, der sie oftmals monatelang nicht bezahlt. Sie
haben keine Mindestlöhne, sie arbeiten ohne jeden Schutz. Es war weitgehend die Arbeit einer solchen
Reservearmee von Erwerbslosen, die die glitzernden Monumente des Fortschritts in der City von Shanghai
geschaffen hat.
Die Jugendarbeitslosigkeit ist besonders
schlimm und in den letzten zwei Jahren von 50 auf 70% gestiegen; 70% der Erwerbslosen sind jünger als
35 Jahre. Während die Frauen von 1949 bis 1976 bedeutende Errungenschaften verbuchen konnten, ist die
Erwerbslosenrate bei Frauen jetzt etwa doppelt so hoch wie bei Männern; China hat die höchste
Selbstmordrate von Frauen in der Welt.
Es gibt einen massenhaften Abbau des
öffentlichen Gesundheitssystems, das nun eines der schlechtesten auf der Welt ist. In den
ländlichen Gebieten wurden die Barfußärzte abgeschafft, in den Städten die
Gesundheitseinrichtungen weitgehend abgebaut. Die Sicherheitsvorkehrungen am Arbeitsplatz sind nahezu
verschwunden. Ein trauriges Zeugnis davon legte vor einigen Jahren die Explosion in einer ländlichen,
als Schule getarnten Fabrik für Feuerwerkskörper ab, bei der zahlreiche jugendliche Angestellte
starben. Zehntausende Arbeiter kommen schätzungsweise jedes Jahr in chinesischen Bergwerken um.
4Inmitten dieser immensen Anhäufung von Kapital und der Verarmung der Arbeiter und Bauern, die
man als eine Art moderner primitiver Kapitalakkumulation betrachten kann, ist Korruption an der
Tagesordnung, und die Entfremdung der Partei von den Massen wird zu einem Gegenstand großer Sorge
selbst für die Führung der KP, die dabei Teil des Problems, nicht seiner Lösung ist.
Obgleich es schwer ist, genaues Zahlenmaterial zu bekommen, gibt es Schätzungen, dass bisher durch die
Privatisierung von Staatsunternehmen die Öffentlichkeit um ein Vermögen in Höhe von
60360 Milliarden Dollar beraubt worden ist. In diesem Prozess des »Herausschneidens von
Anteilen« waren oft Parteimitglieder oder ihnen Nahestehende die direkten Nutznießer.
Während die VR China dem Namen nach ein
proletarischer Staat bleibt, enthüllt eine Untersuchung der renommierten Chinesischen Akademie der
Sozialwissenschaften, dass die chinesische Bevölkerung nunmehr in zehn Schichten aufgeteilt werden
kann, wobei die Arbeiter und Bauern die unteren drei Schichten bevölkern. Die KPCh hingegen ist gut
repräsentiert in den Spitzen der Verwaltung: hier variiert die Parteimitgliedschaft je nach Region
zwischen 75 und 100%. Fast 90% der Parteifunktionäre haben einen höheren Bildungsabschluss
1981 waren es noch 16,4%.
Die Mehrzahl der 65 Millionen Parteimitglieder
ist bei den reichsten 10% der Bevölkerung gelandet, mit Jahreseinkommen von durchschnittlich 300000
Yuan (= 28000 Euro). Ein städtischer Arbeiter verdient im Jahr durchschnittlich 560 Euro. Auf den
höchsten Ebenen der Partei bildet der Nachwuchs der Parteiführer die Speerspitze der
Privatisierung. Jiang Mianheng, der Sohn von Jiang Zemin, im Volksmund »Chinas Digital-Prinzchen«
genannt, war der Kopf der Deregulierung der Telekommunikation; Li Xiaopeng, der älteste Sohn von Li
Peng, dem Vorsitzenden des Nationalen Volkskongresses, ist Präsident des größten
unabhängigen Stromerzeugers des Landes, Huaneng Power International. Die Kinder von Premierminister
Zhu Rongji und von Vizepräsident Hu Jintao arbeiten jeweils für Morgan Stanley und J.P.Morgan.
Dennoch meint ein Beobachter, die Elite der
KPCh bereite sich »auf den Tag vor, wo alle Teufel losgelassen werden, wo sie versucht, einen
ausländischen Pass zu bekommen und ihre Kinder und ihr Vermögen ins Ausland schickt«. Eine
der Enkelinnen von Deng Xiaoping, eine naturalisierte US-Bürgerin, nahm sich ein Jahr Urlaub von
Wellesley und schrieb sich als ausländische Studentin an der Universität Peking ein, um
»mehr über ihr chinesisches Erbe zu erfahren«.
5Der einzige Lichtblick in diesem tristen Panorama ist die wachsende Aufmüpfigkeit der
chinesischen Arbeiterklasse. Im Jahr 2000 gab es einem internen Bericht der KPCh zufolge über 3000
Arbeiteraufstände, durchschnittlich 80 pro Tag. In den letzten Monaten haben Arbeiter viele
Staatsbetriebe besetzt Spielwarenfabriken, Textilfabriken bis hin zu den berühmten
Ölfeldern von Daqing, um sich ihrer Privatisierung zu widersetzen und ihre Arbeitsplätze wie auch
die damit verbundenen Sicherheiten der »eisernen Reisschale« zu verteidigen.
Die Regierung hat geantwortet, sie wolle das
Netz der sozialen Sicherheit ausbauen und die Korruption ausrotten, aber die Privatisierung wird
fortgesetzt, sogar beschleunigt. Selbst offizielle Quellen schätzen, dass die Erwerbslosigkeit in den
nächsten Jahren dramatisch ansteigen wird.
Die Führungskrise ist enorm. Es gibt
Anzeichen, dass die Streikaktionen inzwischen von einer neuen Generation von Arbeiteraktivisten koordiniert
werden und dass die Streikführer Beziehungen zu linksorientierten Intellektuellen aufbauen. Die
Repression ist scharf und wird wahrscheinlich mit dem Anstieg von Klassenkämpfen noch anwachsen.
Diejenigen Unterstützer des chinesischen
Sozialismus, die glauben, dass die Würfel noch nicht gefallen sind, dass immer noch linke Kräfte
aus der KPCh gewonnen werden können und dass die Arbeiter und Bauern noch einmal den Weg des
egalitären Kommunismus gehen werden, lügen sich selbst in die Tasche, wenn sie meinen, so etwas
könnte ohne eine neue Revolution abgehen.
6In Jiangs eingangs zitierter Rede kristallisiert sich nicht allein die Entwicklung Chinas zur
kapitalistischen Restauration, die 1978 mit dem Aufstieg Deng Xiaopings begonnen hat, sondern auch eine
pseudomarxistische Erklärung für einen Prozess, der sich von Tag zu Tag offener als die Jagd der
neuen herrschenden Klasse Chinas nach Macht und Reichtum enthüllt. In Jiangs Rechtfertigung klingen
das Echo der Rede vom sozialistischen Aufbau und die Zitate der Gründerväter des Kommunismus so
hohl, dass man unwillkürlich an Marx berühmte Charakterisierung von Louis Napoleon denkt,
der die Französische Revolution in der Phrase wiedererweckte, um sie in seiner Rhetorik als Farce zu
wiederholen.
Aufschlussreicher als den Entstellungen des
Erbes von Marx, Engels, Lenin und Mao nachzugehen ist jedoch die Untersuchung, an welchen Stellen dieses
Erbe für solch opportunistische Aneignung anfällig ist. Vor allem das Hohelied, das die KPCh vom
Mao Zedong der Jahre 193649 singt, insbesondere von Maos Konzept der »Neuen Demokratie«
(1940), verweist auf eine besondere Übereinstimmung zwischen Jiangs offenem Projekt, den Kapitalismus
aufzubauen, und bestimmten nationalistischen, etappentheoretischen und vom Determinismus der
Produktivkräfte geleiteten Konzepten, die das Projekt der sozialen Revolution in China von Anfang an
begleitet haben.
Diese Konzepte sind in vielerlei Hinsicht
einzigartig für China, können aber dennoch nicht getrennt von der Gesamtstrategie der
III.Internationale in der Zeit der Volksfront gesehen werden. Später wurden diese Konzepte durch eine
ökonomistische Lektüre von Marx und Engels und eine pragmatische Lektüre von Lenin
theoretisch gerechtfertigt, während verschiedene dialektische Kategorien bei Mao im Sinne der
Klassenzusammenarbeit interpretiert wurden, vor allem die Kategorie des nichtantagonistischen Widerspruchs.
Dass diese Theoretiker und Praktiker des
modernen Kommunismus Revolutionäre waren, während die Führer der KPCh von Deng bis Jiang die
revolutionäre Bewegunge verraten haben, macht es nur umso dringender zu verstehen, in welchem Umfang
bestimmte Theorien und Praktiken im kommunistischen Erbe zu dieser Niederlage beigetragen haben. Es stellt
für uns eine Gefahr dar, wenn jene von uns, die überzeugt bleiben, dass der Kapitalismus die
Antithese zum menschlichen Wohlergehen darstellt, und für »eine bessere Welt« streiten, sich
weigern die Lehren aus der Farce zu ziehen, die sich in den Sitzungssälen von Shanghai und Peking
vollzieht.
Barbara Foley
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