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Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Dezember 2004, Seite 17

Gegenleben II

Margarethe Hardegger (1882—1963)

Ina Boesch: Gegenleben. Die Sozialistin Margarethe Hardegger und ihre politischen Bühnen, Zürich: Chronus Verlag, 2003, 436 Seiten, 32 Euro.

Ina Boesch hat sich die Arbeit gemacht, das Gegenleben einer Frau, die in keine Schublade passte, zu entziffern. Facettenreich hat sie zusammengetragen, was sich in den Jahren zwischen Margarethe Hardeggers Geburt 1882 bis zu ihrem Tode 1963 zugetragen hat. Entstanden ist ein außergewöhnliches Buch über eine außergewöhnliche Frau. Zahlreiche Dokumente und Fotografien vervollständigen die »Biografie mit Bildern«. Wer war die Frau, die nicht nur für freie Liebe eintrat, sondern sie auch selbst praktizierte und die dem Antiquar Theo Pinkus nach ihrem Tode 880 Kilogramm an Büchern und Broschüren hinterlassen hat?
Margarete Hardeggers Großmutter war ein Findelkind, das beinahe durch den Hammer des Schlosserlehrlings auf dem Amboss, auf dem es abgelegt worden war, erschlagen worden wäre. Weil sie ein Kind der Sünde war, nannte man sie Magdalena, die Sünderin und Hammer, nach dem Werkzeug, das sie überlebt hatte. So beginnt Margarethes Familiengeschichte, um die sich noch viele andere mysteriöse Geschichten ranken.
Sie war das einzige leibliche Kind ihrer Eltern, bekam jedoch im Alter von fünf Jahren einen Pflegebruder Ernst, Sohn einer russischen Jüdin und Anarchistin. Ihre Mutter, Anna Susanna Hardegger, arbeitete bis ins hohe Alter als Hebamme und setzte sich vor allem für ledige Mütter ein. Bereits 1898 soll sie eine Petition eingereicht haben, nach der ledige Mütter nicht mehr als Fräulein, sondern als Frau angeredet werden sollten und für die Magarethe Unterschriften gesammelt hat.
Die Tochter aus »einer richtigen kleinbürgerlichen Kleinfamilie« wurde später die erste Arbeiterinnensekretärin der Schweiz, die Geliebte zahlreicher Intellektueller und Anarchisten, die Kämpferin gegen den Faschismus und für den Frieden, die Kameradin, die die Welt verändern wollte, die Sozialistin, die den Sozialismus hier und jetzt praktizieren wollte.
Zunächst wurde sie Telefonistin, holte dann die Matura nach und studierte Jurisprudenz, verliebte sich währenddessen in einen Jurastudenten und wurde 22-jährig, im ersten Semester, schwanger. Sie konnte ihre Dissertation zum Thema »Die Abtreibung in der Schweiz« wegen mangelnder Finanzen nicht veröffentlichen. Der Vater, obwohl er ihre Idee der freien Liebe teilte, drängte auf eine Heirat. Margarethe gebar Olga, ein rothaariges Sonntagskind, organisierte Arbeiterinnen und einen Fabrikarbeiterinnenstreik und bekam eine zweite Tochter Lisa, die ihr später viele Sorgen bereitete. Sie reiste sehr viel, hielt außerordentliche Reden und gründete mehrere Gewerkschaften.
Es dauerte nicht lange, bis sie als unzuverlässig galt, möglicherweise wegen ihrer anarchistischen Umtriebe. Eineinhalb Jahre nach ihrem Stellenantritt erhielt sie die Kündigung. Die Arbeiterinnenvereine vermuteten, dass sie sich offensichtlich »mehr gegen das Geschlecht als die Person richtet« und auch ein namhafter Kollege sowie »die Arbeiterschaft in der Westschweiz« setzten sich für sie ein. Die Kündigung wurde zurückgenommen. Hardegger gründete nun die Arbeiterinnenzeitung Die Vorkämpferin.
Sie hielt »nichts von Gewalt, von Bomben und Gewehren«, sie wollte ihr Ziel einer »umfassenden Emanzipation« gewaltfrei erreichen. Nachdem ihr Mann sie verlassen hatte, war ihre Stelle erneut bedroht. Sie verliebte sich in den Anarchisten Gustav Landauer und arbeitete im Sozialistischen Bund mit. Im Januar 1909 wurde ihre Stelle beim Schweizerischen Gewerkschaftsbund definitiv gekündigt. Eine neue Beschäftigung war nicht in Sicht. Diesmal war der Kündigungsgrund deutlich: »weil man ihre Anschauungen für schädlich hält«.
Gemeinsam mit Gustav Landauer gab sie nun die Zeitschrift Der Sozialist heraus und belebte die Netzwerke der anarchistischen Szene in der Schweiz und im Ausland neu. Sie teilte mit Erich Mühsam, Arthur Ludwig und anderen Anarchisten »Meinungen und Lager« und wurde mehrmals verhaftet. Unter anderem kam sie 1915 wegen »Beihilfe zur Abtreibung« in eine »Zwangsanstalt für Weiber« und musste Militärzelte nähen. Ein Hohn für eine Antimilitaristin.
Ina Boesch berichtet ausführlich über die wichtigsten Passagen aus Hardeggers »Gegenleben«, in denen sie Neues aufbaute: eine Kommune mit gemeinsamer Kasse und gemeinsamer Gesinnung, die Intellektuelle und Handwerker ebenso vereinte, wie heimatlose Kriegsdienstverweigerer; pedantisch überwacht von der Polizei. Die Kommune existierte nicht lange, dennoch machte sie wiederholt neue Siedlungsversuche. Ihre »Seele (fiel) in Ohnmacht«, als sie die Nachricht von der brutalen Ermordung des Geliebten Gustav Landauer erhielt. Den Kampf um eine freiere Gesellschaft hat Hardegger trotz vieler politischer und persönlicher Niederlagen bis zu ihrem Tode nicht aufgegeben.
Die Zusammenhänge zwischen den unterschiedlichen Lebensgeschichten der in dem Buch auch behandelten Akteure aus der anarchistischen Szene sind nicht immer klar erkennbar. Eher überflüssig erscheinen die psychologisierenden Interpretationen der Fotos, hier wären knappe Erklärungen nützlicher gewesen.
Der zweite Teil des Buches beschreibt die politischen Bühnen von Margarethe Hardegger.
Schließlich war sie in über zwanzig Organisationen aktiv, von denen viele heute entweder nicht mehr oder kaum mehr bekannt sind und auf denen sie oft nur einen kleinen, eher marginal zu nennenden Auftritt hatte. Gleichwohl spielte sie eine wichtige Rolle, weil sie versuchte, die verschiedenen politischen Kräfte zu bündeln. Die Autorin setzt die Biografie und die Aktionsfelder zueinander in Beziehung, indem sie sie durch Querverweise miteinander verschränkt. So schafft sie einen Hypertext; zwischen zwei Buchdeckeln, nicht im elektronischen Sinn, sondern als insgesamt informatives Lesebuch. Eine Biografie, die eine große Leserschaft verdient, weil sie gelebte Perspektiven aufzeigt.

Gisela Notz

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