SoZSozialistische Zeitung |
Ina Boesch hat sich die Arbeit gemacht, das Gegenleben einer Frau, die in
keine Schublade passte, zu entziffern. Facettenreich hat sie zusammengetragen, was sich in den Jahren
zwischen Margarethe Hardeggers Geburt 1882 bis zu ihrem Tode 1963 zugetragen hat. Entstanden ist ein
außergewöhnliches Buch über eine außergewöhnliche Frau. Zahlreiche Dokumente und
Fotografien vervollständigen die »Biografie mit Bildern«. Wer war die Frau, die nicht nur
für freie Liebe eintrat, sondern sie auch selbst praktizierte und die dem Antiquar Theo Pinkus nach
ihrem Tode 880 Kilogramm an Büchern und Broschüren hinterlassen hat?
Margarete Hardeggers Großmutter war ein
Findelkind, das beinahe durch den Hammer des Schlosserlehrlings auf dem Amboss, auf dem es abgelegt worden
war, erschlagen worden wäre. Weil sie ein Kind der Sünde war, nannte man sie Magdalena, die
Sünderin und Hammer, nach dem Werkzeug, das sie überlebt hatte. So beginnt Margarethes
Familiengeschichte, um die sich noch viele andere mysteriöse Geschichten ranken.
Sie war das einzige leibliche Kind ihrer
Eltern, bekam jedoch im Alter von fünf Jahren einen Pflegebruder Ernst, Sohn einer russischen
Jüdin und Anarchistin. Ihre Mutter, Anna Susanna Hardegger, arbeitete bis ins hohe Alter als Hebamme
und setzte sich vor allem für ledige Mütter ein. Bereits 1898 soll sie eine Petition eingereicht
haben, nach der ledige Mütter nicht mehr als Fräulein, sondern als Frau angeredet werden sollten
und für die Magarethe Unterschriften gesammelt hat.
Die Tochter aus »einer richtigen
kleinbürgerlichen Kleinfamilie« wurde später die erste Arbeiterinnensekretärin der
Schweiz, die Geliebte zahlreicher Intellektueller und Anarchisten, die Kämpferin gegen den Faschismus
und für den Frieden, die Kameradin, die die Welt verändern wollte, die Sozialistin, die den
Sozialismus hier und jetzt praktizieren wollte.
Zunächst wurde sie Telefonistin, holte
dann die Matura nach und studierte Jurisprudenz, verliebte sich währenddessen in einen Jurastudenten
und wurde 22-jährig, im ersten Semester, schwanger. Sie konnte ihre Dissertation zum Thema »Die
Abtreibung in der Schweiz« wegen mangelnder Finanzen nicht veröffentlichen. Der Vater, obwohl er
ihre Idee der freien Liebe teilte, drängte auf eine Heirat. Margarethe gebar Olga, ein rothaariges
Sonntagskind, organisierte Arbeiterinnen und einen Fabrikarbeiterinnenstreik und bekam eine zweite Tochter
Lisa, die ihr später viele Sorgen bereitete. Sie reiste sehr viel, hielt außerordentliche Reden
und gründete mehrere Gewerkschaften.
Es dauerte nicht lange, bis sie als
unzuverlässig galt, möglicherweise wegen ihrer anarchistischen Umtriebe. Eineinhalb Jahre nach
ihrem Stellenantritt erhielt sie die Kündigung. Die Arbeiterinnenvereine vermuteten, dass sie sich
offensichtlich »mehr gegen das Geschlecht als die Person richtet« und auch ein namhafter Kollege
sowie »die Arbeiterschaft in der Westschweiz« setzten sich für sie ein. Die Kündigung
wurde zurückgenommen. Hardegger gründete nun die Arbeiterinnenzeitung Die Vorkämpferin.
Sie hielt »nichts von Gewalt, von Bomben
und Gewehren«, sie wollte ihr Ziel einer »umfassenden Emanzipation« gewaltfrei erreichen.
Nachdem ihr Mann sie verlassen hatte, war ihre Stelle erneut bedroht. Sie verliebte sich in den Anarchisten
Gustav Landauer und arbeitete im Sozialistischen Bund mit. Im Januar 1909 wurde ihre Stelle beim
Schweizerischen Gewerkschaftsbund definitiv gekündigt. Eine neue Beschäftigung war nicht in
Sicht. Diesmal war der Kündigungsgrund deutlich: »weil man ihre Anschauungen für
schädlich hält«.
Gemeinsam mit Gustav Landauer gab sie nun die
Zeitschrift Der Sozialist heraus und belebte die Netzwerke der anarchistischen Szene in der Schweiz und im
Ausland neu. Sie teilte mit Erich Mühsam, Arthur Ludwig und anderen Anarchisten »Meinungen und
Lager« und wurde mehrmals verhaftet. Unter anderem kam sie 1915 wegen »Beihilfe zur
Abtreibung« in eine »Zwangsanstalt für Weiber« und musste Militärzelte nähen.
Ein Hohn für eine Antimilitaristin.
Ina Boesch berichtet ausführlich
über die wichtigsten Passagen aus Hardeggers »Gegenleben«, in denen sie Neues aufbaute: eine
Kommune mit gemeinsamer Kasse und gemeinsamer Gesinnung, die Intellektuelle und Handwerker ebenso vereinte,
wie heimatlose Kriegsdienstverweigerer; pedantisch überwacht von der Polizei. Die Kommune existierte
nicht lange, dennoch machte sie wiederholt neue Siedlungsversuche. Ihre »Seele (fiel) in
Ohnmacht«, als sie die Nachricht von der brutalen Ermordung des Geliebten Gustav Landauer erhielt. Den
Kampf um eine freiere Gesellschaft hat Hardegger trotz vieler politischer und persönlicher Niederlagen
bis zu ihrem Tode nicht aufgegeben.
Die Zusammenhänge zwischen den
unterschiedlichen Lebensgeschichten der in dem Buch auch behandelten Akteure aus der anarchistischen Szene
sind nicht immer klar erkennbar. Eher überflüssig erscheinen die psychologisierenden
Interpretationen der Fotos, hier wären knappe Erklärungen nützlicher gewesen.
Der zweite Teil des Buches beschreibt die
politischen Bühnen von Margarethe Hardegger.
Schließlich war sie in über zwanzig
Organisationen aktiv, von denen viele heute entweder nicht mehr oder kaum mehr bekannt sind und auf denen
sie oft nur einen kleinen, eher marginal zu nennenden Auftritt hatte. Gleichwohl spielte sie eine wichtige
Rolle, weil sie versuchte, die verschiedenen politischen Kräfte zu bündeln. Die Autorin setzt die
Biografie und die Aktionsfelder zueinander in Beziehung, indem sie sie durch Querverweise miteinander
verschränkt. So schafft sie einen Hypertext; zwischen zwei Buchdeckeln, nicht im elektronischen Sinn,
sondern als insgesamt informatives Lesebuch. Eine Biografie, die eine große Leserschaft verdient, weil
sie gelebte Perspektiven aufzeigt.
Gisela Notz
Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch.
Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50,
Kontonummer 603 95 04