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Im Begriff des Höhepunkts schwingt der sich an ihn anschließende
Niedergang schon latent mit auch in diesem Fall. Die Rede des überzeugten Sozialisten und
Gewerkschaftstheoretikers Viktor Agartz auf dem Frankfurter DGB-Kongress im Oktober 1954 gilt Gegnern wie
Freunden, Zeitzeugen wie Historikern als Höhepunkt des gewerkschaftlichen Radikalismus in der
bundesdeutschen Nachkriegszeit.
»Wir müssen feststellen«, erinnerte Agartz seine mehrere hundert Zuhörer gleich zu
Beginn seiner Rede an die zurückliegenden Jahre seit der westdeutschen Währungsreform, »dass
selten eine kapitalistische Expropriation so offen vollzogen worden ist wie nach dem Jahre 1948«.
Mithilfe der Bajonette der westlichen
Besatzungsmächte sei die in den ersten Jahren nach Faschismus und Krieg erhoffte radikale Demokratisierung
»sicherlich in gleicher Weise« wie im Osten Deutschlands verhindert worden. Die politische
Wirklichkeit zeige »im Grunde nur wenige demokratische Züge«. Faschistische Elemente
drängten zurück in Verwaltung und Politik und das Parlament werde, u.a. durch die Praxis der
Ausschüsse und Fachvertreter, zunehmend entmachtet und bewege sich allgemein »in Richtung auf ein
autoritäres Regierungssystem«. Die Überführung der Schlüsselindustrien in
Gemeineigentum sei verpasst und verhindert, die Mitbestimmung als Mittel der gesellschaftspolitischen
Neuordnung zur Lehre von der Partnerschaft von Kapital und Arbeit heruntergekocht worden, obwohl doch klar sein
sollte, »dass die Mitbestimmung den kapitalistischen Charakter des Unternehmens nicht ändert, dass
sie den Betrieb nicht aus der Marktlage und den Konjunkturschwankungen befreit«.
Selbst von sozialer Gerechtigkeit könne nicht
ernsthaft gesprochen werden. Die Restauration der kapitalistischen Produktions- und Verkehrsverhältnisse
sei auf dem Rücken der abhängig Beschäftigten vollzogen worden und setze sich auch unter den
Bedingungen des seit Anfang der 50er Jahre zu beobachtenden »Wirtschaftswunders« nach diesem Muster
fort. Den überdurchschnittlichen, schon Ende der 40er Jahre ihre Vorkriegshöhe deutlich
überschreitenden Unternehmensgewinnen, stehe noch immer ein Lohnniveau gegenüber, das zwar seit
1949/50 um ein Drittel gestiegen sei, die Vorkriegshöhe jedoch noch nicht wieder erreicht habe. Bei einer
durchschnittlichen Wochenarbeitszeit von 51/52 Stunden läge der Verbrauch pro Kopf der Bevölkerung
noch um 8% niedriger als vor dem Kriege. Und während das westdeutsche Preisniveau im Vergleich mit 16
westlichen Ländern weit oben an vierter Stelle stehe, stehe die Kaufkraft des Industriearbeiterlohns
gerade mal an drittletzter Stelle. »Die Einkommenspyramide in Deutschland geht von einer äußerst
breiten Basis aus und steigert sich schnell zu einer steilen Spitze.«
Unter starkem Beifall zog Agartz aus seiner
Analyse die Forderung, dass es der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung weiterhin um eine grundsätzliche
Neuordnung der Produktionsweise gehen müsse und betonte, ebenfalls unter Beifall, »dass auf der
Grundlage der bisherigen Eigentumsordnung eine solche von uns angestrebte optimale Lösung nicht
möglich ist«. Als Hebel einer solchen neuen Offensive schlug er radikale Arbeitszeitverkürzungen
(40-Stunden-Woche) und eine expansive Lohnpolitik vor, er rief zum Kampf gegen die Verinnerlichung der immer
weiter um sich greifenden Markt- und Profitlogik auf. »Die Gewerkschaften sind kein Apparat von
Funktionären, sondern eine Bewegung der um ihre Besserstellung ringenden Menschen. Die Gewerkschaften sind
nicht Selbstzweck, sondern Instrumente in diesem Ringen.« Im Bewusstsein dieser
»Schicksalsgemeinschaft« »dürfen wir mit Recht ausrufen: Brüder, zur Sonne, zur
Freiheit!«
Die in den zurückliegenden Jahren arg
geschundenen und teilweise stark frustrierten Gewerkschafter feierten die fast dreistündige Rede mit
stehenden Ovationen und minutenlangem Beifall. Agartz, zu jener Zeit Direktor des Wirtschaftswissenschaftlichen
Instituts (WWI) der Gewerkschaftsbewegung, hatte sie im Vorfeld des Kongresses auf Dutzenden
Gewerkschaftstreffen kollektiv abgestimmt, um eine umfassende und offensive Neuausrichtung der westdeutschen
Gewerkschaftsbewegung zu gewährleisten. Was jedoch nur eine Handvoll Menschen wusste, war, dass er diese
Rede auch zu benutzen gedachte, die radikale Linke in und um die Gewerkschaften herum zu organisieren und zu
mobilisieren. Im Vorfeld war es deswegen u.a. zu einem streng geheim gehaltenen Treffen im Kölner Dom-
Hotel gekommen, zu dem Agartz und sein Mitarbeiter Theo Pirker mit Arkadi Gurland, Wolfgang Abendroth, Leo
Kofler und Ernest Mandel die »grauen Eminenzen« des marxistischen Linkssozialismus der 50er Jahre
eingeladen hatten, an der Rede mitzuwirken.
Auch wenn Agartz innergewerkschaftliche
Gegner von dieser fraktionellen Seite der Frankfurter Rede nichts gewusst haben dürften, so war ihnen
jedoch klar, dass die wesentlich unter seinem Einfluss und dem Eindruck seiner Rede gefassten Frankfurter
Beschlüsse Ablehnung eines deutschen Wehrbeitrags; aktive/expansive Lohnpolitik; Ablehnung jeder
Form von »Miteigentums«-Modellen; Überführung der Montanindustrie in Gemeineigentum;
Ausarbeitung eines neuen gewerkschaftspolitischen Aktionsprogramm zu jener Kraftprobe mit Kapital und
Kabinett des gerade restaurierten und ökonomisch kräftig durchstartenden Westdeutschland führen
würde, die sie aller Wahrscheinlichkeit nach nicht heil überstehen würden.
Bereits in den bis 1952 geführten
Kämpfen um die Mitbestimmung hatte die Gewerkschaftsbewegung eine nachhaltige Niederlage einstecken
müssen und sich von weitergehenden Sozialisierungsforderungen verabschiedet. Die voll auf den Export
ausgerichtete Ökonomie boomte unter dem Eindruck des Koreakriegs, die Unternehmerschaft hatte sich
ökonomisch erfolgreich rekonstituiert und ging auch politisch wieder in die Offensive. Im Oktober 1952
wurde das Betriebsverfassungsgesetz verabschiedet, im Januar 1953 das Streikrecht durch Beschluss des
Bundesarbeitsgerichts deutlich eingeschränkt. Parallel dazu ging der Kampf um die Remilitarisierung
verloren.
Mit dem Tod des charismatischen
Gewerkschaftsvorsitzenden Hans Böckler im Februar 1951 und des alle überragenden Kurt Schumacher im
August 1952 endete symbolisch eine Zeit, »in der alles möglich schien und in der tatsächlich so
wenig möglich war« (Theo Pirker). Und als die SPD auch noch die Bundestagswahlkampf 1953 verlor,
verbreiteten sich Niedergeschlagenheit und Ohnmacht auf der einen und zumal nach der Niederschlagung des
ostdeutschen Aufstands im Juni 1953 ein verschärfter Antikommunismus auf der anderen Seite. Ein
Rückzug war angesagt und den Ansprüchen der von Agartz repräsentierten radikalen Minderheit
musste mindestens ein symbolischer Riegel vorgeschoben werden.
Viktor Agartz bot sich als Symbol geradezu an.
Nicht nur, dass er sich gerade auf eine neue linke Oppositionspolitik gegen Restauration und Anpassung
einstellte, er repräsentierte, neben Kurt Schumacher und Hans Böckler, mit seiner ganzen Biografie,
mit seinen Stärken und Schwächen, den sozialdemokratisch-gewerkschaftlichen Aufbruchsgeist der ersten
Nachkriegsjahre.
In den Trümmerlandschaften des niedergekämpften Nachkriegsdeutschland hatte der kometenhafte
Aufstieg des bis dahin allenfalls lokal bekannten, so bodenständigen wie marxistischen Idealisten und
gleichermaßen praktisch wie theoretisch versierten Ökonomen begonnen.
Der am 15.November 1897 geborene und in einer
alten Remscheider Metallarbeiterfamilie aufgewachsene Viktor Agartz hatte sich während seines Studiums in
den 20er Jahren in sozialistischen Studiengruppen in Marburg und Köln und als Dozent in
Gewerkschaftskreisen engagiert und als Angestellter in einer Konsumgenossenschaft gearbeitet. Zeitlebens auf
dem linken Flügel der SPD stehend, wurde der 1925 promovierte Doktor der Staatswissenschaften zum
erfolgreichen kaufmännischen Direktor einer Kölner Konsumgenossenschaft und gleichzeitigen
Geschäftsführer einer Stahlwarenfabrik.
Nach Krieg und Faschismus, den er als
Wirtschaftsprüfer und im antifaschistischen Widerstand überlebte, wurde Agartz zuerst
wirtschaftspolitischer Berater der Gewerkschaftsführung um Hans Böckler, den er seit den 20er Jahren
auch persönlich gut kannte, und schließlich zuerst als Generalsekretär des Deutschen
Wirtschaftsrats sowie Mitglied diverser ökonomischer wie politischer Beiräte und
Unterausschüsse, dann als Generalsekretär des Zentralamts für Wirtschaft für die britische
Besatzungszone und Mitglied des nordrhein-westfälischen Landtags der wichtigste
Wirtschaftspolitiker von SPD und DGB.
Körperlich vollkommen erschöpft und auf
nachhaltigen Druck der US-amerikanischen Militärmacht, die in ihm den Repräsentanten des anderen, des
gefährlichen sozialistischen Deutschland sah, zog sich der Multifunktionär Mitte 1947 zurück,
kam erst 1948 langsam zurück und übernahm im Mai 1949 als Direktor das WWI, das er zur
intellektuellen Kaderschmiede der Gewerkschaftsbewegung und zu einem ausgesprochen einflussreichen,
öffentlich nachgefragten Institut ausbaute.
Mit dem 1952/53 nicht mehr zu verdrängenden
Scheitern der Klassenkämpfe gegen die bürgerlich-kapitalistische Restauration wurde auch Viktor
Agartz klar, dass der Kampf fürs erste verloren war. Es galt, sich neu zu positionieren. Und im
unmittelbaren Anschluss an die für die SPD verlorene zweite Bundestagswahl veröffentlichte er zu
diesem Zweck im Dezember 1953 einen kleinen, aber Aufsehen erregenden Artikel, in dem er aus Lohnfragen
Machtfragen zu machen versuchte.
Er propagierte eine dynamische und expansive
Lohnpolitik nicht nur als Mittel der Konjunkturpolitik, sondern vor allem, um den Arbeiterinnen und Arbeitern
einen steigenden Anteil am gesamtgesellschaftlichen Kuchen zu sichern.
»In einem sog. marktwirtschaftlichen
System«, schrieb Agartz »ist jede expandierende Wirtschaft von der Gefahr bedroht, dass die Nachfrage
hinter dem Warenangebot zurückbleibt. Daher bedarf es einer Konjunkturpolitik, die sicherstellt, dass das
volkswirtschaftliche Gleichgewicht gewahrt bleibt. Diese Konjunkturpolitik ist durch eine aktive
Strukturpolitik zu ergänzen, um alle verfügbaren Arbeitskräfte und ihren Zuwachs zum Einsatz zu
bringen. Sowohl für eine aktive Konjunktur- wie auch Strukturpolitik ist die Lohnpolitik das wichtigste
Instrument. Die Lohnpolitik darf nicht allein dynamisch, sie muss auch expansiv sein. Sie darf sich nicht damit
begnügen, den Reallohn an die volkswirtschaftliche Entwicklung nachträglich heranzubringen. Sie muss
versuchen, die wirtschaftliche Expansion von sich aus zu forcieren, um durch bewusste Kaufkraftsteigerung eine
Ausweitung der Produktion herauszufordern.«
Damit machte er sich zum erklärten Feind
jener gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Kreise, die schon seit langem auf das Abschneiden alter
Zöpfe drangen und die sowohl politische wie gewerkschaftliche Anpassung an die restaurierte Macht des
Faktischen forderten, um endlich mehrheitsfähig zu werden. Zum wichtigsten öffentlichen Kontrahenten
von Agartz wurde allerdings Oswald von Nell-Breuning, der von einer gleichsam naturgegebenen Partnerschaft
zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ausgehende Cheftheoretiker des christlichen Gewerkschaftsflügels.
Nell-Breuning entfachte eine publizistische Kampagne gegen Agartz und drohte offen und ernsthaft mit einer
Spaltung der Einheitsgewerkschaft.
Die erfolgreiche Restauration des bürgerlichen Konservatismus einerseits und die
innergewerkschaftlichen Richtungskämpfe bilden so den eigentlichen Hintergrund dafür, dass Agartz und
die gewerkschaftliche Linke auf dem dritten DGB-Bundeskongress 1954 in Frankfurt zum organisierten Gegenangriff
überzugehen versuchten. Doch der scheinbare Erfolg von Frankfurt sollte sich schnell in sein Gegenteil
verkehren.
Schon wenige Wochen nach dem Kongress wurde Agartz
offen beschuldigt, gegen den Bundesvorstand des DGB zu agitieren und die Einheit der Gewerkschaftsbewegung zu
gefährden. Das innergewerkschaftliche Klima wurde zusehends rauer und Agartz führende Rolle im
WWI beschnitten. Als er im Spätsommer 1955 seinen WWI-Mitdirektoren Gleitze mit Hilfe von belastenden
Briefen, die kurz darauf für gefälscht erklärt wurden, der Abhängigkeit von Ost-Berlin
beschuldigte, wurden Agartz und Gleitze vom Bundesvorstand »beurlaubt« und Agartz wichtigsten
Mitarbeitern (Theo Pirker und Walter Horn) gekündigt. Als die Affäre im Dezember 1955 mit einer
entsprechend großzügigen Abfindung in den offiziellen Ruhestand offiziell beendet wurde, erntete die
Gewerkschaftsführung nicht nur, aber vor allem von der gewerkschaftlichen Basis, heftigen
innergewerkschaftlichen Protest. Die Würfel waren allerdings gefallen, die »Gruppe Agartz«
gescheitert.
Was jedoch die einen als das unrühmliche Ende
einer beispiellosen Karriere betrachten, lässt sich auch anders sehen, denn Agartz hatte bereits neue
Pläne. Und wenn diese auch nicht mehr die große Politik beeinflussen sollten, so sind sie doch von
einer bleibenden Bedeutung gerade für eine politische Linke, die sich nicht in der einen oder anderen
Weise abzufinden gedenkt mit dem Status quo eines noch immer klassengesellschaftlich strukturierten
spätbürgerlichen Kapitalismus. Davon jedoch in der nächsten Ausgabe der SoZ mehr.
Christoph Jünke
Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch.
Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
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