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Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Dezember 2004, Seite 24

Brüder, zur Sonne, zur Freiheit

Zur Erinnerung an Viktor Agartz (1897—1964)

Im Begriff des Höhepunkts schwingt der sich an ihn anschließende Niedergang schon latent mit — auch in diesem Fall. Die Rede des überzeugten Sozialisten und Gewerkschaftstheoretikers Viktor Agartz auf dem Frankfurter DGB-Kongress im Oktober 1954 gilt Gegnern wie Freunden, Zeitzeugen wie Historikern als Höhepunkt des gewerkschaftlichen Radikalismus in der bundesdeutschen Nachkriegszeit.

Die Frankfurter Rede

»Wir müssen feststellen«, erinnerte Agartz seine mehrere hundert Zuhörer gleich zu Beginn seiner Rede an die zurückliegenden Jahre seit der westdeutschen Währungsreform, »dass selten eine kapitalistische Expropriation so offen vollzogen worden ist wie nach dem Jahre 1948«.
Mithilfe der Bajonette der westlichen Besatzungsmächte sei die in den ersten Jahren nach Faschismus und Krieg erhoffte radikale Demokratisierung »sicherlich in gleicher Weise« wie im Osten Deutschlands verhindert worden. Die politische Wirklichkeit zeige »im Grunde nur wenige demokratische Züge«. Faschistische Elemente drängten zurück in Verwaltung und Politik und das Parlament werde, u.a. durch die Praxis der Ausschüsse und Fachvertreter, zunehmend entmachtet und bewege sich allgemein »in Richtung auf ein autoritäres Regierungssystem«. Die Überführung der Schlüsselindustrien in Gemeineigentum sei verpasst und verhindert, die Mitbestimmung als Mittel der gesellschaftspolitischen Neuordnung zur Lehre von der Partnerschaft von Kapital und Arbeit heruntergekocht worden, obwohl doch klar sein sollte, »dass die Mitbestimmung den kapitalistischen Charakter des Unternehmens nicht ändert, dass sie den Betrieb nicht aus der Marktlage und den Konjunkturschwankungen befreit«.
Selbst von sozialer Gerechtigkeit könne nicht ernsthaft gesprochen werden. Die Restauration der kapitalistischen Produktions- und Verkehrsverhältnisse sei auf dem Rücken der abhängig Beschäftigten vollzogen worden und setze sich auch unter den Bedingungen des seit Anfang der 50er Jahre zu beobachtenden »Wirtschaftswunders« nach diesem Muster fort. Den überdurchschnittlichen, schon Ende der 40er Jahre ihre Vorkriegshöhe deutlich überschreitenden Unternehmensgewinnen, stehe noch immer ein Lohnniveau gegenüber, das zwar seit 1949/50 um ein Drittel gestiegen sei, die Vorkriegshöhe jedoch noch nicht wieder erreicht habe. Bei einer durchschnittlichen Wochenarbeitszeit von 51/52 Stunden läge der Verbrauch pro Kopf der Bevölkerung noch um 8% niedriger als vor dem Kriege. Und während das westdeutsche Preisniveau im Vergleich mit 16 westlichen Ländern weit oben an vierter Stelle stehe, stehe die Kaufkraft des Industriearbeiterlohns gerade mal an drittletzter Stelle. »Die Einkommenspyramide in Deutschland geht von einer äußerst breiten Basis aus und steigert sich schnell zu einer steilen Spitze.«
Unter starkem Beifall zog Agartz aus seiner Analyse die Forderung, dass es der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung weiterhin um eine grundsätzliche Neuordnung der Produktionsweise gehen müsse und betonte, ebenfalls unter Beifall, »dass auf der Grundlage der bisherigen Eigentumsordnung eine solche von uns angestrebte optimale Lösung nicht möglich ist«. Als Hebel einer solchen neuen Offensive schlug er radikale Arbeitszeitverkürzungen (40-Stunden-Woche) und eine expansive Lohnpolitik vor, er rief zum Kampf gegen die Verinnerlichung der immer weiter um sich greifenden Markt- und Profitlogik auf. »Die Gewerkschaften sind kein Apparat von Funktionären, sondern eine Bewegung der um ihre Besserstellung ringenden Menschen. Die Gewerkschaften sind nicht Selbstzweck, sondern Instrumente in diesem Ringen.« Im Bewusstsein dieser »Schicksalsgemeinschaft« »dürfen wir mit Recht ausrufen: Brüder, zur Sonne, zur Freiheit!«
Die in den zurückliegenden Jahren arg geschundenen und teilweise stark frustrierten Gewerkschafter feierten die fast dreistündige Rede mit stehenden Ovationen und minutenlangem Beifall. Agartz, zu jener Zeit Direktor des Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts (WWI) der Gewerkschaftsbewegung, hatte sie im Vorfeld des Kongresses auf Dutzenden Gewerkschaftstreffen kollektiv abgestimmt, um eine umfassende und offensive Neuausrichtung der westdeutschen Gewerkschaftsbewegung zu gewährleisten. Was jedoch nur eine Handvoll Menschen wusste, war, dass er diese Rede auch zu benutzen gedachte, die radikale Linke in und um die Gewerkschaften herum zu organisieren und zu mobilisieren. Im Vorfeld war es deswegen u.a. zu einem streng geheim gehaltenen Treffen im Kölner Dom- Hotel gekommen, zu dem Agartz und sein Mitarbeiter Theo Pirker mit Arkadi Gurland, Wolfgang Abendroth, Leo Kofler und Ernest Mandel die »grauen Eminenzen« des marxistischen Linkssozialismus der 50er Jahre eingeladen hatten, an der Rede mitzuwirken.
Auch wenn Agartz‘ innergewerkschaftliche Gegner von dieser fraktionellen Seite der Frankfurter Rede nichts gewusst haben dürften, so war ihnen jedoch klar, dass die wesentlich unter seinem Einfluss und dem Eindruck seiner Rede gefassten Frankfurter Beschlüsse — Ablehnung eines deutschen Wehrbeitrags; aktive/expansive Lohnpolitik; Ablehnung jeder Form von »Miteigentums«-Modellen; Überführung der Montanindustrie in Gemeineigentum; Ausarbeitung eines neuen gewerkschaftspolitischen Aktionsprogramm — zu jener Kraftprobe mit Kapital und Kabinett des gerade restaurierten und ökonomisch kräftig durchstartenden Westdeutschland führen würde, die sie aller Wahrscheinlichkeit nach nicht heil überstehen würden.
Bereits in den bis 1952 geführten Kämpfen um die Mitbestimmung hatte die Gewerkschaftsbewegung eine nachhaltige Niederlage einstecken müssen und sich von weitergehenden Sozialisierungsforderungen verabschiedet. Die voll auf den Export ausgerichtete Ökonomie boomte unter dem Eindruck des Koreakriegs, die Unternehmerschaft hatte sich ökonomisch erfolgreich rekonstituiert und ging auch politisch wieder in die Offensive. Im Oktober 1952 wurde das Betriebsverfassungsgesetz verabschiedet, im Januar 1953 das Streikrecht durch Beschluss des Bundesarbeitsgerichts deutlich eingeschränkt. Parallel dazu ging der Kampf um die Remilitarisierung verloren.
Mit dem Tod des charismatischen Gewerkschaftsvorsitzenden Hans Böckler im Februar 1951 und des alle überragenden Kurt Schumacher im August 1952 endete symbolisch eine Zeit, »in der alles möglich schien und in der tatsächlich so wenig möglich war« (Theo Pirker). Und als die SPD auch noch die Bundestagswahlkampf 1953 verlor, verbreiteten sich Niedergeschlagenheit und Ohnmacht auf der einen und — zumal nach der Niederschlagung des ostdeutschen Aufstands im Juni 1953 — ein verschärfter Antikommunismus auf der anderen Seite. Ein Rückzug war angesagt und den Ansprüchen der von Agartz repräsentierten radikalen Minderheit musste mindestens ein symbolischer Riegel vorgeschoben werden.
Viktor Agartz bot sich als Symbol geradezu an. Nicht nur, dass er sich gerade auf eine neue linke Oppositionspolitik gegen Restauration und Anpassung einstellte, er repräsentierte, neben Kurt Schumacher und Hans Böckler, mit seiner ganzen Biografie, mit seinen Stärken und Schwächen, den sozialdemokratisch-gewerkschaftlichen Aufbruchsgeist der ersten Nachkriegsjahre.

Von Remscheid nach Köln

In den Trümmerlandschaften des niedergekämpften Nachkriegsdeutschland hatte der kometenhafte Aufstieg des bis dahin allenfalls lokal bekannten, so bodenständigen wie marxistischen Idealisten und gleichermaßen praktisch wie theoretisch versierten Ökonomen begonnen.
Der am 15.November 1897 geborene und in einer alten Remscheider Metallarbeiterfamilie aufgewachsene Viktor Agartz hatte sich während seines Studiums in den 20er Jahren in sozialistischen Studiengruppen in Marburg und Köln und als Dozent in Gewerkschaftskreisen engagiert und als Angestellter in einer Konsumgenossenschaft gearbeitet. Zeitlebens auf dem linken Flügel der SPD stehend, wurde der 1925 promovierte Doktor der Staatswissenschaften zum erfolgreichen kaufmännischen Direktor einer Kölner Konsumgenossenschaft und gleichzeitigen Geschäftsführer einer Stahlwarenfabrik.
Nach Krieg und Faschismus, den er als Wirtschaftsprüfer und im antifaschistischen Widerstand überlebte, wurde Agartz zuerst wirtschaftspolitischer Berater der Gewerkschaftsführung um Hans Böckler, den er seit den 20er Jahren auch persönlich gut kannte, und schließlich — zuerst als Generalsekretär des Deutschen Wirtschaftsrats sowie Mitglied diverser ökonomischer wie politischer Beiräte und Unterausschüsse, dann als Generalsekretär des Zentralamts für Wirtschaft für die britische Besatzungszone und Mitglied des nordrhein-westfälischen Landtags — der wichtigste Wirtschaftspolitiker von SPD und DGB.
Körperlich vollkommen erschöpft und auf nachhaltigen Druck der US-amerikanischen Militärmacht, die in ihm den Repräsentanten des anderen, des gefährlichen sozialistischen Deutschland sah, zog sich der Multifunktionär Mitte 1947 zurück, kam erst 1948 langsam zurück und übernahm im Mai 1949 als Direktor das WWI, das er zur intellektuellen Kaderschmiede der Gewerkschaftsbewegung und zu einem ausgesprochen einflussreichen, öffentlich nachgefragten Institut ausbaute.
Mit dem 1952/53 nicht mehr zu verdrängenden Scheitern der Klassenkämpfe gegen die bürgerlich-kapitalistische Restauration wurde auch Viktor Agartz klar, dass der Kampf fürs erste verloren war. Es galt, sich neu zu positionieren. Und im unmittelbaren Anschluss an die für die SPD verlorene zweite Bundestagswahl veröffentlichte er zu diesem Zweck im Dezember 1953 einen kleinen, aber Aufsehen erregenden Artikel, in dem er aus Lohnfragen Machtfragen zu machen versuchte.
Er propagierte eine dynamische und expansive Lohnpolitik nicht nur als Mittel der Konjunkturpolitik, sondern vor allem, um den Arbeiterinnen und Arbeitern einen steigenden Anteil am gesamtgesellschaftlichen Kuchen zu sichern.
»In einem sog. marktwirtschaftlichen System«, schrieb Agartz »ist jede expandierende Wirtschaft von der Gefahr bedroht, dass die Nachfrage hinter dem Warenangebot zurückbleibt. Daher bedarf es einer Konjunkturpolitik, die sicherstellt, dass das volkswirtschaftliche Gleichgewicht gewahrt bleibt. Diese Konjunkturpolitik ist durch eine aktive Strukturpolitik zu ergänzen, um alle verfügbaren Arbeitskräfte und ihren Zuwachs zum Einsatz zu bringen. Sowohl für eine aktive Konjunktur- wie auch Strukturpolitik ist die Lohnpolitik das wichtigste Instrument. Die Lohnpolitik darf nicht allein dynamisch, sie muss auch expansiv sein. Sie darf sich nicht damit begnügen, den Reallohn an die volkswirtschaftliche Entwicklung nachträglich heranzubringen. Sie muss versuchen, die wirtschaftliche Expansion von sich aus zu forcieren, um durch bewusste Kaufkraftsteigerung eine Ausweitung der Produktion herauszufordern.«
Damit machte er sich zum erklärten Feind jener gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Kreise, die schon seit langem auf das Abschneiden alter Zöpfe drangen und die sowohl politische wie gewerkschaftliche Anpassung an die restaurierte Macht des Faktischen forderten, um endlich mehrheitsfähig zu werden. Zum wichtigsten öffentlichen Kontrahenten von Agartz wurde allerdings Oswald von Nell-Breuning, der von einer gleichsam naturgegebenen Partnerschaft zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ausgehende Cheftheoretiker des christlichen Gewerkschaftsflügels. Nell-Breuning entfachte eine publizistische Kampagne gegen Agartz und drohte offen und ernsthaft mit einer Spaltung der Einheitsgewerkschaft.

Nach Frankfurt

Die erfolgreiche Restauration des bürgerlichen Konservatismus einerseits und die innergewerkschaftlichen Richtungskämpfe bilden so den eigentlichen Hintergrund dafür, dass Agartz und die gewerkschaftliche Linke auf dem dritten DGB-Bundeskongress 1954 in Frankfurt zum organisierten Gegenangriff überzugehen versuchten. Doch der scheinbare Erfolg von Frankfurt sollte sich schnell in sein Gegenteil verkehren.
Schon wenige Wochen nach dem Kongress wurde Agartz offen beschuldigt, gegen den Bundesvorstand des DGB zu agitieren und die Einheit der Gewerkschaftsbewegung zu gefährden. Das innergewerkschaftliche Klima wurde zusehends rauer und Agartz‘ führende Rolle im WWI beschnitten. Als er im Spätsommer 1955 seinen WWI-Mitdirektoren Gleitze mit Hilfe von belastenden Briefen, die kurz darauf für gefälscht erklärt wurden, der Abhängigkeit von Ost-Berlin beschuldigte, wurden Agartz und Gleitze vom Bundesvorstand »beurlaubt« und Agartz wichtigsten Mitarbeitern (Theo Pirker und Walter Horn) gekündigt. Als die Affäre im Dezember 1955 mit einer entsprechend großzügigen Abfindung in den offiziellen Ruhestand offiziell beendet wurde, erntete die Gewerkschaftsführung nicht nur, aber vor allem von der gewerkschaftlichen Basis, heftigen innergewerkschaftlichen Protest. Die Würfel waren allerdings gefallen, die »Gruppe Agartz« gescheitert.
Was jedoch die einen als das unrühmliche Ende einer beispiellosen Karriere betrachten, lässt sich auch anders sehen, denn Agartz hatte bereits neue Pläne. Und wenn diese auch nicht mehr die große Politik beeinflussen sollten, so sind sie doch von einer bleibenden Bedeutung gerade für eine politische Linke, die sich nicht in der einen oder anderen Weise abzufinden gedenkt mit dem Status quo eines noch immer klassengesellschaftlich strukturierten spätbürgerlichen Kapitalismus. Davon jedoch in der nächsten Ausgabe der SoZ mehr.

Christoph Jünke

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