SoZSozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Januar 2005, Seite 8

Neoliberale Irrtümer

Gefährden Löhne und Sozialstaat den Standort Deutschland?

Die hegemoniale Macht des neoliberalen Einheitsdenken scheint ungebrochener denn je. Umso notwendiger ist, immer wieder gegen die ideologischen Mythen des Neoliberalismus anzugehen. Der Münchner isw-report 60 (www.isw-muenchen.de) hat sich soeben mit fünf Beiträgen den »Irrtümern des Neoliberalismus« gewidmet. Mit freundlicher Genehmigung von Autor und Redaktion veröffentlichen wir den (hier leicht gekürzten) Beitrag von Fred Schmid.

»Ist Deutschland noch zu retten?«, fragt der Papst der Neoliberalen und Chef des Ifo- Instituts Hans-Werner Sinn. Der »kranke Mann Europas« habe seine ökonomische Potenz, sprich »Wettbewerbsfähigkeit« verloren. Nur eine Kostenradikalkur könne den völligen Niedergang verhindern. 40 Stunden und mehr bei gleichem Lohn müsse gearbeitet werden, dann seien auch die Arbeitsplätze wieder international konkurrenzfähig, kämen die Arbeitslosen wieder in Lohn und Brot.
Permanente Überflutung mit derartigen ideologischen Produkten der CSU-gesponserten Sinn-Fabrik und anderen Ergüssen unternehmernaher Institute, medial aufbereitet von Bild bis Spiegel und nachgeplappert von der Großen Koalition der politischen Sozialstaatdemontierer, haben ihre Wirkung in der Öffentlichkeit nicht verfehlt. Glaubt man Umfragen, dann sprechen sich 57% der Deutschen für unentgeltliche Mehrarbeit aus, um den »Standort Deutschland« zu retten.
Im Folgenden wird untersucht, wie es um die Stärke oder Schwäche des Standorts Deutschland tatsächlich bestellt ist; in einem weiteren Kapitel werden die ökonomischen und beschäftigungspolitischen Wirkungen einer Arbeitszeitverlängerung aufgezeigt und in einem abschließenden Absatz werden Probleme einer lohnpolitischen Strategie aufgezeigt, die sich in die neoliberale Standortlogik einzwängen lässt.

Exportweltmeister

Peinlich für Ifo-Präsident Sinn: In der Erstauflage (August 2003) seines Buches Ist Deutschland noch zu retten? hatte er noch einen ganzen Abschnitt unter den Titel »Rückgang des Weltmarktanteils« gestellt, um daraus seine Diagnose »mangelnde internationale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands« abzuleiten. Trotz seines Stabs von 150 Mit- und Zuarbeitern hatte der Chefökonom nicht gemerkt oder nicht wahrhaben wollen, was die Bundesbank in ihrem Monatsbericht vom Oktober 2003 lapidar feststellte: »Seit Mitte der 90er Jahre (!) hat Deutschland einen kräftigen Anstieg der realen Weltmarktanteile zu verzeichnen, der sich auch nach dem Beginn der Währungsunion fortsetzte.« Die Bundesbank resümiert: »Dies belegt die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Exportwirtschaft gegenüber den Unternehmen aus anderen EWU- Ländern.«
Es kam noch schlimmer für die Standortmiesmacher. Im gleichen Monat Oktober meldete die OECD, dass Deutschland 2003 auch in absoluten Zahlen Exportweltmeister werde. Mit einem Anteil von 1,2% der Weltbevölkerung hat Deutschland einen Anteil an den Weltexporten von über 10% erzielt und die USA — mit der dreieinhalbfachen Bevölkerung und dem fünfmal größeren Bruttoinlandsprodukt (BIP) — auf Platz zwei verwiesen. Fragt sich der ideologisch Unvoreingenommene, wie ein derart postulierter Wettbewerbsschwächling die internationale Konkurrenz aus dem Felde schlagen kann. Mehr noch. Die Erhöhung des deutschen Anteils an den Weltexporten ist umso bemerkenswerter, als in den 90er Jahren die aufstrebenden Volkswirtschaften Südostasiens auf die Exportmärkte vordrangen und Mittel- und Osteuropa in die Weltwirtschaft integriert wurden. China z.B. ist mittlerweile die viertstärkste Exportnation.
Bemerkenswert ist auch, dass der deutsche Außenhandel in den Dollarraum in den letzten Jahren stärker gestiegen ist als der Intra-Handel mit den Partnern im Euro-Raum. Die Dollarabwertung hatte ja preislich die Exportchancen in den Dollarraum gemindert. Zugleich aber konnten inländische Unternehmen mit Anbietern aus anderen EWU-Ländern bestehen, hatte »sich die preisliche Wettbewerbsfähigkeit der inländischen Unternehmen wegen des geringeren Kostenanstiegs auch gegenüber den Konkurrenten aus den anderen EWU-Ländern verbessert« (Bundesbank). Dadurch weiteten deutsche Exporteure ihre Marktanteile auch innerhalb des Euro-Raums aus: »Dies belegt — wie im Übrigen andere Indikatoren ebenfalls — die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Exportwirtschaft gegenüber den Unternehmen aus anderen EWU- Ländern.«
Da seine Unkenrufe durch die Realität und selbst von einer neoliberalen Institution wie der Bundesbank so eklatant ad absurdum geführt wurden, musste Professor Sinn zu einer Hilfskonstruktion Zuflucht nehmen, damit seine zentrale These »mangelnde deutsche Wettbewerbsfähigkeit« nicht in sich zusammenfiel.
Der Verweis auf die Exportweltmeisterschaft sei Augenwischerei. Wegen der Standortschwäche würden immer größere Teile der Vorproduktkette in Niedriglohnländer, vorrangig nach Osteuropa, verlagert. Was Sinn dann beschreibt, ist lediglich ein Vorgang, den man gemeinhin als »Globalisierung« bezeichnet und der für alle Industrieländer typisch ist. Die transnationalen Konzerne legen ihre Wertschöpfungsketten rund um den Globus und die einzelnen Glieder dorthin, wo es für sie am kostengünstigsten ist. Bevorzugt sind dabei grenznahe Regionen. Was für Deutschland Osteuropa ist, sind für die USA die Maquiladoras in Mexiko und im »Flying-Goose-Modell« Japans die südostasiatischen »Tigerökonomien«.
Zu dem von Sinn konstatierten Missverhältnis zwischen dem Wachstum der Industrieproduktion und der industriellen Wertschöpfung merkt der Chefökonom der Financial Times Deutschland, Thomas Fricke, an: »Der Haken an den Zahlen ist, dass die Wertschöpfung der Industrie auch und vor allem deshalb langsamer stieg, weil die deutschen Firmen einen internationalen Trend nachholten und Teile ihrer Produktion an Dienstleister auslagern; die entsprechende Wertschöpfung taucht jetzt in den Servicestatistiken auf, nicht in Osteuropa. Das gleiche Phänomen gibt es in den USA, wo die Industrieproduktion nach 1994 um ein Drittel, die Wertschöpfung aber nur um ein Fünftel stieg.«
Würde Sinns These zutreffen, dass in deutschen Exportgütern zunehmend Vorprodukte aus Niedriglohnländern enthalten seien, dann hätten in den vergangenen Jahren die Importe schneller steigen müssen als die Exporte, vornehmlich aus den osteuropäischen Ländern. Denn die Zwischen- und Teilprodukte aus diesen Ländern gehen in die Importstatistik ein. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Erstens: Deutschland erzielt gegenüber den »mittel- und osteuropäischen Reformländern« beträchtliche Außenhandelsüberschüsse mit steigender Tendenz. Zweitens hat sich der deutsche Ausfuhrüberschuss von 1995 bis 2003 verdreifacht, von 43 Milliarden Euro auf 130 Milliarden Euro. Deutschland ist nicht nur Exportweltmeister, sondern auch im Ausfuhrüberschuss — zusammen mit Japan — Weltspitze. Auch unter Berücksichtigung der Wertschöpfungsanteile aus den Niedriglohnländern ist Deutschland also Spitzenreiter im internationalen Wettbewerb.
Selbst im Standortranking des Genfer World Economic Forum, das auch Faktoren der Politik, Geschäftsmoral, Technologie u.ä. berücksichtigt, liegt Deutschland unter 102 Ländern auf Platz 5 — hinter drei skandinavischen Ländern und den USA. Vor Großbritannien, der Schweiz, Singapur, den Niederlanden, Frankreich usw. Deutschland hat kein Wettbewerbs- oder Standortproblem. Im Gegenteil: wegen des permanenten Kostendumpings im Namen der »internationalen Konkurrenzfähigkeit« besteht die deutsche Krankheit in der schwindsüchtigen Binnennachfrage.

Arbeitskosten und Lohnstückkosten

»Deutschlands Industrie hat mit Ausnahme Norwegens … die höchsten Arbeitskosten der Welt«, stellt Sinn in Übereinstimmung mit dem Institut der deutschen Wirtschaft fest. Dankenswerterweise hat das Unternehmerinstitut diese getrennt nach West- und Ostdeutschland ausgewiesen. In den neuen Bundesländern liegen die Arbeitskosten um genau 10 Euro pro Stunde oder um 38% niedriger und werden nur noch von Spanien, Griechenland und Portugal unterboten. Gemäß Sinns Theorie müsste die Wirtschaft Ostdeutschlands eine einzige blühende Landschaft sein.
Die US-Lohnkosten liegen um etwa 15% niedriger als die deutschen, moniert Sinn — was ziemlich genau der Abwertung des Dollars in den vergangenen Monaten entspricht, könnte man ergänzen. Und man fragt sich zudem, weshalb die US-Wirtschaft dann derartig gigantische Handelsbilanzdefizite hinnehmen muss. Offenbar sagen die absoluten Arbeitskosten überhaupt nichts aus über die internationale Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft. Erst wenn sie zur Arbeitsproduktivität in Beziehung gesetzt werden, haben sie als Lohnstückkosten eine gewisse Aussagekraft.
In der Zählergröße »Arbeitnehmerentgelt« sind auch sämtliche sog. Lohnnebenkosten mit enthalten, eine gesonderte Betrachtung ist überflüssig und irreführend. Auch Veränderungen der Arbeitszeit, der Feier- und Urlaubstage gehen in die Formel ein. Verkürzt sich z.B. die Arbeitszeit je Arbeitnehmer, dann wird der Wert im Nenner — unter sonst gleichen Umständen — geringer. Die Lohnstückkosten steigen.
Im internationalen Vergleich ist die Entwicklung der nominalen Lohnstückkosten in der jeweiligen Landeswährung die entscheidende Kennziffer. Dadurch werden Verzerrungen durch Wechselkursänderungen ausgeschlossen. »Die Entwicklung der Lohnstückkosten seit Mitte der 90er Jahre passt nicht zu der Behauptung zu hoher Löhne im internationalen Wettbewerb«, schreibt das ehemalige Mitglied des Sachverständigenrats, Professor Kromphardt.
»Gerade in der Zeit, in der Deutschland im Wachstum so stark zurückgefallen ist, sind unter den Industriestaaten die Lohnstückkosten in Deutschland am langsamsten gestiegen. Nur in Japan sind sie durchgängig gesunken, ohne dass sich dort ein Wachstumsprozess entfaltet hätte.« Und Tilman Brück, Leiter der Abteilung Weltwirtschaft beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), bei Vorstellung der DIW-Studie »Lohnkosten im internationalen Vergleich«: »Unsere Lohnstückkosten sind durchaus wettbewerbsfähig. Es ist ok, wenn ein deutscher Arbeiter mehr verdient als ein Amerikaner, solange er auch mehr produziert.«

Längere Arbeitszeiten

Die »Beweisführung« Sinns dient nur einem Zweck, den er selbst formuliert: Das »Tarifkartell zu knacken« und »den Marktkräften bei der Festlegung der Löhne und Gehälter freien Lauf zu lassen«. Mit der Freigabe der Löhne würden diese gesenkt, mit der Folge, dass wie beim niederländischen »Poldermodell ein Jobwunder« geschaffen würde. Sinn: »Eine Lohnsenkung von durchschnittlich 10% bis 15% (würde) ausreichen, um die Arbeitslosigkeit weitgehend zu beseitigen.«
Nun ist es ein weiteres Pech von Professor Sinn, dass sein Vorbild Holland nach Erscheinen seines Buches arg von Krisen gebeutelt wurde — u.a. deshalb, weil das »süße Gift des Lohnverzichts« sich auf die Dauer produktivitäts- und wachstumshemmend auswirkte, wie es Professor Alfred Kleinknecht von der Universität Amsterdam Ende 2003 formulierte: »Neue produktivere Maschinen werden nur zögernd eingeführt, zumal die älteren und arbeitsintensiveren Maschinen durch die gemäßigten Löhne länger rentabel genutzt werden können.« Das heißt: »Wachstum nicht durch Innovation, sondern durch Transpiration«.
Direkte Lohnsenkungen waren zunächst in Deutschland nicht durchsetzbar. Deshalb erfolgte der Angriff über die Hintertür der Arbeitszeitverlängerung. Nach Ansicht von Martin Werding, Bereichsleiter des Münchner Ifo- Instituts, sind längere Arbeitszeiten ein »eleganter Weg, die Lohnkosten in Deutschland zu senken«. »Längere Arbeitszeiten bedeuten geringere Löhne«, erklärt Professor Gerhard Bosch, Vizepräsident des Instituts für Arbeit und Technik: »Stundenlöhne über Mehrarbeit zu kürzen, ist ja recht geschickt. Die Monatslöhne bleiben gleich, also merken viele Leute nicht so schnell, dass es weniger um die Arbeitszeit als um ihr Geld geht.«
Verlängerung der Regelarbeitszeit bietet den Konzernen zudem die Möglichkeit verschiedener Optionen: Entweder mehr Arbeitszeit bei gleichem Monatslohn oder geringerer Monatslohn bei gleicher oder weniger Arbeitszeit. »Beides senkt die Lohnkosten, nur im ersten Fall sinken die Lohnkosten pro Stunde und im zweiten pro Monat« (Sinn). Insgesamt läuft der Vorschlag nach genereller Verlängerung der Wochenarbeitszeit darauf hinaus, dass das gleiche Sozialprodukt mit entsprechend weniger Beschäftigten erbracht wird — ein tolles Jobwunder.
Dennoch wurde das »zurück zur 40- Stunden-Woche« zur magischen Formel, die Politiker und Medien eifrig aufgriffen und kolportierten. Die Kampagne nahm teilweise Züge einer Voodoobeschwörung an, trug Merkmale ökonomischen Spiritismus. Der Spiegel erklärte in einer Titelstory »Warum die Deutschen wieder mehr arbeiten müssen«, der Zeit-Aufmacher lautete »Trau keinem unter 40«; wer weniger arbeitet, wurde zum Faulpelz gestempelt.
Die Forschungsinstitute überboten sich mit neuen Höchst- und Zielmarken an Wochenarbeitszeit, die Deutschland angeblich aus der Krise führen würden. »42 Stunden wären eine gute Hausnummer. Bei konstanten Monatslöhnen würden die durchschnittlichen Stundenlöhne um 10% fallen« (Sinn). Dadurch »könnten in Deutschland über 4 Millionen Arbeitsplätze entstehen«. DIW-Präsident Zimmermann, der ein halbes Jahr zuvor feststellte, dass »die Nachfrage nach mehr Arbeitsstunden gar nicht da wäre«, brachte plötzlich die 50-Stunden-Woche ins Gespräch. Fehlte nur noch, dass einer der Standortneurotiker die Wiedereinführung des 12-Stunden-Tags und der Kinderarbeit forderte, um Deutschland vor dem Abstieg aus der Weltmarktliga zu bewahren.

Rammbock Siemens

Als Rammbock fungierte der Siemens-Konzern, der die erste Bresche zur unbezahlten Mehrarbeit schlug. Entweder 40-Stunden-Woche bei gleichem Lohn und Streichung einer Reihe betrieblicher Vergünstigungen (und weitere Lohnkürzungen) oder Verlagerung der Handyproduktion nach Ungarn, lautete die schlichte Erpressungsformel gegenüber den Belegschaften von Bocholt und Kamp-Lintfort. »Siemens: Arbeitszeitrambo mit Lizenz zum Jobkillen« stand auf einem Transparent auf der zentralen Siemens- Betriebsräte- und VK-Leiter-Konferenz der IG Metall in Nürnberg. Gewerkschaft und Betriebsrat ließen sich erpressen. Um die Gewerkschaft nicht zu sehr vorzuführen, erklärte Siemens-Chef Von Pierer das Zugeständnis zum »Einzelfall« ohne Modellcharakter.
Die breite Schneise in Sachen Lohnkürzungen und unentgeltlicher Mehrarbeit walzte Daimler in die gewerkschaftliche Abwehrfront. Im Klartext ging es hier schlicht um Lohnkürzungen in einem Block von 500 Millionen Euro, andernfalls sollten Anschlussmodellreihen von Sindelfingen nach Bremen bzw. Südafrika verlagert werden. Man werde die geforderten 500 Millionen nie schlucken, erklärte IG-Metall-Vize Berthold Huber. Doch das volle Kostenpaket und kein Cent weniger wurden geschluckt. Im Gegenzug wurde eine Arbeitsplatz- und Investitionsgarantie bis 2012 gegeben. Doch Mercedes-Chef Jürgen Hubbert ließ sich eine Hintertür offen und verwies darauf, dass neu verhandelt werden müsse, wenn sich das wirtschaftliche Umfeld stark verändere.
Diesmal posaunte Vorstandsboss Schrempp höchstpersönlich den exemplarischen Charakter des Abschlusses heraus: Die Einigung habe »Modellcharakter für den Standort Deutschland«. Kabinett und Kapital überschlugen sich vor begeisternder Zustimmung: »Vorbildcharakter« (Verband der Automobilindustrie), »Zeichen der Vernunft« (Gesamtmetall), »Sieg der Vernunft« (Clement), »vernünftige Lösung« (Schröder). FDP-Vize Rainer Brüderle brachte die Euphorie der Neoliberalen über die Siemens- und Daimler-Abschlüsse auf den Punkt: »Die IG Metall hat zwei Riesenlöcher in den Flächentarifvertrag gerissen. Tausende kleine und große Löcher müssen folgen.«
Sindelfingen ist überall. Weitere Konzerne wie VW, Opel, MAN, ThyssenKrupp, Thomas Cook, KarstadtQuelle, Stihl, Bosch, Viessmann, Continental und Voith griffen das Signal auf und konfrontierten ihre Belegschaften mit umfangreichen Kostensenkungsprogrammen. Wenn ein hochprofitabler Premiumhersteller wie Mercedes ein solches Sparpaket schnüre, steige der Druck bei den margenschwachen Volumenherstellern wie VW und Opel natürlich immens, sagte der stellvertretende Opel-Gesamtbetriebsratsvorsitzende Peter Klein. Der Häuserkampf hat erst begonnen. Am Ende dürfte der Flächentarifvertrag wie ein Schweizer Käse aussehen.
Mit dem im Februar abgeschlossenen Tarifvertrag können die Konzernherren im Namen der Beschäftigungssicherung den Belegschaften fast jede Öffnung und Einkommensverzicht abpressen. In der »Pforzheimer Vereinbarung« hatten sich Gesamtmetall und IG Metall ausdrücklich zu dem Ziel bekannt, Wettbewerbsfähigkeit zu sichern.
Die IG Metall hat im Falle Daimler einem entsprechenden Paket bei einem profitstrotzenden Konzern zugestimmt. Sie wird sich anderen Unternehmen nicht verweigern können, die jetzt unter demselben Vorzeichen einen Durchbruch versuchen. Das setzt eine Spirale nach unten ohne Ende in Gang. Der Betriebsrat beim Druckmaschinenhersteller MAN Roland in Offenbach erklärte im Juli 2004 zu dem Vorstandsansinnen auf Verlängerung der Arbeitszeit ohne Lohnausgleich: »Wenn wir das machen, ziehen die anderen sofort nach und der Wettbewerbsvorteil ist wieder dahin. Dann gehen wir auf 45 Stunden, dann auf 50 — wo soll das hinführen.«
In Frankreich forderte Wirtschafts- und Finanzminister Nicolas Sarkozy eine »grundlegende Reform« der Gesetze zur 35-Stunden-Woche. In Frankreich wird die Arbeitszeit per Gesetz festgelegt. Auslöser für den Regierungsvorstoß ist der Fall Siemens.
Heiner Flassbeck, Chefökonom der UN- Handels- und Entwicklungskonferenz (UNCTAD), macht noch auf eine andere Gefahr im Zusammenhang mit den flexiblen Öffnungsklauseln aufmerksam: »Wenn ein Manager sich vornimmt, die Preise seiner Produkte um 5% zu senken, dann geht er zum Betriebsrat, droht mit der Abwanderung der Produktion nach Ungarn und verlangt eine Lohnsenkung pro Stunde (am liebsten in der ›eleganten‹ Form der Arbeitszeitverlängerung), die die notwendige Kostensenkung erbringt.« Das Realeinkommen der Arbeitnehmer des betroffenen Betriebs sinkt und ihre Nachfrage nach eigenen und anderen Produkten. Das Ausland verliert gegebenenfalls Marktanteile und Arbeitsplätze: »Doch auch dort werden früher oder später die neuen Zeiten einziehen, die Manager werden die Arbeitnehmer mit den deutschen Exporterfolgen unter Druck setzen und Lohnsenkungen erzwingen. Dann sind — in realer Betrachtung — alle wieder da, wo sie am Anfang waren, nur die Preise sind gefallen und Deflation droht.«
Auch Professor Peter Bofinger, Mitglied des Sachverständigenrats, und Gustav Horn, Konjunkturchef am DIW, warnen vor den Folgen des Preisverfalls durch gesenkte Stundenlöhne. »Es droht ein deflationärer Kostensenkungswettbewerb, der am Ende für alle schädlich ist«, so Bofinger. Laut Horn sind fallende Preise vor allem deshalb problematisch, weil sie die Schuldenlast der Firmen erhöhen und damit die Investitionstätigkeit bremsen. »Die deutsche Diskussion um längere Arbeitszeiten schwappt über auf Belgien, Frankreich und Niederlande. Und damit entsteht eine neue Gefahr, nämlich die eines europäischen Lohndumpings. Das bedeutet, es könnte eine Deflationsspirale mit sinkenden Löhnen und Preisen entstehen und die wäre eine wirtschaftliche Katastrophe.«

Die Logik der Profite

Kaum waren die Tarifbrüche bei Siemens und Daimler unter Dach und Fach, präsentierten die beiden Konzerne Rekord-Profitzahlen. Siemens hat nach den ersten drei Quartalen des Geschäftsjahres den Gewinn nach Steuern um 60% erhöht — gegenüber dem Rekordprofit vom Vorjahr. DaimlerChrysler hat das Betriebsergebnis im ersten Halbjahr mehr als verdreifacht. Der Trend ist allgemein. »Fachleute erwarten bei den 30 größten börsennotierten Aktiengesellschaften Deutschlands in diesem Jahr eine Gewinnsteigerung von 54%. Im kommenden Jahr sollen es nochmals 22% sein.« Trotz dreijähriger Stagnation der Gesamtwirtschaft und Miniwachstum in diesem Jahr. Eine Krise der Profite hat es bei den Multis bislang nie gegeben.
Dabei bleibt die Nachfrage verhalten. Wegen des Kaufkraftschwunds stagnieren die Umsätze bei den meisten Konzernen, gibt es kaum Chancen, ihn zu steigern. Siemens hat seinen Rekordprofit in den ersten neun Monaten des laufenden Geschäftsjahres mit einem Umsatzrückgang von 0,2% erzielt. Auch im Automobilsektor werden die Märkte enger. Der Ausweg für die Konzerne lautet: Profitsteigerung durch Kostensenkungen und Personalabbau.
Ein Aktionärsvertreter formulierte die Marschrichtung auf der Siemens-Hauptversammlung 2003 in der Münchner Olympiahalle offen und brutal: »Wenn die Märkte nichts mehr hergeben, dann muss man die Rendite aus den Kosten holen.« Vor der Olympiahalle demonstrierten gekündigte Kolleginnen und Kollegen von Siemens-Hofmannstraße, darunter einer mit dem Schild: »Mein Arbeitsplatzverlust ist euer Aktiengewinn.« Hinzu kommt jetzt Gratisarbeit zugunsten der Aktionärsdividenden.
Die Aktienmärkte haben jedenfalls den neuen Trend verstanden. »Börsianer fahnden nach weiteren Daimlers«, titelte die Welt im Juli. »Die Konsequenzen sind dramatisch — das Aufbrechen der Tarifverträge wird vor keiner Branche Halt machen«, sagt Bernd Laux, Stratege bei der französischen Investmentbank Cheuvreux. »Die Tragweite ist insbesondere von ausländischen Investoren noch gar nicht erfasst worden.« Der Daimler-Abschluss wurde vom Präsidenten der amerikanischen Handelskammer, Fred Irwin, als »gutes Signal für ausländische Investoren« wahrgenommen. »Die Revolution geht weiter«, überschrieb der Europa-Chefvolkswirt der Bank of America, Holger Schmieding, seine Analyse in der Financial Times Deutschland.
Brutales Kostendumping, insbesondere in Form unentgeltlicher Mehrarbeit, ist der neoliberale Profitausweg aus den sich verengenden Weltmärkten. Die Profitmargen lassen sich so auch bei stagnierenden Umsätzen steigern. Neue Jobs entstehen dadurch nicht. Im Gegenteil. Selbst für den Fall, das Ausland würde nicht mitziehen und der Exportboom nähme um eine weitere Dimension zu, würde der Aufschwung zu einem »Jobless Growth« führen und am Arbeitsmarkt spurlos vorübergehen. Das Wachstum würde bewältigt durch bessere Auslastung der Kapazitäten, durch den laufenden Produktivitätsfortschritt und jetzt zusätzlich durch ehrenamtliche Mehrarbeit der Stammbelegschaften.
Die Financial Times Deutschland schreibt in einer Kolumne unter dem Titel »Schildbürgerstreich Mehrarbeit«: »Bislang galt die Faustregel, dass zwischen 1 und 2% Wirtschaftswachstum notwendig seien, bevor die Zahl der Beschäftigten wieder wächst. Die Mehrarbeit nun droht diese Schwelle in schwindelerregende Höhen zu verschieben. Würde in allen Betrieben eine Arbeitszeitverlängerung um fünf Stunden pro Woche nachvollzogen, könnten die Firmen 15% mehr produzieren, ohne einen einzigen Angestellten einzustellen. Anders ausgedrückt: Bevor die Kapazitäten voll ausgelastet sind und neue Mitarbeiter notwendig werden, müsste die Wirtschaft um 15% wachsen. Selbst die lautesten Befürworter unbezahlter Mehrarbeit behaupten nicht, dass die Rückkehr zur 40-Stunden-Woche einen solchen Konjunkturimpuls auslösen könnte.«
Die neuesten Zahlen des Statistischen Bundesamts zur Entwicklung des BIP weisen in diese Richtung: Im zweiten Quartal 2004 wuchs das BIP gegenüber dem Vorjahr um 2%. Diese Wirtschaftsleistung wurde mit 112000 weniger Personen erbracht. Dabei läuft die Welle unbezahlter Mehrarbeit erst an.

Wider die Standortlogik



Im Folgenden soll in vier kurzen Thesen die Problematik angerissen werden, wenn sich Gewerkschaften in ihrer Lohnstrategie auf die »Standortlogik« einlassen.

1. Deutschland hat kein Wettbewerbsproblem

Im internationalen Konkurrenzkampf ist es keineswegs der »kranke Mann« Europas, es ist vielmehr der Athlet Nr.1. Gnadenlose Rationalisierung und Lohnkostendumping haben dazu geführt, dass die deutsche Wirtschaft einen gigantischen Weltmarktanteil erobern konnte. Über 10% der Weltexporte stammen aus Deutschland. Die Expansionsstrategie stärkte zwar die Weltmarktposition (globale Konkurrenzposition) deutscher Multis, geriet jedoch zum Nachteil der Erwerbstätigen in diesem Land. So wird zwar über ein Drittel des deutschen BIP exportiert, im Bereich der Exportwirtschaft ist jedoch nur ein Fünftel der deutschen Arbeitnehmer beschäftigt. Die Lohnopfer zugunsten der Weltmarkteroberung bewirkten zudem eine Auszehrung der Binnenkaufkraft. Nicht die Weltmarktorientierung, sondern die Schwäche des Binnenmarkts ist das Problem Nr.1.

2. Standortlogik ist Profitlogik

Die Widerlegung neoliberaler Standortargumentationen erwies den pseudowissenschaftlichen, den Auftragscharakter neoliberaler Wirtschaftstheorie. Sinn: »Die Topmanager erteilen den klaren Auftrag, bei den Reformen nicht locker zu lassen…« — also liefert die Sinn-Fabrik das »wissenschaftliche« Material für die Fortführung und Ausgestaltung weiterer Reformen.
Lassen sich die Gewerkschaften auf die Standortlogik ein, geraten sie in eine lohn- und verteilungspolitische Defensiv- und Rechtfertigungsposition. Standortlogik ist Konkurrenz- und Kriegslogik, die von den Belegschaften möglichst hohe Opfer zur Eroberung der Weltmärkte durch das Kapital abverlangt. In Ländern, die führend im Standortwettbewerb sind, werden Lohnzugeständnisse eingefordert, um diese Wettbewerbsposition zu verteidigen. In Ländern mit schlechteren Standortbedingungen werden Zugeständnisse zur Aufholjagd abgepresst. In globalem Maßstab führt dies zum »Wettlauf der Besessenen« (Paul Krugman), zum »race to the bottom«. Für die Lohnabhängigen wird es zum Wettlauf zwischen Hase und Igel, den sie nie gewinnen können.

3. »Doppelnatur« des Lohns

Für das Kapital ist die Arbeitskraft eine Ware, die es möglichst billig auf dem Arbeitsmarkt einzukaufen gilt. Dem dient die Forderung, »die Löhne freizugeben«, »den Marktkräften bei der Festlegung der Löhne und Gehälter freien Lauf zu lassen« (Sinn). Die BDI-Forderung nach »Rückgabe der Freiheit« (Rogowski) führt direkt zurück ins 19.Jahrhundert, zur ungehemmten Vertragsfreiheit, bei der der Unternehmer als Eigentümer der Produktionsmittel aus einer Position der Stärke mit dem Arbeitnehmer verhandelt. Gerade unter den Bedingungen der Globalisierung bestünde dann die Gefahr, dass der Lohn an und unter das Existenzminimum gedrückt würde. Einzelwirtschaftlich betrachtet ergäben sich daraus Kosten- und Profitvorteile für das jeweilige Unternehmen.
Gesamtwirtschaftlich betrachtet ist die Summe der Löhne und Gehälter das entscheidende Nachfrageaggregat. Mit einem Anteil von 57% an der volkswirtschaftlichen Gesamtnachfrage ist der private Verbrauch der entscheidende Nachfrageposten. Mehr noch: Da mittlerweile 80% der staatlichen Steuereinnahmen über Lohn- und Verbrauchsteuern aufgebracht werden, hängt auch der Staatskonsum — 20% der volkswirtschaftlichen Nachfrage — entscheidend von der Lohn- und Gehaltssumme ab. Drei Viertel der Verwendung des BIP stehen damit in unmittelbarem Zusammenhang mit der volkswirtschaftlichen Lohnquote. Indem die Gewerkschaften möglichst hohe Lohnabschlüsse erzielen, sichern sie nicht nur einen Lebensstandard der Arbeitnehmer, der über den unmittelbaren Reproduktionswert der Ware Arbeitskraft — »physisches Minimum« (Marx) — hinausgeht und auch die Befriedigung geistiger, kultureller gesellschaftlicher Bedürfnisse ermöglicht. Marx spricht hier von einem »historischen und moralischen Element«, das sich in der Lohnhöhe niederschlägt. Gesamtwirtschaftlich betrachtet, stärken erfolgreiche Lohnkämpfe die Binnennachfrage und damit Konjunktur und Beschäftigung.

4. Lohnfragen sind Machtfragen

Unter den Bedingungen einer kapitalistischen Marktwirtschaft gibt es keine »richtigen« oder »falschen« Lohnabschlüsse. Das Gerede über einen »Verteilungsspielraum« ist volkswirtschaftlicher Unsinn, es dient lediglich dazu, die Gewerkschaften im Vorfeld lohnpolitischer Auseinandersetzungen zu entwaffnen. »Lohnquote« bzw. »Profitquote« stehen im antagonistischen Gegensatz, ihre Höhe ist das Ergebnis der Verteilungskämpfe zwischen Kapital und Arbeit. Erst wenn die Belegschaften und Gewerkschaften echte Mitbestimmungsrechte über Gewinnverwendung und Investitionen erlangen und im Rahmen einer demokratischen volkswirtschaftlichen Planung mitentscheiden können, macht es Sinn, über gesamtwirtschaftliche Investitions- und Lohnfonds zu sprechen. Aufgabe der Gewerkschaften ist es deshalb, Alternativen zum gegenwärtigen Lohn- und Profitsystem zu entwickeln und einzufordern.
Karl Marx in Lohn, Preis und Profit: »Gewerkschaften tun gute Dienste als Sammelpunkte des Widerstands gegen die Gewalttaten des Kapitals. Sie verfehlen ihren Zweck zum Teil, sobald sie von ihrer Macht einen unsachgemäßen Gebrauch machen. Sie verfehlen ihren Zweck gänzlich, sobald sie sich darauf beschränken, einen Kleinkrieg gegen die Wirkungen des bestehenden Systems zu führen, statt gleichzeitig zu versuchen, es zu ändern, statt ihre organisierten Kräfte zu gebrauchen als einen Hebel zur schließlichen Befreiung der Arbeiterklasse, d.h. zur endgültigen Abschaffung des Lohnsystems.«

Fred Schmid

Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch. Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
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