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Die hegemoniale Macht des neoliberalen Einheitsdenken scheint ungebrochener
denn je. Umso notwendiger ist, immer wieder gegen die ideologischen Mythen des Neoliberalismus anzugehen.
Der Münchner isw-report 60 (www.isw-muenchen.de) hat sich soeben mit fünf Beiträgen den
»Irrtümern des Neoliberalismus« gewidmet. Mit freundlicher Genehmigung von Autor und
Redaktion veröffentlichen wir den (hier leicht gekürzten) Beitrag von Fred Schmid.
»Ist Deutschland noch zu retten?«, fragt der Papst der Neoliberalen und Chef des Ifo-
Instituts Hans-Werner Sinn. Der »kranke Mann Europas« habe seine ökonomische Potenz, sprich
»Wettbewerbsfähigkeit« verloren. Nur eine Kostenradikalkur könne den völligen
Niedergang verhindern. 40 Stunden und mehr bei gleichem Lohn müsse gearbeitet werden, dann seien auch
die Arbeitsplätze wieder international konkurrenzfähig, kämen die Arbeitslosen wieder in
Lohn und Brot.
Permanente Überflutung mit derartigen
ideologischen Produkten der CSU-gesponserten Sinn-Fabrik und anderen Ergüssen unternehmernaher
Institute, medial aufbereitet von Bild bis Spiegel und nachgeplappert von der Großen Koalition der
politischen Sozialstaatdemontierer, haben ihre Wirkung in der Öffentlichkeit nicht verfehlt. Glaubt
man Umfragen, dann sprechen sich 57% der Deutschen für unentgeltliche Mehrarbeit aus, um den
»Standort Deutschland« zu retten.
Im Folgenden wird untersucht, wie es um die
Stärke oder Schwäche des Standorts Deutschland tatsächlich bestellt ist; in einem weiteren
Kapitel werden die ökonomischen und beschäftigungspolitischen Wirkungen einer
Arbeitszeitverlängerung aufgezeigt und in einem abschließenden Absatz werden Probleme einer
lohnpolitischen Strategie aufgezeigt, die sich in die neoliberale Standortlogik einzwängen lässt.
Peinlich für Ifo-Präsident Sinn: In der Erstauflage (August 2003) seines Buches Ist
Deutschland noch zu retten? hatte er noch einen ganzen Abschnitt unter den Titel »Rückgang des
Weltmarktanteils« gestellt, um daraus seine Diagnose »mangelnde internationale
Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands« abzuleiten. Trotz seines Stabs von 150 Mit- und Zuarbeitern
hatte der Chefökonom nicht gemerkt oder nicht wahrhaben wollen, was die Bundesbank in ihrem
Monatsbericht vom Oktober 2003 lapidar feststellte: »Seit Mitte der 90er Jahre (!) hat Deutschland
einen kräftigen Anstieg der realen Weltmarktanteile zu verzeichnen, der sich auch nach dem Beginn der
Währungsunion fortsetzte.« Die Bundesbank resümiert: »Dies belegt die
Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Exportwirtschaft gegenüber den Unternehmen aus anderen EWU-
Ländern.«
Es kam noch schlimmer für die
Standortmiesmacher. Im gleichen Monat Oktober meldete die OECD, dass Deutschland 2003 auch in absoluten
Zahlen Exportweltmeister werde. Mit einem Anteil von 1,2% der Weltbevölkerung hat Deutschland einen
Anteil an den Weltexporten von über 10% erzielt und die USA mit der dreieinhalbfachen
Bevölkerung und dem fünfmal größeren Bruttoinlandsprodukt (BIP) auf Platz zwei
verwiesen. Fragt sich der ideologisch Unvoreingenommene, wie ein derart postulierter
Wettbewerbsschwächling die internationale Konkurrenz aus dem Felde schlagen kann. Mehr noch. Die
Erhöhung des deutschen Anteils an den Weltexporten ist umso bemerkenswerter, als in den 90er Jahren
die aufstrebenden Volkswirtschaften Südostasiens auf die Exportmärkte vordrangen und Mittel- und
Osteuropa in die Weltwirtschaft integriert wurden. China z.B. ist mittlerweile die viertstärkste
Exportnation.
Bemerkenswert ist auch, dass der deutsche
Außenhandel in den Dollarraum in den letzten Jahren stärker gestiegen ist als der Intra-Handel
mit den Partnern im Euro-Raum. Die Dollarabwertung hatte ja preislich die Exportchancen in den Dollarraum
gemindert. Zugleich aber konnten inländische Unternehmen mit Anbietern aus anderen EWU-Ländern
bestehen, hatte »sich die preisliche Wettbewerbsfähigkeit der inländischen Unternehmen wegen
des geringeren Kostenanstiegs auch gegenüber den Konkurrenten aus den anderen EWU-Ländern
verbessert« (Bundesbank). Dadurch weiteten deutsche Exporteure ihre Marktanteile auch innerhalb des
Euro-Raums aus: »Dies belegt wie im Übrigen andere Indikatoren ebenfalls die
Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Exportwirtschaft gegenüber den Unternehmen aus anderen EWU-
Ländern.«
Da seine Unkenrufe durch die Realität und
selbst von einer neoliberalen Institution wie der Bundesbank so eklatant ad absurdum geführt wurden,
musste Professor Sinn zu einer Hilfskonstruktion Zuflucht nehmen, damit seine zentrale These
»mangelnde deutsche Wettbewerbsfähigkeit« nicht in sich zusammenfiel.
Der Verweis auf die Exportweltmeisterschaft
sei Augenwischerei. Wegen der Standortschwäche würden immer größere Teile der
Vorproduktkette in Niedriglohnländer, vorrangig nach Osteuropa, verlagert. Was Sinn dann beschreibt,
ist lediglich ein Vorgang, den man gemeinhin als »Globalisierung« bezeichnet und der für
alle Industrieländer typisch ist. Die transnationalen Konzerne legen ihre Wertschöpfungsketten
rund um den Globus und die einzelnen Glieder dorthin, wo es für sie am kostengünstigsten ist.
Bevorzugt sind dabei grenznahe Regionen. Was für Deutschland Osteuropa ist, sind für die USA die
Maquiladoras in Mexiko und im »Flying-Goose-Modell« Japans die südostasiatischen
»Tigerökonomien«.
Zu dem von Sinn konstatierten
Missverhältnis zwischen dem Wachstum der Industrieproduktion und der industriellen Wertschöpfung
merkt der Chefökonom der Financial Times Deutschland, Thomas Fricke, an: »Der Haken an den Zahlen
ist, dass die Wertschöpfung der Industrie auch und vor allem deshalb langsamer stieg, weil die
deutschen Firmen einen internationalen Trend nachholten und Teile ihrer Produktion an Dienstleister
auslagern; die entsprechende Wertschöpfung taucht jetzt in den Servicestatistiken auf, nicht in
Osteuropa. Das gleiche Phänomen gibt es in den USA, wo die Industrieproduktion nach 1994 um ein
Drittel, die Wertschöpfung aber nur um ein Fünftel stieg.«
Würde Sinns These zutreffen, dass in
deutschen Exportgütern zunehmend Vorprodukte aus Niedriglohnländern enthalten seien, dann
hätten in den vergangenen Jahren die Importe schneller steigen müssen als die Exporte,
vornehmlich aus den osteuropäischen Ländern. Denn die Zwischen- und Teilprodukte aus diesen
Ländern gehen in die Importstatistik ein. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Erstens: Deutschland
erzielt gegenüber den »mittel- und osteuropäischen Reformländern«
beträchtliche Außenhandelsüberschüsse mit steigender Tendenz. Zweitens hat sich der
deutsche Ausfuhrüberschuss von 1995 bis 2003 verdreifacht, von 43 Milliarden Euro auf 130 Milliarden
Euro. Deutschland ist nicht nur Exportweltmeister, sondern auch im Ausfuhrüberschuss zusammen
mit Japan Weltspitze. Auch unter Berücksichtigung der Wertschöpfungsanteile aus den
Niedriglohnländern ist Deutschland also Spitzenreiter im internationalen Wettbewerb.
Selbst im Standortranking des Genfer World
Economic Forum, das auch Faktoren der Politik, Geschäftsmoral, Technologie u.ä.
berücksichtigt, liegt Deutschland unter 102 Ländern auf Platz 5 hinter drei
skandinavischen Ländern und den USA. Vor Großbritannien, der Schweiz, Singapur, den Niederlanden,
Frankreich usw. Deutschland hat kein Wettbewerbs- oder Standortproblem. Im Gegenteil: wegen des permanenten
Kostendumpings im Namen der »internationalen Konkurrenzfähigkeit« besteht die deutsche
Krankheit in der schwindsüchtigen Binnennachfrage.
»Deutschlands Industrie hat mit Ausnahme Norwegens … die höchsten Arbeitskosten der
Welt«, stellt Sinn in Übereinstimmung mit dem Institut der deutschen Wirtschaft fest.
Dankenswerterweise hat das Unternehmerinstitut diese getrennt nach West- und Ostdeutschland ausgewiesen. In
den neuen Bundesländern liegen die Arbeitskosten um genau 10 Euro pro Stunde oder um 38% niedriger und
werden nur noch von Spanien, Griechenland und Portugal unterboten. Gemäß Sinns Theorie
müsste die Wirtschaft Ostdeutschlands eine einzige blühende Landschaft sein.
Die US-Lohnkosten liegen um etwa 15% niedriger
als die deutschen, moniert Sinn was ziemlich genau der Abwertung des Dollars in den vergangenen
Monaten entspricht, könnte man ergänzen. Und man fragt sich zudem, weshalb die US-Wirtschaft dann
derartig gigantische Handelsbilanzdefizite hinnehmen muss. Offenbar sagen die absoluten Arbeitskosten
überhaupt nichts aus über die internationale Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft.
Erst wenn sie zur Arbeitsproduktivität in Beziehung gesetzt werden, haben sie als Lohnstückkosten
eine gewisse Aussagekraft.
In der Zählergröße
»Arbeitnehmerentgelt« sind auch sämtliche sog. Lohnnebenkosten mit enthalten, eine
gesonderte Betrachtung ist überflüssig und irreführend. Auch Veränderungen der
Arbeitszeit, der Feier- und Urlaubstage gehen in die Formel ein. Verkürzt sich z.B. die Arbeitszeit je
Arbeitnehmer, dann wird der Wert im Nenner unter sonst gleichen Umständen geringer. Die
Lohnstückkosten steigen.
Im internationalen Vergleich ist die
Entwicklung der nominalen Lohnstückkosten in der jeweiligen Landeswährung die entscheidende
Kennziffer. Dadurch werden Verzerrungen durch Wechselkursänderungen ausgeschlossen. »Die
Entwicklung der Lohnstückkosten seit Mitte der 90er Jahre passt nicht zu der Behauptung zu hoher
Löhne im internationalen Wettbewerb«, schreibt das ehemalige Mitglied des
Sachverständigenrats, Professor Kromphardt.
»Gerade in der Zeit, in der Deutschland
im Wachstum so stark zurückgefallen ist, sind unter den Industriestaaten die Lohnstückkosten in
Deutschland am langsamsten gestiegen. Nur in Japan sind sie durchgängig gesunken, ohne dass sich dort
ein Wachstumsprozess entfaltet hätte.« Und Tilman Brück, Leiter der Abteilung Weltwirtschaft
beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), bei Vorstellung der DIW-Studie
»Lohnkosten im internationalen Vergleich«: »Unsere Lohnstückkosten sind durchaus
wettbewerbsfähig. Es ist ok, wenn ein deutscher Arbeiter mehr verdient als ein Amerikaner, solange er
auch mehr produziert.«
Die »Beweisführung« Sinns dient nur einem Zweck, den er selbst formuliert: Das
»Tarifkartell zu knacken« und »den Marktkräften bei der Festlegung der Löhne und
Gehälter freien Lauf zu lassen«. Mit der Freigabe der Löhne würden diese gesenkt, mit
der Folge, dass wie beim niederländischen »Poldermodell ein Jobwunder« geschaffen
würde. Sinn: »Eine Lohnsenkung von durchschnittlich 10% bis 15% (würde) ausreichen, um die
Arbeitslosigkeit weitgehend zu beseitigen.«
Nun ist es ein weiteres Pech von Professor
Sinn, dass sein Vorbild Holland nach Erscheinen seines Buches arg von Krisen gebeutelt wurde u.a.
deshalb, weil das »süße Gift des Lohnverzichts« sich auf die Dauer produktivitäts-
und wachstumshemmend auswirkte, wie es Professor Alfred Kleinknecht von der Universität Amsterdam Ende
2003 formulierte: »Neue produktivere Maschinen werden nur zögernd eingeführt, zumal die
älteren und arbeitsintensiveren Maschinen durch die gemäßigten Löhne länger
rentabel genutzt werden können.« Das heißt: »Wachstum nicht durch Innovation, sondern
durch Transpiration«.
Direkte Lohnsenkungen waren zunächst in
Deutschland nicht durchsetzbar. Deshalb erfolgte der Angriff über die Hintertür der
Arbeitszeitverlängerung. Nach Ansicht von Martin Werding, Bereichsleiter des Münchner Ifo-
Instituts, sind längere Arbeitszeiten ein »eleganter Weg, die Lohnkosten in Deutschland zu
senken«. »Längere Arbeitszeiten bedeuten geringere Löhne«, erklärt Professor
Gerhard Bosch, Vizepräsident des Instituts für Arbeit und Technik: »Stundenlöhne
über Mehrarbeit zu kürzen, ist ja recht geschickt. Die Monatslöhne bleiben gleich, also
merken viele Leute nicht so schnell, dass es weniger um die Arbeitszeit als um ihr Geld geht.«
Verlängerung der Regelarbeitszeit bietet
den Konzernen zudem die Möglichkeit verschiedener Optionen: Entweder mehr Arbeitszeit bei gleichem
Monatslohn oder geringerer Monatslohn bei gleicher oder weniger Arbeitszeit. »Beides senkt die
Lohnkosten, nur im ersten Fall sinken die Lohnkosten pro Stunde und im zweiten pro Monat« (Sinn).
Insgesamt läuft der Vorschlag nach genereller Verlängerung der Wochenarbeitszeit darauf hinaus,
dass das gleiche Sozialprodukt mit entsprechend weniger Beschäftigten erbracht wird ein tolles
Jobwunder.
Dennoch wurde das »zurück zur 40-
Stunden-Woche« zur magischen Formel, die Politiker und Medien eifrig aufgriffen und kolportierten. Die
Kampagne nahm teilweise Züge einer Voodoobeschwörung an, trug Merkmale ökonomischen
Spiritismus. Der Spiegel erklärte in einer Titelstory »Warum die Deutschen wieder mehr arbeiten
müssen«, der Zeit-Aufmacher lautete »Trau keinem unter 40«; wer weniger arbeitet, wurde
zum Faulpelz gestempelt.
Die Forschungsinstitute überboten sich
mit neuen Höchst- und Zielmarken an Wochenarbeitszeit, die Deutschland angeblich aus der Krise
führen würden. »42 Stunden wären eine gute Hausnummer. Bei konstanten Monatslöhnen
würden die durchschnittlichen Stundenlöhne um 10% fallen« (Sinn). Dadurch »könnten
in Deutschland über 4 Millionen Arbeitsplätze entstehen«. DIW-Präsident Zimmermann, der
ein halbes Jahr zuvor feststellte, dass »die Nachfrage nach mehr Arbeitsstunden gar nicht da
wäre«, brachte plötzlich die 50-Stunden-Woche ins Gespräch. Fehlte nur noch, dass einer
der Standortneurotiker die Wiedereinführung des 12-Stunden-Tags und der Kinderarbeit forderte, um
Deutschland vor dem Abstieg aus der Weltmarktliga zu bewahren.
Als Rammbock fungierte der Siemens-Konzern, der die erste Bresche zur unbezahlten Mehrarbeit schlug.
Entweder 40-Stunden-Woche bei gleichem Lohn und Streichung einer Reihe betrieblicher Vergünstigungen
(und weitere Lohnkürzungen) oder Verlagerung der Handyproduktion nach Ungarn, lautete die schlichte
Erpressungsformel gegenüber den Belegschaften von Bocholt und Kamp-Lintfort. »Siemens:
Arbeitszeitrambo mit Lizenz zum Jobkillen« stand auf einem Transparent auf der zentralen Siemens-
Betriebsräte- und VK-Leiter-Konferenz der IG Metall in Nürnberg. Gewerkschaft und Betriebsrat
ließen sich erpressen. Um die Gewerkschaft nicht zu sehr vorzuführen, erklärte Siemens-Chef
Von Pierer das Zugeständnis zum »Einzelfall« ohne Modellcharakter.
Die breite Schneise in Sachen
Lohnkürzungen und unentgeltlicher Mehrarbeit walzte Daimler in die gewerkschaftliche Abwehrfront. Im
Klartext ging es hier schlicht um Lohnkürzungen in einem Block von 500 Millionen Euro, andernfalls
sollten Anschlussmodellreihen von Sindelfingen nach Bremen bzw. Südafrika verlagert werden. Man werde
die geforderten 500 Millionen nie schlucken, erklärte IG-Metall-Vize Berthold Huber. Doch das volle
Kostenpaket und kein Cent weniger wurden geschluckt. Im Gegenzug wurde eine Arbeitsplatz- und
Investitionsgarantie bis 2012 gegeben. Doch Mercedes-Chef Jürgen Hubbert ließ sich eine
Hintertür offen und verwies darauf, dass neu verhandelt werden müsse, wenn sich das
wirtschaftliche Umfeld stark verändere.
Diesmal posaunte Vorstandsboss Schrempp
höchstpersönlich den exemplarischen Charakter des Abschlusses heraus: Die Einigung habe
»Modellcharakter für den Standort Deutschland«. Kabinett und Kapital überschlugen sich
vor begeisternder Zustimmung: »Vorbildcharakter« (Verband der Automobilindustrie), »Zeichen
der Vernunft« (Gesamtmetall), »Sieg der Vernunft« (Clement), »vernünftige
Lösung« (Schröder). FDP-Vize Rainer Brüderle brachte die Euphorie der Neoliberalen
über die Siemens- und Daimler-Abschlüsse auf den Punkt: »Die IG Metall hat zwei
Riesenlöcher in den Flächentarifvertrag gerissen. Tausende kleine und große Löcher
müssen folgen.«
Sindelfingen ist überall. Weitere
Konzerne wie VW, Opel, MAN, ThyssenKrupp, Thomas Cook, KarstadtQuelle, Stihl, Bosch, Viessmann, Continental
und Voith griffen das Signal auf und konfrontierten ihre Belegschaften mit umfangreichen
Kostensenkungsprogrammen. Wenn ein hochprofitabler Premiumhersteller wie Mercedes ein solches Sparpaket
schnüre, steige der Druck bei den margenschwachen Volumenherstellern wie VW und Opel natürlich
immens, sagte der stellvertretende Opel-Gesamtbetriebsratsvorsitzende Peter Klein. Der Häuserkampf hat
erst begonnen. Am Ende dürfte der Flächentarifvertrag wie ein Schweizer Käse aussehen.
Mit dem im Februar abgeschlossenen
Tarifvertrag können die Konzernherren im Namen der Beschäftigungssicherung den Belegschaften fast
jede Öffnung und Einkommensverzicht abpressen. In der »Pforzheimer Vereinbarung« hatten sich
Gesamtmetall und IG Metall ausdrücklich zu dem Ziel bekannt, Wettbewerbsfähigkeit zu sichern.
Die IG Metall hat im Falle Daimler einem
entsprechenden Paket bei einem profitstrotzenden Konzern zugestimmt. Sie wird sich anderen Unternehmen
nicht verweigern können, die jetzt unter demselben Vorzeichen einen Durchbruch versuchen. Das setzt
eine Spirale nach unten ohne Ende in Gang. Der Betriebsrat beim Druckmaschinenhersteller MAN Roland in
Offenbach erklärte im Juli 2004 zu dem Vorstandsansinnen auf Verlängerung der Arbeitszeit ohne
Lohnausgleich: »Wenn wir das machen, ziehen die anderen sofort nach und der Wettbewerbsvorteil ist
wieder dahin. Dann gehen wir auf 45 Stunden, dann auf 50 wo soll das hinführen.«
In Frankreich forderte Wirtschafts- und
Finanzminister Nicolas Sarkozy eine »grundlegende Reform« der Gesetze zur 35-Stunden-Woche. In
Frankreich wird die Arbeitszeit per Gesetz festgelegt. Auslöser für den Regierungsvorstoß
ist der Fall Siemens.
Heiner Flassbeck, Chefökonom der UN-
Handels- und Entwicklungskonferenz (UNCTAD), macht noch auf eine andere Gefahr im Zusammenhang mit den
flexiblen Öffnungsklauseln aufmerksam: »Wenn ein Manager sich vornimmt, die Preise seiner
Produkte um 5% zu senken, dann geht er zum Betriebsrat, droht mit der Abwanderung der Produktion nach
Ungarn und verlangt eine Lohnsenkung pro Stunde (am liebsten in der ›eleganten‹ Form der
Arbeitszeitverlängerung), die die notwendige Kostensenkung erbringt.« Das Realeinkommen der
Arbeitnehmer des betroffenen Betriebs sinkt und ihre Nachfrage nach eigenen und anderen Produkten. Das
Ausland verliert gegebenenfalls Marktanteile und Arbeitsplätze: »Doch auch dort werden
früher oder später die neuen Zeiten einziehen, die Manager werden die Arbeitnehmer mit den
deutschen Exporterfolgen unter Druck setzen und Lohnsenkungen erzwingen. Dann sind in realer
Betrachtung alle wieder da, wo sie am Anfang waren, nur die Preise sind gefallen und Deflation
droht.«
Auch Professor Peter Bofinger, Mitglied des
Sachverständigenrats, und Gustav Horn, Konjunkturchef am DIW, warnen vor den Folgen des Preisverfalls
durch gesenkte Stundenlöhne. »Es droht ein deflationärer Kostensenkungswettbewerb, der am
Ende für alle schädlich ist«, so Bofinger. Laut Horn sind fallende Preise vor allem deshalb
problematisch, weil sie die Schuldenlast der Firmen erhöhen und damit die Investitionstätigkeit
bremsen. »Die deutsche Diskussion um längere Arbeitszeiten schwappt über auf Belgien,
Frankreich und Niederlande. Und damit entsteht eine neue Gefahr, nämlich die eines europäischen
Lohndumpings. Das bedeutet, es könnte eine Deflationsspirale mit sinkenden Löhnen und Preisen
entstehen und die wäre eine wirtschaftliche Katastrophe.«
Kaum waren die Tarifbrüche bei Siemens und Daimler unter Dach und Fach, präsentierten die
beiden Konzerne Rekord-Profitzahlen. Siemens hat nach den ersten drei Quartalen des Geschäftsjahres
den Gewinn nach Steuern um 60% erhöht gegenüber dem Rekordprofit vom Vorjahr.
DaimlerChrysler hat das Betriebsergebnis im ersten Halbjahr mehr als verdreifacht. Der Trend ist allgemein.
»Fachleute erwarten bei den 30 größten börsennotierten Aktiengesellschaften
Deutschlands in diesem Jahr eine Gewinnsteigerung von 54%. Im kommenden Jahr sollen es nochmals 22%
sein.« Trotz dreijähriger Stagnation der Gesamtwirtschaft und Miniwachstum in diesem Jahr. Eine
Krise der Profite hat es bei den Multis bislang nie gegeben.
Dabei bleibt die Nachfrage verhalten. Wegen
des Kaufkraftschwunds stagnieren die Umsätze bei den meisten Konzernen, gibt es kaum Chancen, ihn zu
steigern. Siemens hat seinen Rekordprofit in den ersten neun Monaten des laufenden Geschäftsjahres mit
einem Umsatzrückgang von 0,2% erzielt. Auch im Automobilsektor werden die Märkte enger. Der
Ausweg für die Konzerne lautet: Profitsteigerung durch Kostensenkungen und Personalabbau.
Ein Aktionärsvertreter formulierte die
Marschrichtung auf der Siemens-Hauptversammlung 2003 in der Münchner Olympiahalle offen und brutal:
»Wenn die Märkte nichts mehr hergeben, dann muss man die Rendite aus den Kosten holen.« Vor
der Olympiahalle demonstrierten gekündigte Kolleginnen und Kollegen von Siemens-Hofmannstraße,
darunter einer mit dem Schild: »Mein Arbeitsplatzverlust ist euer Aktiengewinn.« Hinzu kommt
jetzt Gratisarbeit zugunsten der Aktionärsdividenden.
Die Aktienmärkte haben jedenfalls den
neuen Trend verstanden. »Börsianer fahnden nach weiteren Daimlers«, titelte die Welt im
Juli. »Die Konsequenzen sind dramatisch das Aufbrechen der Tarifverträge wird vor keiner
Branche Halt machen«, sagt Bernd Laux, Stratege bei der französischen Investmentbank Cheuvreux.
»Die Tragweite ist insbesondere von ausländischen Investoren noch gar nicht erfasst worden.«
Der Daimler-Abschluss wurde vom Präsidenten der amerikanischen Handelskammer, Fred Irwin, als
»gutes Signal für ausländische Investoren« wahrgenommen. »Die Revolution geht
weiter«, überschrieb der Europa-Chefvolkswirt der Bank of America, Holger Schmieding, seine
Analyse in der Financial Times Deutschland.
Brutales Kostendumping, insbesondere in Form
unentgeltlicher Mehrarbeit, ist der neoliberale Profitausweg aus den sich verengenden Weltmärkten. Die
Profitmargen lassen sich so auch bei stagnierenden Umsätzen steigern. Neue Jobs entstehen dadurch
nicht. Im Gegenteil. Selbst für den Fall, das Ausland würde nicht mitziehen und der Exportboom
nähme um eine weitere Dimension zu, würde der Aufschwung zu einem »Jobless Growth«
führen und am Arbeitsmarkt spurlos vorübergehen. Das Wachstum würde bewältigt durch
bessere Auslastung der Kapazitäten, durch den laufenden Produktivitätsfortschritt und jetzt
zusätzlich durch ehrenamtliche Mehrarbeit der Stammbelegschaften.
Die Financial Times Deutschland schreibt in
einer Kolumne unter dem Titel »Schildbürgerstreich Mehrarbeit«: »Bislang galt die
Faustregel, dass zwischen 1 und 2% Wirtschaftswachstum notwendig seien, bevor die Zahl der
Beschäftigten wieder wächst. Die Mehrarbeit nun droht diese Schwelle in schwindelerregende
Höhen zu verschieben. Würde in allen Betrieben eine Arbeitszeitverlängerung um fünf
Stunden pro Woche nachvollzogen, könnten die Firmen 15% mehr produzieren, ohne einen einzigen
Angestellten einzustellen. Anders ausgedrückt: Bevor die Kapazitäten voll ausgelastet sind und
neue Mitarbeiter notwendig werden, müsste die Wirtschaft um 15% wachsen. Selbst die lautesten
Befürworter unbezahlter Mehrarbeit behaupten nicht, dass die Rückkehr zur 40-Stunden-Woche einen
solchen Konjunkturimpuls auslösen könnte.«
Die neuesten Zahlen des Statistischen
Bundesamts zur Entwicklung des BIP weisen in diese Richtung: Im zweiten Quartal 2004 wuchs das BIP
gegenüber dem Vorjahr um 2%. Diese Wirtschaftsleistung wurde mit 112000 weniger Personen erbracht.
Dabei läuft die Welle unbezahlter Mehrarbeit erst an.
Im Folgenden soll in vier kurzen Thesen die Problematik angerissen werden, wenn sich Gewerkschaften
in ihrer Lohnstrategie auf die »Standortlogik« einlassen.
Im internationalen Konkurrenzkampf ist es keineswegs der »kranke Mann« Europas, es ist
vielmehr der Athlet Nr.1. Gnadenlose Rationalisierung und Lohnkostendumping haben dazu geführt, dass
die deutsche Wirtschaft einen gigantischen Weltmarktanteil erobern konnte. Über 10% der Weltexporte
stammen aus Deutschland. Die Expansionsstrategie stärkte zwar die Weltmarktposition (globale
Konkurrenzposition) deutscher Multis, geriet jedoch zum Nachteil der Erwerbstätigen in diesem Land. So
wird zwar über ein Drittel des deutschen BIP exportiert, im Bereich der Exportwirtschaft ist jedoch
nur ein Fünftel der deutschen Arbeitnehmer beschäftigt. Die Lohnopfer zugunsten der
Weltmarkteroberung bewirkten zudem eine Auszehrung der Binnenkaufkraft. Nicht die Weltmarktorientierung,
sondern die Schwäche des Binnenmarkts ist das Problem Nr.1.
Die Widerlegung neoliberaler Standortargumentationen erwies den pseudowissenschaftlichen, den
Auftragscharakter neoliberaler Wirtschaftstheorie. Sinn: »Die Topmanager erteilen den klaren Auftrag,
bei den Reformen nicht locker zu lassen…« also liefert die Sinn-Fabrik das
»wissenschaftliche« Material für die Fortführung und Ausgestaltung weiterer Reformen.
Lassen sich die Gewerkschaften auf die
Standortlogik ein, geraten sie in eine lohn- und verteilungspolitische Defensiv- und
Rechtfertigungsposition. Standortlogik ist Konkurrenz- und Kriegslogik, die von den Belegschaften
möglichst hohe Opfer zur Eroberung der Weltmärkte durch das Kapital abverlangt. In Ländern,
die führend im Standortwettbewerb sind, werden Lohnzugeständnisse eingefordert, um diese
Wettbewerbsposition zu verteidigen. In Ländern mit schlechteren Standortbedingungen werden
Zugeständnisse zur Aufholjagd abgepresst. In globalem Maßstab führt dies zum »Wettlauf
der Besessenen« (Paul Krugman), zum »race to the bottom«. Für die Lohnabhängigen
wird es zum Wettlauf zwischen Hase und Igel, den sie nie gewinnen können.
Für das Kapital ist die Arbeitskraft eine Ware, die es möglichst billig auf dem Arbeitsmarkt
einzukaufen gilt. Dem dient die Forderung, »die Löhne freizugeben«, »den
Marktkräften bei der Festlegung der Löhne und Gehälter freien Lauf zu lassen« (Sinn).
Die BDI-Forderung nach »Rückgabe der Freiheit« (Rogowski) führt direkt zurück ins
19.Jahrhundert, zur ungehemmten Vertragsfreiheit, bei der der Unternehmer als Eigentümer der
Produktionsmittel aus einer Position der Stärke mit dem Arbeitnehmer verhandelt. Gerade unter den
Bedingungen der Globalisierung bestünde dann die Gefahr, dass der Lohn an und unter das
Existenzminimum gedrückt würde. Einzelwirtschaftlich betrachtet ergäben sich daraus Kosten-
und Profitvorteile für das jeweilige Unternehmen.
Gesamtwirtschaftlich betrachtet ist die Summe
der Löhne und Gehälter das entscheidende Nachfrageaggregat. Mit einem Anteil von 57% an der
volkswirtschaftlichen Gesamtnachfrage ist der private Verbrauch der entscheidende Nachfrageposten. Mehr
noch: Da mittlerweile 80% der staatlichen Steuereinnahmen über Lohn- und Verbrauchsteuern aufgebracht
werden, hängt auch der Staatskonsum 20% der volkswirtschaftlichen Nachfrage entscheidend
von der Lohn- und Gehaltssumme ab. Drei Viertel der Verwendung des BIP stehen damit in unmittelbarem
Zusammenhang mit der volkswirtschaftlichen Lohnquote. Indem die Gewerkschaften möglichst hohe
Lohnabschlüsse erzielen, sichern sie nicht nur einen Lebensstandard der Arbeitnehmer, der über
den unmittelbaren Reproduktionswert der Ware Arbeitskraft »physisches Minimum« (Marx)
hinausgeht und auch die Befriedigung geistiger, kultureller gesellschaftlicher Bedürfnisse
ermöglicht. Marx spricht hier von einem »historischen und moralischen Element«, das sich in
der Lohnhöhe niederschlägt. Gesamtwirtschaftlich betrachtet, stärken erfolgreiche
Lohnkämpfe die Binnennachfrage und damit Konjunktur und Beschäftigung.
Unter den Bedingungen einer kapitalistischen Marktwirtschaft gibt es keine »richtigen« oder
»falschen« Lohnabschlüsse. Das Gerede über einen »Verteilungsspielraum« ist
volkswirtschaftlicher Unsinn, es dient lediglich dazu, die Gewerkschaften im Vorfeld lohnpolitischer
Auseinandersetzungen zu entwaffnen. »Lohnquote« bzw. »Profitquote« stehen im
antagonistischen Gegensatz, ihre Höhe ist das Ergebnis der Verteilungskämpfe zwischen Kapital und
Arbeit. Erst wenn die Belegschaften und Gewerkschaften echte Mitbestimmungsrechte über
Gewinnverwendung und Investitionen erlangen und im Rahmen einer demokratischen volkswirtschaftlichen
Planung mitentscheiden können, macht es Sinn, über gesamtwirtschaftliche Investitions- und
Lohnfonds zu sprechen. Aufgabe der Gewerkschaften ist es deshalb, Alternativen zum gegenwärtigen Lohn-
und Profitsystem zu entwickeln und einzufordern.
Karl Marx in Lohn, Preis und Profit:
»Gewerkschaften tun gute Dienste als Sammelpunkte des Widerstands gegen die Gewalttaten des Kapitals.
Sie verfehlen ihren Zweck zum Teil, sobald sie von ihrer Macht einen unsachgemäßen Gebrauch
machen. Sie verfehlen ihren Zweck gänzlich, sobald sie sich darauf beschränken, einen Kleinkrieg
gegen die Wirkungen des bestehenden Systems zu führen, statt gleichzeitig zu versuchen, es zu
ändern, statt ihre organisierten Kräfte zu gebrauchen als einen Hebel zur schließlichen
Befreiung der Arbeiterklasse, d.h. zur endgültigen Abschaffung des Lohnsystems.«
Fred Schmid
Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch.
Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50,
Kontonummer 603 95 04