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Im russischen Staatsfernsehen machte sich Hysterie breit. Erstaunten
Zuschauern wurde in Tönen des Kalten Krieges vorgemacht, der Nachbarstaat Ukraine stehe vor einem
Staatsstreich, den ausländische Geheimdienste geplant hätten.
Die Volksfeinde gingen so geschickt vor, dass sie die Wahlbestimmungen verletzt hätten, um
damit Demonstrationen der Opposition zu provozieren. Ihr Ziel sei, den prowestlich eingestellten Viktor
Juschtschenko anstelle des prorussischen Viktor Janukowitsch an die Macht zu bringen. Wenn »wir«
die Ukraine »verlieren«, wird Russland niemals mehr eine Großmacht, schlossen alle
Kommentatoren.
Russische Beobachter kamen jedoch nicht umhin
festzustellen, dass es bei den Wahlen in Ukraine eine große Zahl von Fälschungen gegeben hat. Es
schien aber, als wollten sie diese ausschließlich in der West-Ukraine sehen, wo die Wahlen angeblich
zugunsten von Juschtschenko manipuliert worden seien.
Aber anders als Russland ist die Ukraine keine
Föderation, sondern ein Zentralstaat, wo die lokalen Behörden dem Staatspräsidenten
unterstellt sind. Vor dem zweiten Wahlgang hatte Präsident Leonid Kutschma die Verwaltungschefs in den
Provinzen ausgetauscht, in denen sich ein Sieg der Opposition abzeichnete. So waren die
Wahlfälschungen in bedeutendem Umfang von den Behörden begünstigt worden, nicht nur im
Osten, auch im Westen.
Daraus folgt natürlich nicht, die
Opposition hätte sich nichts vorzuwerfen. Eher umgekehrt: Im zweiten Wahlgang reagierte die Opposition
auf die Wahlfälschungen der Regierung deutlich mit »Gegenfälschungen« sie
bediente sich derselben abgetrennten Wahlzettel und ließ mehrfach wählen. Im Vergleich zu den
Regierungsbeamten hatte die Opposition jedoch unvergleichlich weniger Möglichkeiten zu administrativen
Tricks. Die Taktik der »Gegenfälschungen« spornte überdies die Regierung an, die
Wahlresultate noch mehr zu berichtigen, sodass am Ende der gesamte Wahlvorgang eine einzige Farce wurde.
Janukowitsch erhielt am Ende die Zahl der
Stimmen, die er brauchte, aber das war ein Pyrrhussieg. Die Opposition ging auf die Straße und sie
hatte genügend moralische und politische Gründe, das Wahlergebnis anzufechten.
Die These vom Wahlkampf einer Washington freundlich gesinnten Opposition gegen eine Moskau freundlich
gesinnte politische Elite hält einer genaueren Prüfung nicht stand; dasselbe gilt für die
wiederholten Behauptungen eines Zusammenpralls eines Ukrainisch sprechenden westlichen und eines Russisch
sprechenden östlichen Landesteils.
Juschtschenko ist zweifellos ein Politiker,
der auf der Seite Washingtons steht. Dasselbe kann aber auch von den derzeitigen Machthabern in der Ukraine
gesagt werden. Es war Staatspräsident Kutschma, der zusammen mit Janukowitsch ukrainische Truppen den
USA zu Hilfe in den Irak geschickt hat. Inzwischen hat eine Reihe von Politikern der Opposition die
Versendung ukrainischer Truppen in den Irak kritisiert so auch die ukrainischen Kommunisten, die
sich geweigert haben, im gegenwärtigen Konflikt eine Seite zu unterstützen.
Genauso falsch sind die Versuche, die
ukrainische Gesellschaft nach Sprachgrenzen zu teilen. Die Hauptstadt Kiew ist eine Hochburg der
Opposition, aber die meistgesprochene Sprache hier ist Russisch. Massendemonstrationen haben auch in
Charkow stattgefunden, das als Zentrum der russischen Kultur in der Ukraine gilt.
Die Proregierungsdemonstrationen, die in
Donezk und in anderen Industriestädten organisiert wurden, glichen den Demonstrationen der
sowjetischen Ära, wo die Leute hingeprügelt wurden. Als Redner traten hauptsächlich
Gewerkschaftsfunktionäre und Verwaltungsbeamte auf, während die Arbeiter die erstbeste
Gelegenheit ergriffen, sich wieder nach Hause zu machen.
Trotz der Ankündigungen, Tausende von
Bergleuten würden nach Kiew gebracht, um sich dort mit der Opposition zu prügeln, konnten die
Behörden nur ein paar Dutzend Donezk-Gangster mit schlecht sitzenden Helmen und eine Gruppe
herausgeputzter Kosaken vorführen. In Wirklichkeit ist die ukrainische Regierung unfähig,
Massenunterstützung für sich zu mobilisieren. Vor richtigen Demonstrationen der Bergleute
fürchtet sie sich sogar.
Gingen Bergarbeiter in großer Zahl auf
die Straße, käme das dem Streik gleich, zu dem die Opposition aufruft. Es ist auch nicht sicher,
dass Unternehmer und Regierungsbeamte unter Janukowitsch in der Lage wären, Arbeiterproteste unter
Kontrolle zu halten.
Die Logik des Kalten Krieges war vielleicht angebracht, als sich noch zwei Systeme einander
gegenüber standen. Jetzt teilen sich Russland und der Westen aber schon eine Weile dasselbe
kapitalistische System. Die Achse der Opposition in der Weltpolitik wird nicht durch die Rivalität
zwischen der NATO und dem Ostblock gebildet (der vor 15 Jahren aufgehört hat zu existieren), sondern
durch die Rivalität zwischen dem Euroblock und dem US-Dollar.
Der Kreml ist ziemlich unfähig zu
definieren, wo er da steht. Unbeholfen versucht er, zwischen Brüssel und Washington zu
manövrieren. Dabei knallt er mit seinem Kopf erst gegen die eine Wand, dann gegen die andere und
verfängt sich in einer Reihe von einseitigen Zugeständnissen an beide Kontrahenten. Der Kreml
saugt keinen Honig aus diesen Zugeständnissen, denn jeder Schritt auf Berlin und Paris zu wird sofort
wettgemacht durch demonstrative Loyalitätsbekundungen in Richtung Washington.
Unklar ist zudem, wie Russland die Ukraine
»verlieren« könnte. Schließlich hat Russland seit langem die Unabhängigkeit der
Ukraine anerkannt. Wenn wir aber nicht von Kontrolle reden, sondern von politischem, moralischem und
kulturellem Einfluss, den Russland in der Nachbarrepublik ausüben kann, dann ist kaum ein schlechteres
Mittel denkbar, dies zu erreichen, als was der Kreml in den letzten Monaten veranstaltet hat. Er hat nicht
nur jeden mit seiner rohen und unverhüllten Art schockiert, wie er sich in die Angelegenheiten eines
souveränen Nachbarstaats einmischt, er hat dies auch so ungeschickt getan, dass er sich selbst
großen Schaden zugefügt hat.
Am komischsten war, wie Präsident Putin
in einer Ansprache an Journalisten in Portugal darum gebeten hat, sie mögen nicht die
Schreckgespenster aus dem Kalten Krieg bemühen, obwohl seine eigenen Propagandisten genau dies
weidlich getan hatten. Putins Reden über die Ukraine verraten seine Konfusion. Einmal tritt er sehr
aggressiv auf und verweist auf die üblen Absichten des Westens; dann versucht er sich gegenüber
demselben Westen zu rechtfertigen und erklärt, er habe Janukowitsch nicht als neu gewählten
Präsidenten beglückwünscht, sondern (und das ist eine Premiere in der Weltdiplomatie)
»auf der Basis der Ergebnisse der Umfragen bei Wahlausgang«.
Im politischen Machtkampf in der Ukraine geht
es um sehr viel, auch für den Kreml. Am allerwenigsten jedoch geht es um nationale Interessen oder um
den vergangenen Konflikt zwischen einem »kommunistischen« Osten und einem kapitalistischen
Westen. Die halbkriminellen Clans, die im Zuge der Privatisierung Kontrolle nicht nur über die
Industrie in der Ostukraine, sondern in bedeutendem Maß auch über die Bevölkerung erlangt
haben, haben enge Beziehungen zu den bürokratisch-oligarchischen Gruppen, die in Moskau herrschen.
Diese Gruppen werden nicht nur durch
Geschäftsbeziehungen zusammen gehalten, sondern auch durch ihre gemeinsame Angst, dass sie früher
oder später zur Rechenschaft gezogen werden, weil sie den gesellschaftlichen Reichtum ihrer
Länder geplündert, Wahlen manipuliert und politische Freiheiten unterdrückt haben.
Aus eben diesem Grund würde der Machtaufstieg der Opposition in der Ukraine für Russlands neue
Eliten ein unheilvolles Exempel setzen, obgleich die Opposition in Kiew äußerst moderat ist und
weder Verstaatlichungen noch eine Umverteilung der Einkommen verspricht.
Das russische Kapital startet derzeit eine
massive Expansion in der Ukraine. Gespräche haben begonnen über den Kauf von Telekom-Firmen,
metallverarbeitende Fabriken und sogar Brauereien. Die Clans in Donezk, die sich um Janukowitsch geschart
haben, brauchen den weiteren Zugang zur Macht um sicher zu gehen, dass die geplanten Vorhaben reibungslos
durchgesetzt werden können.
Die politischen Eliten im Westen denken viel
strategischer. Moskauer Kommentatoren zitieren ständig die Amtsenthebung Schewardnadses in Georgien
als Beispiel für geheime US-Pläne für eine »demokratische Revolution«, vergessen
dabei aber, dass auch in anderen Fällen begrenzte demokratische Revolutionen die Unterstützung
Washingtons erhalten haben auf den Philippinen die gegen Diktator Marcos, in Indonesien die gegen
eine jahrzehntelange Militärdiktatur. In all diesen Fällen hat Washington, wie in Georgien, den
Sturz eines proamerikanischen Systems unterstützt.
Das ist kein Paradox. Die Krise der
herrschenden Eliten hat einen objektiven Charakter, der mit den Intrigen aus Washington nichts zu tun hat.
Alles, was US-Diplomaten tun, ist eine realistische Einschätzung der Situation zu geben, und statt
sich dann auf die Seite der Verlierer zu schlagen, suchen sie sich aus der Opposition neue,
vielversprechendere Partner aus.
Für die Regierenden in den USA ist in
solchen Fällen nur von Bedeutung, dass die neue Führung, die an die Macht kommt, den
außenpolitischen Kurs des Landes beibehält. Anders gesagt unterstützt Washington
demokratische Revolutionen nur mit einem Ziel: ihr radikales Potenzial zu beschneiden.
Moralisch hat die ukrainische Regierung den
Kampf bereits verloren. Der einzige Weg, ihre politische Kontrolle wieder herzustellen, wäre der Griff
zur Gewalt in einem Umfang, der einer Katastrophe nahekäme. Die Vereinbarung über Neuwahlen, die
zwischen Regierung und Opposition geschlossen wurde, wird, wenn sie umgesetzt wird, nichts anderes als eine
sanftere und legitimere Form der Machtübergabe sein.
Gleich wer gewinnt, eines der Hauptopfer der
Krise in der Ukraine wird Wladimir Putin heißen. Indem er das Kutschma-Janukowitsch-Regime offen
unterstützt hat mit viel Geld und einer ganzen Armee von politischen Ratgebern ,
erwachsen ihm daraus nur Probleme. Selbst wenn Janukowitsch gewinnen sollte, wird seine größte
Sorge die Wiederherstellung der Beziehungen mit dem Westen sein. Putin aber hat sich einmal mehr vor seinem
Volk, vor den Streitkräften und vor der Polizei als schwacher und inkomptenter Politiker gezeigt. In
Russland überleben Schwache nicht.
Boris Kagarlitzki
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