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Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Januar 2005, Seite 15

Ukraine

Putins Katastrophe

Im russischen Staatsfernsehen machte sich Hysterie breit. Erstaunten Zuschauern wurde in Tönen des Kalten Krieges vorgemacht, der Nachbarstaat Ukraine stehe vor einem Staatsstreich, den ausländische Geheimdienste geplant hätten.

Die Volksfeinde gingen so geschickt vor, dass sie die Wahlbestimmungen verletzt hätten, um damit Demonstrationen der Opposition zu provozieren. Ihr Ziel sei, den prowestlich eingestellten Viktor Juschtschenko anstelle des prorussischen Viktor Janukowitsch an die Macht zu bringen. Wenn »wir« die Ukraine »verlieren«, wird Russland niemals mehr eine Großmacht, schlossen alle Kommentatoren.
Russische Beobachter kamen jedoch nicht umhin festzustellen, dass es bei den Wahlen in Ukraine eine große Zahl von Fälschungen gegeben hat. Es schien aber, als wollten sie diese ausschließlich in der West-Ukraine sehen, wo die Wahlen angeblich zugunsten von Juschtschenko manipuliert worden seien.
Aber anders als Russland ist die Ukraine keine Föderation, sondern ein Zentralstaat, wo die lokalen Behörden dem Staatspräsidenten unterstellt sind. Vor dem zweiten Wahlgang hatte Präsident Leonid Kutschma die Verwaltungschefs in den Provinzen ausgetauscht, in denen sich ein Sieg der Opposition abzeichnete. So waren die Wahlfälschungen in bedeutendem Umfang von den Behörden begünstigt worden, nicht nur im Osten, auch im Westen.
Daraus folgt natürlich nicht, die Opposition hätte sich nichts vorzuwerfen. Eher umgekehrt: Im zweiten Wahlgang reagierte die Opposition auf die Wahlfälschungen der Regierung deutlich mit »Gegenfälschungen« — sie bediente sich derselben abgetrennten Wahlzettel und ließ mehrfach wählen. Im Vergleich zu den Regierungsbeamten hatte die Opposition jedoch unvergleichlich weniger Möglichkeiten zu administrativen Tricks. Die Taktik der »Gegenfälschungen« spornte überdies die Regierung an, die Wahlresultate noch mehr zu berichtigen, sodass am Ende der gesamte Wahlvorgang eine einzige Farce wurde.
Janukowitsch erhielt am Ende die Zahl der Stimmen, die er brauchte, aber das war ein Pyrrhussieg. Die Opposition ging auf die Straße und sie hatte genügend moralische und politische Gründe, das Wahlergebnis anzufechten.

Ost gegen West?

Die These vom Wahlkampf einer Washington freundlich gesinnten Opposition gegen eine Moskau freundlich gesinnte politische Elite hält einer genaueren Prüfung nicht stand; dasselbe gilt für die wiederholten Behauptungen eines Zusammenpralls eines Ukrainisch sprechenden westlichen und eines Russisch sprechenden östlichen Landesteils.
Juschtschenko ist zweifellos ein Politiker, der auf der Seite Washingtons steht. Dasselbe kann aber auch von den derzeitigen Machthabern in der Ukraine gesagt werden. Es war Staatspräsident Kutschma, der zusammen mit Janukowitsch ukrainische Truppen den USA zu Hilfe in den Irak geschickt hat. Inzwischen hat eine Reihe von Politikern der Opposition die Versendung ukrainischer Truppen in den Irak kritisiert — so auch die ukrainischen Kommunisten, die sich geweigert haben, im gegenwärtigen Konflikt eine Seite zu unterstützen.
Genauso falsch sind die Versuche, die ukrainische Gesellschaft nach Sprachgrenzen zu teilen. Die Hauptstadt Kiew ist eine Hochburg der Opposition, aber die meistgesprochene Sprache hier ist Russisch. Massendemonstrationen haben auch in Charkow stattgefunden, das als Zentrum der russischen Kultur in der Ukraine gilt.
Die Proregierungsdemonstrationen, die in Donezk und in anderen Industriestädten organisiert wurden, glichen den Demonstrationen der sowjetischen Ära, wo die Leute hingeprügelt wurden. Als Redner traten hauptsächlich Gewerkschaftsfunktionäre und Verwaltungsbeamte auf, während die Arbeiter die erstbeste Gelegenheit ergriffen, sich wieder nach Hause zu machen.
Trotz der Ankündigungen, Tausende von Bergleuten würden nach Kiew gebracht, um sich dort mit der Opposition zu prügeln, konnten die Behörden nur ein paar Dutzend Donezk-Gangster mit schlecht sitzenden Helmen und eine Gruppe herausgeputzter Kosaken vorführen. In Wirklichkeit ist die ukrainische Regierung unfähig, Massenunterstützung für sich zu mobilisieren. Vor richtigen Demonstrationen der Bergleute fürchtet sie sich sogar.
Gingen Bergarbeiter in großer Zahl auf die Straße, käme das dem Streik gleich, zu dem die Opposition aufruft. Es ist auch nicht sicher, dass Unternehmer und Regierungsbeamte unter Janukowitsch in der Lage wären, Arbeiterproteste unter Kontrolle zu halten.

Die Fehler des Kreml

Die Logik des Kalten Krieges war vielleicht angebracht, als sich noch zwei Systeme einander gegenüber standen. Jetzt teilen sich Russland und der Westen aber schon eine Weile dasselbe kapitalistische System. Die Achse der Opposition in der Weltpolitik wird nicht durch die Rivalität zwischen der NATO und dem Ostblock gebildet (der vor 15 Jahren aufgehört hat zu existieren), sondern durch die Rivalität zwischen dem Euroblock und dem US-Dollar.
Der Kreml ist ziemlich unfähig zu definieren, wo er da steht. Unbeholfen versucht er, zwischen Brüssel und Washington zu manövrieren. Dabei knallt er mit seinem Kopf erst gegen die eine Wand, dann gegen die andere und verfängt sich in einer Reihe von einseitigen Zugeständnissen an beide Kontrahenten. Der Kreml saugt keinen Honig aus diesen Zugeständnissen, denn jeder Schritt auf Berlin und Paris zu wird sofort wettgemacht durch demonstrative Loyalitätsbekundungen in Richtung Washington.
Unklar ist zudem, wie Russland die Ukraine »verlieren« könnte. Schließlich hat Russland seit langem die Unabhängigkeit der Ukraine anerkannt. Wenn wir aber nicht von Kontrolle reden, sondern von politischem, moralischem und kulturellem Einfluss, den Russland in der Nachbarrepublik ausüben kann, dann ist kaum ein schlechteres Mittel denkbar, dies zu erreichen, als was der Kreml in den letzten Monaten veranstaltet hat. Er hat nicht nur jeden mit seiner rohen und unverhüllten Art schockiert, wie er sich in die Angelegenheiten eines souveränen Nachbarstaats einmischt, er hat dies auch so ungeschickt getan, dass er sich selbst großen Schaden zugefügt hat.
Am komischsten war, wie Präsident Putin in einer Ansprache an Journalisten in Portugal darum gebeten hat, sie mögen nicht die Schreckgespenster aus dem Kalten Krieg bemühen, obwohl seine eigenen Propagandisten genau dies weidlich getan hatten. Putins Reden über die Ukraine verraten seine Konfusion. Einmal tritt er sehr aggressiv auf und verweist auf die üblen Absichten des Westens; dann versucht er sich gegenüber demselben Westen zu rechtfertigen und erklärt, er habe Janukowitsch nicht als neu gewählten Präsidenten beglückwünscht, sondern (und das ist eine Premiere in der Weltdiplomatie) »auf der Basis der Ergebnisse der Umfragen bei Wahlausgang«.
Im politischen Machtkampf in der Ukraine geht es um sehr viel, auch für den Kreml. Am allerwenigsten jedoch geht es um nationale Interessen oder um den vergangenen Konflikt zwischen einem »kommunistischen« Osten und einem kapitalistischen Westen. Die halbkriminellen Clans, die im Zuge der Privatisierung Kontrolle nicht nur über die Industrie in der Ostukraine, sondern in bedeutendem Maß auch über die Bevölkerung erlangt haben, haben enge Beziehungen zu den bürokratisch-oligarchischen Gruppen, die in Moskau herrschen.
Diese Gruppen werden nicht nur durch Geschäftsbeziehungen zusammen gehalten, sondern auch durch ihre gemeinsame Angst, dass sie früher oder später zur Rechenschaft gezogen werden, weil sie den gesellschaftlichen Reichtum ihrer Länder geplündert, Wahlen manipuliert und politische Freiheiten unterdrückt haben.

Drohung für Plünderer

Aus eben diesem Grund würde der Machtaufstieg der Opposition in der Ukraine für Russlands neue Eliten ein unheilvolles Exempel setzen, obgleich die Opposition in Kiew äußerst moderat ist und weder Verstaatlichungen noch eine Umverteilung der Einkommen verspricht.
Das russische Kapital startet derzeit eine massive Expansion in der Ukraine. Gespräche haben begonnen über den Kauf von Telekom-Firmen, metallverarbeitende Fabriken und sogar Brauereien. Die Clans in Donezk, die sich um Janukowitsch geschart haben, brauchen den weiteren Zugang zur Macht um sicher zu gehen, dass die geplanten Vorhaben reibungslos durchgesetzt werden können.
Die politischen Eliten im Westen denken viel strategischer. Moskauer Kommentatoren zitieren ständig die Amtsenthebung Schewardnadses in Georgien als Beispiel für geheime US-Pläne für eine »demokratische Revolution«, vergessen dabei aber, dass auch in anderen Fällen begrenzte demokratische Revolutionen die Unterstützung Washingtons erhalten haben — auf den Philippinen die gegen Diktator Marcos, in Indonesien die gegen eine jahrzehntelange Militärdiktatur. In all diesen Fällen hat Washington, wie in Georgien, den Sturz eines proamerikanischen Systems unterstützt.
Das ist kein Paradox. Die Krise der herrschenden Eliten hat einen objektiven Charakter, der mit den Intrigen aus Washington nichts zu tun hat. Alles, was US-Diplomaten tun, ist eine realistische Einschätzung der Situation zu geben, und statt sich dann auf die Seite der Verlierer zu schlagen, suchen sie sich aus der Opposition neue, vielversprechendere Partner aus.
Für die Regierenden in den USA ist in solchen Fällen nur von Bedeutung, dass die neue Führung, die an die Macht kommt, den außenpolitischen Kurs des Landes beibehält. Anders gesagt unterstützt Washington demokratische Revolutionen nur mit einem Ziel: ihr radikales Potenzial zu beschneiden.
Moralisch hat die ukrainische Regierung den Kampf bereits verloren. Der einzige Weg, ihre politische Kontrolle wieder herzustellen, wäre der Griff zur Gewalt in einem Umfang, der einer Katastrophe nahekäme. Die Vereinbarung über Neuwahlen, die zwischen Regierung und Opposition geschlossen wurde, wird, wenn sie umgesetzt wird, nichts anderes als eine sanftere und legitimere Form der Machtübergabe sein.
Gleich wer gewinnt, eines der Hauptopfer der Krise in der Ukraine wird Wladimir Putin heißen. Indem er das Kutschma-Janukowitsch-Regime offen unterstützt hat — mit viel Geld und einer ganzen Armee von politischen Ratgebern —, erwachsen ihm daraus nur Probleme. Selbst wenn Janukowitsch gewinnen sollte, wird seine größte Sorge die Wiederherstellung der Beziehungen mit dem Westen sein. Putin aber hat sich einmal mehr vor seinem Volk, vor den Streitkräften und vor der Polizei als schwacher und inkomptenter Politiker gezeigt. In Russland überleben Schwache nicht.

Boris Kagarlitzki

(Übersetzung: Angela Klein)



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