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Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Januar 2005, Seite 18

50 Jahre Rock ‘n‘ Roll

Chuck Willis hat‘s gesagt

Der schwarze Rhythm and Blues- und Rock ‘n‘ Roll-Sänger Chuck Willis hat es bereits in seinem posthum veröffentlichten R&R-Hit »Hang Up Your Rock ‘n‘ Roll Shoes« vorausgesagt: »No matter what they say, Rock ‘n‘ Roll is here to stay« — was immer man sagen mag, der Rock ‘n‘ Roll (R&R) bleibt.

Als er 1958 diese stolze Aussage machte, existierte der R&R schon ein paar Jahre. Wie viele genau, darüber streiten sich die Fachleute, aber 1954 scheint ein relativ sicherer Tipp zu sein. Was damals R&R hieß und später unter dem übergreifenden Begriff »Rock« zusammengefasst wurde, hat sich natürlich in den letzten 50 Jahren weiter- wenngleich nicht notwendigerweise höherentwickelt und auf jeden Fall weiter in unterschiedlichste Stile ausdifferenziert. Auch wenn sich »Norwegian Wood« von den Beatles, die musikalischen Produkte der psychodelischen Epoche, verschiedene Metal-Stile oder Techno, Drum & Base und House recht verschieden von Bill Haley‘s »Rock Around The Clock« anhören, sie alle können nicht ihr letzliches Herkommen aus jener Musikrichtung leugnen, die ab Mitte der 50er Jahre aus den USA kommend zur Weltmusik der Jugend wurde. Das gilt mitunter weniger für die musikalische Form als vielmehr für den grundlegenden Ansatz und ihre soziale Funktion.
Bei der Unsicherheit über das Geburtsdatum des R&R scheint es angebracht, die Wahl des Jahres 1954 und damit des ausgehenden Jahres 2004 als des Jahres, das genau ein halbes Jahrhundert seiner Geschichte markiert, zu begründen. Die Schwierigkeiten beginnen mit der Abgrenzung des R&R von anderen US-amerikanischen Musikstilen der damaligen Zeit und hier insbesondere vom Rhythm and Blues (R&B).

Kriegsfolgen

Der R&B und in seinem Gefolge der R&R verdanken ihr Entstehen gewissermaßen dem Angriff der Japaner auf die US-amerikanische Marinebasis Pearl Harbor auf Hawaii am 7.Dezember 1941. Die Reaktion der amerikanischen Bevölkerung erlaubte es der Regierung, sich nunmehr aktiv am Zweiten Weltkrieg zu beteiligen. Zu den Folgen gehörte die sprunghafte Entwicklung der Rüstungsindustrie und mit ihr der Nachfrage nach Arbeitskräften. Nach entsprechendem politischem Druck wurde der Arbeitsmarkt in diesem Sektor auch für Schwarze geöffnet. Während das Gros der schwarzen Bevölkerung bis dahin überwiegend in den landwirtschaftlich geprägten Südstaaten gelebt hatte, verließen nun, zwischen 1940 und 1950, mehr Schwarze diese Bundesstaaten als in den drei Jahrzehnten zuvor zusammengenommen — insgesamt 1,6 Millionen Menschen.
Gleichzeitig hatte der Krieg eine andere materielle Folge. Das zur Schallplattenherstellung benötigte Schellack wurde für die Rüstung benötigt und rationiert. Die bis dahin konkurrenzlosen großen Firmen der Schallplattenindustrie standen in der Folge fast mit nichts da. Unmittelbar nach der Aufhebung des Schallplattenstopps konnte deshalb eine riesige Schar von sog. »unabhängigen« Plattenfirmen, die »Independents« mit einiger Erfolgsaussicht auf den Markt kommen. Diese »Indies« hatten eher als die »Majors« das Gefühl dafür, dass es möglich und notwendig war, die bereits ausgetretenen Pfade zu verlassen. Sie versorgten eine nunmehr überwiegend städtische, durch ihre Beteiligung am Krieg selbstbewusstere und nicht zuletzt auch finanziell relativ besser gestellten schwarze Bevölkerung mit der angesagten Musik.

Vom Jump-Blues zum Rock ‘n‘ Roll

Diese Musik war zunächst der schon in den früheren 40er Jahren entstandene Jump-Blues und dann das, was seit dem 25.Juni 1949 als R&B offiziell bekannt wurde. Der Jump-Blues mit Louis Jordan als seinem wohl bekanntesten Vertreter war im Wesentlichen die Umsetzung des seit Ende der 30er Jahre mit dem Sound des Swing, des damals führenden Jazz-Stils, angereicherten Blues von Big Bands auf Combos. Die deutliche Verkleinerung der Musikerschar war in erster Linie der notwendigen Sparsamkeit der nicht sehr kapitalkräftigen »Indie«-Labels geschuldet. In dieser Version fand der nun oft sowohl soundmäßig als auch textlich geglättete Blues auch bei einer breiteren weißen städtischen Bevölkerung Interesse.
Der Jump-Blues öffnete somit einer neuen musikalischen Epoche die Tür. Wurde damals noch all diese schwarze Musik in der Musikindustrie dieses durch rassische Segregation geprägten Landes unter dem Begriff »race music« gehandelt, galt der Begriff nach dem Krieg nicht mehr wirklich als fein. Die führende Musikzeitschrift der USA, Billboard, führte deshalb im Juni 1949 für ihre Hitliste der Musik der schwarzen Bevölkerung des Landes den Begriff »Rhythm and Blues« ein, einen Begriff, den schon zu Beginn des Jahrzehnts Jerry Wexler geprägt haben soll, der Chef des schwarzen New Yorker Labels Atlantic Records.
Der R&B als Musik der Masse der Schwarzen speziell in den großstädtischen Ghettos verdankt sein Entstehen nicht nur den genannten politischen und sozialen Gründen, sondern auch der Tatsache, dass die Jazzmusiker, die in der vorhergegangenen Epoche noch den jedem leicht zugänglichen Swing gespielt hatten, nun zunehmend zum weitaus schwerer zugänglichen Bebop übergingen. Der Jazz wurde damit erstmalig eine Musik für (zunehmend auch weiße) Intellektuelle.
Was nun in Abgrenzung zum (schwarzen) R&B der Rock ‘n‘ Roll ist, ist schon viel schwieriger zu bestimmen. Die Erfindung des Begriffs selbst hat sich seinerzeit der führende weiße Disc Jockey Alan Freed zugeschrieben. Die Worte »to rock« und »to roll« waren schon zuvor gängige Begriffe im R&B, bezeichneten hier aber keineswegs den manchmal artistischen Tanz der Jugend seit der zweiten Hälfte der 50er Jahre, sondern den Geschlechtsakt — so bspw. in dem Hit von Helen Humes von 1950 »I‘m gonna let him ride«, wo es heißt: »He rocks me with one steady roll«; und das ist nur eines der jüngeren Beispiele. Das älteste ist wahrscheinlich das von Frankie »Half Pint« Jaxon gesungene »My Daddy Rocks Me With A Steady Roll« von 1929. 1934 schließlich erschien ein Song namens »Rock and Roll«, gesungen von den drei weißen Boswell Sisters.
Da sich der R&R musikalisch zunächst nur mit Mühe vom R&B abgrenzen lässt, ist es nicht verwunderlich, dass die Fachleute auch darüber unterschiedlicher Meinung sind, was denn der erste R&R-Hit gewesen sei. Zu den ernsthaftesten Vorschlägen gehören »Rocket 88« von Jackie Brenston vom Juni 1951 und »Sh-Boom« von The Chords aus dem Jahr 1954. »Rocket 88«, ein Song über das neueste Oldsmobile-Modell, war die Wahl von Sam Phillips, des Gründers von Sun Records in Memphis. Sun Records sollte zwar wirtschaftlich nicht sehr erfolgreich werden, wurde aber zum bekanntesten »Indie«-Label der Epoche, weil sein Gründer nicht nur den erwähnten Jackie Brenston, Saxofonist beim ansonsten viel berühmteren Ike Turner, auf Platte gebannt, sondern auch die ersten Aufnahmen mit späteren Stars wie Elvis Presley, Carl Perkins, Jerry Lee Lewis oder Johnny Cash produziert hat. Jackie Brenston und seine Delta Cats waren ebenso eine schwarze Band wie The Chords. Die sechs »Chords« waren eine der vielen Vokalgruppen, deren bekannteste Vertreter wohl The Drifters und — mehr dem Pop-Bereich zuneigend — The Platters wurden.
Was in der Tat für »Sh-Boom« von The Chords als erstem R&R-Hit spricht, ist, dass er im Frühsommer zuerst die R&B-Charts, dann die nationalen Pop-Charts stürmte und unzählige Coverversionen zur Folge hatte. Mit »Sh-Boom« begann R&R also ganz offen in den weißen Markt vorzudringen, und zwar in den Teenager-Markt.
Die amerikanischen Teenager — die weißen selbstredend noch mehr als die schwarzen — waren in einer doppelten Hinsicht Nutznießer der Zeitumstände geworden. Der Koreakrieg zu Beginn der 50er Jahre hatte zum lang anhaltenden Wirtschaftsboom des »goldenen Zeitalters« beigetragen und die Taschen auch der Teenager gefüllt, die sich durch die mit den beiden Weltkriegen einhergegangenen kulturellen Umwälzungen nicht länger nur als Erwachsene im Wartezustand verstanden.
Mit anderen Worten: die amerikanischen Teenager der 50er Jahre waren die bis dahin erste Generation, die sich kulturell von den vorhergegangenen abgrenzen wollte und die das nötige Geld besaß, um auch für die — natürlich von Erwachsenen kontrollierte Industrie — als eigenständiger Markt interessant zu sein. Zur Abgrenzung gehörte die Abwendung von der als Kitsch empfundenen Pop-Musik der Eltern, von den Perry Comos ebenso wie von der qualitativ höheren Unterhaltungsmusik eines Bing Crosby oder Frank Sinatra, und — als Höhepunkt der Revolte — die Hinwendung zur »Negermusik«.

Mischung & Glättung

Die Hinwendung der weißen Teenager zur schwarzen Musik des R&B führte allerdings zur verstärkten Verbindung unterschiedlicher musikalischer Stile, insbesondere nachdem sich der neue Markt etabliert hatte.
Zwar behauptete der Jump-Blues-König Louis Jordan ausdrücklich, dass R&R keine Ehe zwischen R&B und »Country and Western« (C&W), der volkstümlichen Musik der weißen Unter- und Mittelschicht vor allem in den Südstaaten, gewesen sei. »Das«, so Jordan, »ist weiße Propaganda. R&R war nur eine weiße Imitation, eine weiße Adaption des Neger-R&B«. Wer aber bspw. die erste Aufnahme, die der spätere King of Rock ‘n‘ Roll, Elvis Presley, bei Sun-Records machte, mit dem Original vergleicht, wird Jordans Meinung nicht ganz teilen können. Elvis, über den 1955 ein Rundfunk-Direktor in Louisiana erschrocken sagte, er singe Hillbilly im R&B-Rhythmus, nahm im Juli 1954 »That‘s Alright« auf. Das Original des Bluessängers Big Boy Crudup stammt aus dem Jahr 1946. Zwar gibt es keinen nennenswerten Unterschied, was den Gesangstil angeht. Aber die Elvis-Version hat eine Gitarrenbegleitung im C&W-Stil, während die von Arthur Crudup stilistisch eher zum Delta-Blues gehört. Elvis ist R&R, Crudup elektrifizierter Delta-Blues — eine der rohen Vorformen des R&B.
Sowohl R&B als auch R&R sind stilistisch durchaus vielfältig. Im R&B finden wir Stücke im 12-taktigen Bluesschema, solche in 18-taktiger Form, solche mit Gospelelementen oder solche, die bis auf die Hautfarbe des Sängers kaum von weißen Schnulzen zu unterscheiden sind. Beim R&R finden wir Versionen 12-taktiger R&B Stücke, später unter dem Begriff »Rockabilly« laufende Vereinigungen von C&W mit R&R-Rhythmen, elektrischen Gitarren sowie mit dem, dem C&W ursprünglich fremden Schlagzeug.
Man kann gegenüber dem R&B durchaus von einer Tendenz des R&R zur Glättung sowohl der musikalischen Ausdrucksform als auch der Texte sprechen. Das letztere gilt insbesondere in Hinblick auf sexuelle Bezüge. Durchaus bezeichnend ist hier z.B., was der R&R-Star Bill Haley im Fall seines Hits »Shake, Rattle and Roll« im Juli 1954 aus Joe Turners Original vom Februar des Jahres gemacht hat. Hieß es hier: »Well you wear low dresses, the sun comes shining through, I can‘t believe my eyes that all of this belongs to you«, so heißt es beim braven Ex-Country Sänger Haley: »You wear those dresses, your hair done up so nice, you look so warm, but your heart is cold as ice.«
Rock ‘n‘ Roll war demnach zunächst eine oft musikalisch und textlich geglättete Jugendmusik, in der Elemente des schwarzen R&B in unterschiedlicher Intensität eine Verbindung mit Elementen der volkstümlichen Musik der weißen Mehrheitsbevölkerung eingingen. Innerhalb der jugendlichen Zielgruppe sprach sie unterschiedliche Bedürfnisse an. Der wohl bedeutendste Lyriker des R&R, Chuck Berry, begann seine Schallplattenlaufbahn mit dem stark an C&W orientierten Hit »Maybellene« und sang unzählige Songs über die Probleme von Highschool-Kids. Mehrheitlich entnahm der R&R seinen Stil, den musikalischen wie den des Auftretens der Künstler, der R&B-Tradition, seine Themen allerdings der weißen Unterhaltungsmusik.
Eine andere Linie innerhalb des Vermächtnisses des R&R ist in dem Motto eines 1955 von Faron Young gesungenen Songs mit dem Titel »Live fast, love hard, die young« enthalten, auch wenn dieser zweifelsfrei ein Countrysong war. Am Weihnachtsabend 1954 setzte einer der aufgehenden Stars des R&B, der 25 Jahre alte Johnny Ace, dieses Motto — wenn wohl auch nicht ganz freiwillig — um: unmittelbar vor einem Konzert in Houston erschoss er sich im Umkleideraum beim Russisch Roulett. Johnny Ace, der ebenso gut schnelle R&B-Nummern wie schnulzenhafte Balladen sang, wäre sicher auch ein R&R-Star geworden, hätte er etwas länger gelebt. Der verfrühte und nicht ganz natürliche Tod ereilte in den Jahren des R&R und des Rock noch eine Reihe von Stars — Buddy Holly, The Big Bopper, Eddie Cochran, Jimi Hendrix, Janis Joplin usw.usf.
Heute ist der Rock als ganzes keine Musik der Jugendrebellion mehr, da auch die Eltern- und gar die Großelterngeneration bereits mit den verschiedenen Stilen dieser Musik groß geworden ist. Die kulturelle Rebellion bedarf angesichts der vorherrschenden kulturellen Liberalität der »Alten« ständig neuer Stile, die ihre Begründung weniger im Musikalischen haben als vielmehr in der mit ihnen verbundenen Attitüde, von Punk bis Heavy Metal, von HipHop bis Techno.
Und wenn man nicht gerade die Japaner über Pearl Harbor für das alles verantwortlich machen will, muss man 1954 beim Rock ‘n‘ Roll anfangen

Lothar A. Heinrich

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