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Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Januar 2005, Seite 22

Nach der ersten Welle

Daniel Bensaïd hielt in Berlin Bewegungsschau

Gleich zu Anfang seines Anfang Dezember im Kulturhaus Berlin-Mitte auf Einladung der Berliner Jour-fixe-Initiative gehaltenen Vortrags über »Politische Strategien fragmentierter Subjekte« machte der französische Hochschullehrer und politische Aktivist Daniel Bensaïd deutlich, dass es in den sozialen Bewegungen zu einer deutlichen Wende gekommen sei. Der erste Zyklus, der in Seattle begonnen und bis zum vorletzten Weltsozialforum in Porto Alegre angedauert habe, sei nun abgeschlossen. Das herausragende Merkmal dieser ersten Welle, so Bensaïd, sei der unbedingte Wille der sozialen Bewegungen zur Unabhängigkeit gewesen — Unabhängigkeit nicht nur gegenüber staatlichen Strukturen und politischen Parteien, sondern auch der einzelnen Bewegungen untereinander.
Die reale Fragmentierung der Bewegungen, die sich hierin spiegelt, erklärte Bensaïd aus einer Kombination langfristiger und konjunktureller Entwicklungen. Auf der einen Seite stünden dabei die allseits bekannten Prozesse einer zunehmend komplexeren Arbeitsteilung bei gleichzeitigem Abbau des Sozialstaats, was zu einer Schwächung des Klassenbewusstseins und zunehmender Individualisierung geführt habe. Auf der anderen Seite stehe ein Zyklus von Niederlagen der letzten zwanzig Jahre, wie etwa beim englischen Bergarbeiterstreik Mitte der 80er Jahre oder bei der Verteidigung der gleitenden Lohnskala in Italien.
Die kritische politische Theorie hat in unterschiedlicher Weise versucht, mit diesen Phänomenen umzugehen. Bourdieus Konzeptualisierung der Heterogenität sozialer Felder hält Bensaïd durchaus für einen sinnvollen Ansatz. Allerdings sei es gerade der Kapitalismus selbst, der langfristig die Bedingungen für eine zunehmende Konvergenz der sozialen Bewegungen schaffe, wenn bspw. die allgemeine Durchsetzung der Warenwirtschaft lokale Kulturen zerstöre. Hierdurch entstünden Möglichkeiten internationaler Zusammenarbeit, die nicht nur auf gemeinsamen ethischen Werten, sondern auch auf einer gemeinsamen materiellen Basis aufbauen könnten.
Wesentlich kritischer sah Bensaïd Hardt/Negris Empire-Theorie. Theoriegeschichtlich handle es sich hierbei um eine Gegenreaktion auf den Operaismus der 70er Jahre mit seiner Fixierung auf die »traditionelle« Industriearbeiterschaft. In seinen politischen Konsequenzen sei der Empire-Ansatz hochproblematisch, so etwa, wenn Negri die europäischen Regierungen als Teil der »Multitude« im Gegensatz zum US-Empire verstehe und dabei konsequenterweise bei der Befürwortung der europäischen Verfassung lande.
Abschließend plädierte Bensaïd für eine in jeder Hinsicht offene Perspektivendiskussion in den sozialen Bewegungen. Dies impliziere auch eine Debatte über Mittel und Möglichkeiten grundlegender Gesellschaftsveränderung. Dabei sollten durchaus auch die traditionellen, in den Kategorien der Moderne (wie etwa dem Nationalstaat) gedachten Strategien der Arbeiterbewegung einer prinzipiellen Kritik unterworfen werden. Ein für viele schwer auzuhaltender Widerspruch werde schließlich auf absehbare Zeit die Realität sozialer Bewegungen kennzeichnen: die Notwendigkeit, eine absolute Energie des politischen und theoretischen Engagements aufzubringen bei gleichzeitiger absoluter Unsicherheit über viele Grundlagen politischen Handelns.

Harald Etzbach

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