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In der letzten SoZ behandelten wir Leben und Werk des sozialistischen
Gewerkschafter Viktor Agartz bis zu dessen Entlassung aus dem gewerkschaftlichen Wirtschaftswissenschaftlichen
Institut (WWI) im Jahre 1955. Was die einen als das unrühmliche Ende einer beispiellosen Karriere
betrachten, lässt sich im Kontext der langen Wellen politischer Klassenkampfzyklen und bezogen auf die
folgenden zehn Jahre aber auch anders sehen.
Agartz hatte nach seinem Rausschmiss aus dem Gewerkschaftsapparat nicht lange gezögert und
begründete eine neue, erstmals im März 1956 in Köln erscheinende Monatszeitschrift die
WISO, die Korrespondenz für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Mit einer bewundernswerten politisch-
ökonomischen Bodenhaftung finden sich in den folgenden Jahrgängen der WISO, allen voran in den Texten
von Agartz selbst, empirisch gesättigte und theoretisch versierte Analysen zur politischen Ökonomie
des deutschen Nachkriegskapitalismus, zur Gewerkschaftspolitik ebenso wie zur Innen- und Außenpolitik und
zu Fragen der marxistischen Theorie, die noch heute mit großem Gewinn zu lesen sind. Mit an Bord waren die
beiden ebenfalls aus dem WWI geworfenen Mitarbeiter Walter Horn und Theo Pirker, die Linkssozialisten Wolfgang
Abendroth und Leo Kofler sowie der junge, erst später bekannt gewordene Werner Hofmann. Das Renomee des
Herausgebers und die Qualität der in der WISO anonym veröffentlichten Beiträge machten das Blatt
zum intellektuellen Zentrum der linkssozialistischen Gewerkschaftsopposition in einer Zeit des nachhaltigen
Umbruchs.
Vor dem Hintergrund einer »Entpolitisierung« der gewerkschaftlichen Klassenkämpfe und einem
parallel dazu verlaufenden, verschärften Anpassungsprozess der sozialdemokratischen Partei, riefen die
außen- und militärpolitische Zuspitzung im Kalten Krieg, die zunehmend autoritäre Formierung der
westdeutschen Innenpolitik und der immer unverhohlenere Anpassungskurs von SPD und DGB weitreichende Dissidenz-
und Oppositionsbewegungen hervor, die sich neue Ausdrucksmöglichkeiten, v.a. in Form mehrerer
Zeitschriftenprojekte schufen, um deren Zusammenhänge herum sich eine neue Linke herauszukristallisieren
begann.
Vor allem die in Hamburg seit Mai 1955
erscheinende Wochenzeitung Die Andere Zeitung (AZ) setzte neue Maßstäbe und wurde schnell zum Zentrum
des neuen Unmuts. Den beiden Herausgebern Gerhard Gleissberg und Rudolf Gottschalk, zwei einflussreiche
Sozialdemokraten, die bis dahin leitende Redakteure des sozialdemokratischen Vorwärts und aus Protest
gegen die Remilitarisierung aus der SPD ausgetreten waren, gelang es nicht nur, die namhaftesten
Linksintellektuellen Wolfgang Abendroth, Theo Pirker, Fritz Baade, Kurt Hiller, Fritz Kief, Leo Kofler,
Rudolf Küstermeier, Walter Möller und bald auch Viktor Agartz um das Blatt zu versammeln. Sie
schafften es auch, die AZ zu einem derart exponierten Blatt der intellektuellen Opposition zu machen (die
überlieferten Auflagenangaben schwanken hier zwischen 20000 und 100000), dass v.a. die SPD-Medien eine
grimmige Verleumdungskampagne gegen die vermeintlich von Ost-Berlin finanzierte Zeitung anzettelten.
Richtete sich die AZ an ein Massenpublikum, die
WISO an die gewerkschaftliche Linke, so arbeitete in der Ende 1954 gegründeten Monatszeitung
Sozialistische Politik (SOPO) die sozialdemokratische Linke um Wolfgang Abendroth, Erich Gerlach und Peter von
Oertzen mit den deutschen Trotzkisten um Georg Jungclas zusammen.
Kurz darauf, im März 1956, gründete sich
in Paris die sich um den britischenn Historiker G.D.H.Cole gruppierende, britisch-französische
Internationale Gesellschaft für sozialistische Studien (IGSS). Man verstand sich in der Tradition der
britischen Fabier explizit nicht als Parteiorganisation, sondern als Intellektuellenzusammenschluss für
Gedankenaustausch und internationalen Kontakt. Erklärtes Ziel war die Neubelebung des sozialistischen
Denkens jenseits der beiden Machtblöcke.
Zum deutschen Sektionsvertreter der IGSS
gewählt wurde ein halbes Jahr später, am 21.Oktober 1956 in Hamburg: Viktor Agartz.
Vorstandsmitglieder waren Gerhard Gleissberg, Fritz Kief und andere linke Aktivisten und AZ-Autoren.
So schließt sich der politisch-
journalistische Organisationskreis von AZ, WISO, IGSS und der »Gruppe Agartz«. Was sich hier seit
1955 entwickelte, war ein historisch neues Mischungsverhältnis des westdeutschen Linkssozialismus, zu dem
neben der SOPO auch noch Zeitschriften wie Funken oder Arbeiterpolitik gehörten, und deren Exponenten man
die erste Generation jener »Neuen Linken« nennen kann und muss. Viktor Agartz, der bekannte
Gewerkschaftstheoretiker und -aktivist und das moralische Gewissen der alten Schuhmacher-SPD; Wolfgang
Abendroth, der versierte Jurist, politische Journalist und erfahrene sozialdemokratische Parteiaktivist; Leo
Kofler, der marxistische Theoretiker und Wanderprediger; Theo Pirker, der unorthodoxe Gewerkschaftsaktivist mit
ebenso historischem Sinn wie organisatorisch-politischem Gespür; Fritz Lamm, der mit strategischem Sinn
und persönlichem Gespür eine Zeitschriftenorganisation zu leiten verstand; Gerhard Gleissberg, der
sozialdemokratische Zeitungsprofi und Chefkommentator sie alle sind zwar nur die gleichsam erste Reihe
der westdeutschen sozialistischen Linken marxistischer Prägung, doch bereits sie zeigen, dass es dieser
»Neuen Linken« nicht an fähigen Aktivisten mangelte.
Es fehlte ihnen auch nicht an der nötigen
politischen Konjunktur. Chruschtschows im Februar 1956 auf dem 20.Parteitag der KPdSU gehaltene Geheimrede
öffnete, einem Dosenöffner gleich, Millionen von Kommunisten weltweit für die
Erschütterungen über die Verbrechen des Stalinismus und die Suche nach einem emanzipativen
Reformsozialismus in der DDR symbolisiert bspw. durch die ostdeutschen »56er« Wolfgang Harich,
Walter Janka, Ernst Bloch, Gerhard Zwerenz u.a.
Dieser in vielem bemerkenswerte und erinnernswerte
linkssozialistische Aufbruch der Jahre 195456/57 sollte jedoch, anders als vergleichbare und zeitgleiche
Prozesse in Großbritannien und Frankreich, in Deutschland scheitern. Im Osten kam es nach den
Volksaufständen in Polen und Ungarn zur Restalinisierung der weltkommunistischen Bewegung. Im Westen
kombinierte sich die »Wirtschaftswunderzeit« und ihr fordistischer Siegeszug mit der anhaltenden
bürgerlich-konservativen Repression. Was der Harich-Janka-Prozess und die Kampagne gegen Ernst Bloch im
Osten, waren im Westen das KPD-Verbot einerseits und der Landesverratsprozess gegen Viktor Agartz andererseits.
Im August 1956, ein halbes Jahr nach dem 20.Parteitag der KPdSU und während die Entstalinisierung in
Polen und Ungarn in Volkserhebungen gegen die stalinistischen Regime umkippte, erklärte das
Bundesverfassungsgericht, dass die KPD verfassungsfeindliche Ziele verfolge und deswegen verboten wird.
Im März 1957 schließlich, während
der Bundestagswahlkampf (CDU: »Keine Experimente«) in seine heiße Phase ging, und genau ein Jahr
nach dem erfolgreichen Start der WISO, wurde ihr Hirn und Organisator Agartz verhaftet und wegen vermeintlicher
Ostkontakte des Landes- und Hochverrats angeklagt. Er hatte sich bei seiner WISO-Arbeit auf eine Vereinbarung
mit dem ostdeutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) eingelassen, der ein gewisses Auflagenquantum als
Sammelabonnements für den Vertrieb in der DDR abnahm, ohne damit Einfluss auf den Inhalt der Zeitschrift
zu bekommen. Obwohl Agartz in einem Aufsehen erregenden Prozess mangels Beweisen im Dezember 1957
schließlich freigesprochen werden sollte, wurden er und jene linkssozialistischen Kreise, für die er
exemplarisch stand, ein dreiviertel Jahr lang öffentlichkeitswirksam aufs heftigste an den politischen
Pranger gestellt. Eine Solidarisierung aus dem nichtkommunistischen Bereich, von bürgerlichen Medien, SPD
und Gewerkschaften fand nicht nur nicht statt, SPD und Gewerkschaften distanzierten sich sogar öffentlich
von ihrem vermeintlich gefallenen Sohn und unterstützten die Anti-Agartz-Kampagne nach Kräften.
Die fehlende Solidarisierung mit dem Angeklagten führte auch zum Verfall der »Gruppe Agartz«
selbst. Ihre Protagonisten gingen fortan verschiedene politische und persönliche Wege. Agartz gab nach
seinem Freispruch erneut die WISO heraus, mit neuem Mitarbeiterstamm und nun offener finanzieller
Unterstützung aus Ostberlin. Leo Kofler und Theo Pirker trennten sich schon vor Prozessbeginn von ihrem
Genossen Agartz. Und Wolfgang Abendroth trug zwar wesentlich zum Freispruch von Agartz bei, als er als Zeuge
der Verteidigung öffentlich für dessen persönliche wie politische Ehre Partei ergriff. »So
wenig Viktor Agartz von stalinistischen Illusionen gefangen wurde«, schrieb er jedoch im Anschluss an den
Prozess in der SOPO, »so wenig er stalinistischen oder halbstalinistischen Gedankengängen in der WISO
Konzessionen gemacht hat, so hätte er wissen müssen, dass SED und FDGB ihm eines Tages die Rechnung
präsentieren würden, und dass jedes Bekanntwerden dieser Zusammenhänge die marxistischen Gruppen
in der deutschen Arbeiterbewegung aufs schwerste kompromittieren würde«.
So wie das KPD-Verbot das kommunistische Milieu
kriminalisierte und dezimierte, so kriminalisierte und dezimierte der Landesverratsprozess gegen Agartz den
westdeutschen Linkssozialismus. Danach gab es in der öffentlichen Wahrnehmung keinen eigenständigen
Linkssozialismus mehr, einzig noch einen »kommunistischen Sumpf«.
Der politisch-organisatorische Zyklus eines um die
SPD zentrierten und sich aus den Vorkriegs- und unmittelbaren Nachkriegstraditionen der radikalen
Arbeiterbewegung speisenden Linkssozialismus der 50er Jahre hatte einen vorläufigen Abschluss gefunden.
Die von Agartz dominierte deutsche Sektion der IGSS zerfiel. Die wesentlich von Fritz Lamm herausgegebene, mehr
syndikalistisch-antiautoritäre Zeitschrift Funken stellte 1959, nach einem letzten Aufbäumen, ihr
Erscheinen ein, ebenso die aus der KPO-Tradition kommende Zeitschrift Arbeiterpolitik. Auch die SOPO
veränderte sich zum Jahrzehntwechsel personell und konzeptionell und wurde deutlicher als zuvor ein
»trotzkistisches« Blatt. Die seit 1955 erfolgreich als ein breitenwirksames Medium des
nonkonformistischen Sozialismus fungierende, aber mit dem Odem der Ostfinanzierung gezeichnete Wochenzeitung AZ
schließlich verlor in den Jahren 1958/59 manch namhaften Mitarbeiter und viele Leser.
Der Weg war frei für die
geschichtsträchtige Transformation der SPD in eine bürgerliche Reformpartei (Bad Godesberger
Parteitag 1959) und die anschließende Umsetzung dieser neuen Linie auch in der Gewerkschaftsbewegung.
Mit analytischer Schärfe und ingrimmiger, gelegentlich in den Linksradikalismus kippender Wut,
vertiefte Agartz seine Analysen zur politischen Ökonomie des Nachkriegskapitalismus und prangerte die
Integration der Arbeiterorganisationen in den spätbürgerlichen Staat (SPD) und die
spätbürgerliche Gesellschaft (DGB) an. Das Verhältnis von Theorie und Praxis in der
Arbeiterbewegung, schrieb er Anfang 1959, ist »vorerst zerfallen«.
Während jedoch Wolfgang Abendroth, Leo Kofler
und Theo Pirker aus einem vergleichbaren Befund andere politische Schlüsse zogen und ihren
antistalinistischen Kurs verschärften, lehnte sich Agartz an die von ihm als revolutionär
eingeschätzten Prozesse »von der Elbe bis Peking« an. Mit welcher strategischen Überlegung,
machte er Ende 1959 deutlich: »Die politische und gewerkschaftliche Arbeiterbewegung ist heute ohne
Führung im sozialistischen Sinne. Die Mitgliedschaft gleicht einem statischen Körper, der der
Führung, dem Apparat, als ökonomische und gesellschaftliche Basis dient. Jede Diskussion, die der
klassenpolitischen Aufklärung dient, wird unnachsichtlich geahndet, um die organisatorische Basis, die
eigene Erwerbsposition, nicht zu gefährden. Trotzdem befinden sich Teile der Arbeiterschaft in Unruhe und
Bewegung. Zwischen Führung und Masse besteht ein Bruch des Vertrauens, der sich zum Beispiel in der Frage
der Atombewaffnung oder der innerdeutschen Verständigung bemerkbar macht. In diesem Stadium der
Stagnation, aber einer glimmenden Glut unter der Asche, fällt den sozialistischen Staaten eine Aufgabe zu,
auf die internationale Arbeiterbewegung durch die Art und den Inhalt ihres sozialistischen Aufbaus
auszustrahlen.«
Diese letzte Hoffnung des Viktor Agartz sollte
sich jedoch als Illusion erweisen. Für die Mehrheit der Arbeiterklasse waren die realsozialistischen
Verhältnisse im Osten keine wirkliche Alternative zu ihrem »kleinen Glück«.
Nachdem er Ende 1958 aus der SPD und Anfang 1960
aus der Gewerkschaft ausgeschlossen worden war, gründete Agartz, abermals zusammen mit Gerhard Gleissberg
und Genossen, die Vereinigung unabhängiger Sozialisten (VUS) als Zusammenschluss von aus der SPD
Ausgeschlossenen und Ausgetretenen. Als sich diese jedoch schon kurz nach ihrer Gründung im Frühjahr
1961 auf die gerade entstandene, kommunistisch beeinflusste Deutsche Friedens-Union (DFU) zu orientieren
begann, trat er aus. Er vermisste die sozialistische Programmatik und die Ausrichtung auf die
klassenkämpferische Arbeiterbewegung. Die Enttäuschung saß fortan tief: Hätten sich die
sozialdemokratischen Parteien von der Arbeiterbewegung vollkommen entfremdet, seien die Entartungserscheinungen
auch bei den Kommunisten offensichtlich sie »können revolutionäre Entwicklungen nicht
mehr ertragen, wie ihre Unsicherheit gegenüber den Vorgängen in Algerien und Kuba zeigt. Beide
Prozesse, die Entideologisierung der Sozialdemokraten und die Erstarrung bei den Kommunisten, haben ein Vakuum
geschaffen.«
Nachdem er Ende 1961 die Veröffentlichung der
WISO einstellen musste alles spricht dafür, dass sie finanziell nicht mehr haltbar war, als
Ostberlin die großzügige Unterstützung einstellte , zog sich Agartz vollkommen zurück
und arbeitete die ihm noch verbleibende Zeit an zwei umfangreichen Buchmanuskripten zur Geschichte und
Soziologie der bundesdeutschen Gewerkschaftsbewegung. Sie blieben unvollendet und vergammeln zur Zeit im
Bundesarchiv Koblenz. Viktor Agartz starb, einsam und verbittert, am 9.Dezember 1964 in Köln.
Christoph Jünke
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