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In einer Mitteilung der EU-Kommission in Brüssel heißt es: In der
europäischen Union setzen in jedem Jahr mehr Menschen ihrem Leben selbst ein Ende als durch
Verkehrsunfälle umkommen. Jedes Jahr sterben etwa 58000 Menschen in der EU durch Selbstmord. Dem
stehen 50700 Tote durch Verkehrsunfälle und etwa 5350 durch Mord und Totschlag gegenüber.
Die meisten Selbsttötungen stünden
mit psychischen Erkrankungen in Zusammenhang, vor allem mit Depressionen. 15% der an schweren Depressionen
Leidenden begingen Selbstmord. 56% versuchten, sich das Leben zu nehmen. »Psychische Erkrankungen
können so tückisch sein wie körperliche, z.B. Krebs«, sagte EU-Kommissar Kyprianou auf
einer Gesundheitsministerkonferenz der WHO in Helsinki: »Dennoch widmet man der psychischen Gesundheit
erstaunlich wenig Aufmerksamkeit. Man könnte sagen, dass psychische Erkrankungen Europas unsichtbare
Todesursachen sind.« Dennoch sei er entschlossen, dies zu verhindern.
In der Geschichte der Menschheit unterlag die
Stellungnahme zur Selbsttötung und deren Ursachen einem steten Wandel. Aristoteles meinte, dass sich
zu töten, weil einen etwas bedrückt, nur für Feigheit zeuge, denn es bedeute nur die Flucht
vor einem Übel. Bei Aristoteles ist indirekt eine uneingeschränkte Verwerfung der
Selbstvernichtung abzulesen. Für Spinoza ist das Prinzip der Selbsterhaltung ein entscheidendes
Kriterium. Nur äußere und seiner Natur entgegengesetzte Ursachen können den Menschen zur
»Selbstvernichtung veranlassen. Dass aber der Mensch aus der Notwendigkeit seiner eigenen Natur heraus
danach streben sollte, nicht zu sein … ist ebenso unmöglich wie, dass aus Nichts etwas
würde.«
Das Zeitalter der Aufklärung erreichte
erneut eine weitreichende Freisetzung des Individuums für die Freiheit zum Tode. Kant kam allerdings
zu einer uneingeschränkten Abweisung der »Selbstentleibung«, denn mit dem »Akt der
Selbstvernichtung wird die phänomenale Basis sittlichen Handelns ausgelöscht und damit alle
Verbindlichkeit negiert«. Weil die Selbstvernichtung ein Verbrechen ist, ist sie
»Selbstmord«. Seine Selbsterhaltung wird, »wenngleich nicht vornehmste, doch erste Pflicht
des Menschen gegen sich selbst, die keine Ausnahme zum Vorteil der Neigung versteckt«. Kants These vom
Selbstmord ist gerade deshalb die philosophisch relevanteste und damit philosophisch provozierendste
Abweisung der Selbstvernichtung, weil sie ausdrücklich und ausschließlich beansprucht, auf dem
Prinzip der »Selbstgebung« des Menschen zu stehen. Feuerbach ist um den Nachweis bemüht,
dass der Glücklichkeitstrieb nicht im Widerspruch zum Selbstmord steht und ihn sogar begründet,
»denn der Selbstmörder will nicht den Tod, weil er ein Übel ist, sondern weil der das Ende
seines Übels und Unglücks ist«. Der Soziologe Durkheim sagt zu Recht, der Selbstmord sei
eine jener Formen, »in denen sich die kollektive Krankheit ausdrückt, an der wir leiden, er wird
uns darum helfen, sie zu verstehen«.
Kyprianou hat Recht, wenn er sagt, dass
»psychische Erkrankungen genau so tödlich sein können wie körperliche«. Bleibt
allerdings noch zu erklären, ob die durch die kapitalistische Krise verursachten sozialen
Missstände nicht auch einen erheblichen Anteil an der Selbstmordrate als »kollektiver
Krankheit« haben. Nur könnte man dann nicht von »Selbsttötung«, sondern
müsste von Mord ausgehen.
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