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Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Februar 2005, Seite 4

Kolumne von Jakob Moneta

Erschreckend hohe Selbstmordrate

In einer Mitteilung der EU-Kommission in Brüssel heißt es: In der europäischen Union setzen in jedem Jahr mehr Menschen ihrem Leben selbst ein Ende als durch Verkehrsunfälle umkommen. Jedes Jahr sterben etwa 58000 Menschen in der EU durch Selbstmord. Dem stehen 50700 Tote durch Verkehrsunfälle und etwa 5350 durch Mord und Totschlag gegenüber.
Die meisten Selbsttötungen stünden mit psychischen Erkrankungen in Zusammenhang, vor allem mit Depressionen. 15% der an schweren Depressionen Leidenden begingen Selbstmord. 56% versuchten, sich das Leben zu nehmen. »Psychische Erkrankungen können so tückisch sein wie körperliche, z.B. Krebs«, sagte EU-Kommissar Kyprianou auf einer Gesundheitsministerkonferenz der WHO in Helsinki: »Dennoch widmet man der psychischen Gesundheit erstaunlich wenig Aufmerksamkeit. Man könnte sagen, dass psychische Erkrankungen Europas unsichtbare Todesursachen sind.« Dennoch sei er entschlossen, dies zu verhindern.
In der Geschichte der Menschheit unterlag die Stellungnahme zur Selbsttötung und deren Ursachen einem steten Wandel. Aristoteles meinte, dass sich zu töten, weil einen etwas bedrückt, nur für Feigheit zeuge, denn es bedeute nur die Flucht vor einem Übel. Bei Aristoteles ist indirekt eine uneingeschränkte Verwerfung der Selbstvernichtung abzulesen. Für Spinoza ist das Prinzip der Selbsterhaltung ein entscheidendes Kriterium. Nur äußere und seiner Natur entgegengesetzte Ursachen können den Menschen zur »Selbstvernichtung veranlassen. Dass aber der Mensch aus der Notwendigkeit seiner eigenen Natur heraus danach streben sollte, nicht zu sein … ist ebenso unmöglich wie, dass aus Nichts etwas würde.«
Das Zeitalter der Aufklärung erreichte erneut eine weitreichende Freisetzung des Individuums für die Freiheit zum Tode. Kant kam allerdings zu einer uneingeschränkten Abweisung der »Selbstentleibung«, denn mit dem »Akt der Selbstvernichtung wird die phänomenale Basis sittlichen Handelns ausgelöscht und damit alle Verbindlichkeit negiert«. Weil die Selbstvernichtung ein Verbrechen ist, ist sie »Selbstmord«. Seine Selbsterhaltung wird, »wenngleich nicht vornehmste, doch erste Pflicht des Menschen gegen sich selbst, die keine Ausnahme zum Vorteil der Neigung versteckt«. Kants These vom Selbstmord ist gerade deshalb die philosophisch relevanteste und damit philosophisch provozierendste Abweisung der Selbstvernichtung, weil sie ausdrücklich und ausschließlich beansprucht, auf dem Prinzip der »Selbstgebung« des Menschen zu stehen. Feuerbach ist um den Nachweis bemüht, dass der Glücklichkeitstrieb nicht im Widerspruch zum Selbstmord steht und ihn sogar begründet, »denn der Selbstmörder will nicht den Tod, weil er ein Übel ist, sondern weil der das Ende seines Übels und Unglücks ist«. Der Soziologe Durkheim sagt zu Recht, der Selbstmord sei eine jener Formen, »in denen sich die kollektive Krankheit ausdrückt, an der wir leiden, er wird uns darum helfen, sie zu verstehen«.
Kyprianou hat Recht, wenn er sagt, dass »psychische Erkrankungen genau so tödlich sein können wie körperliche«. Bleibt allerdings noch zu erklären, ob die durch die kapitalistische Krise verursachten sozialen Missstände nicht auch einen erheblichen Anteil an der Selbstmordrate als »kollektiver Krankheit« haben. Nur könnte man dann nicht von »Selbsttötung«, sondern müsste von Mord ausgehen.

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