SoZSozialistische Zeitung |
Die Hoffnung auf immer wiederkehrende, massenhafte Proteste gegen die
»Sozialreformen« hat sich vorerst und vielleicht auf Dauer verflüchtigt. Offen und ohne sich
etwas vorzumachen war diese vorläufige Bilanz vor kurzem in Berlin diskutiert worden, verbunden mit
der zunächst ergebnislosen Suche nach anderen Protestformen. Nicht nur die
Mobilisierungsbreitschaft der breiten Bevölkerung bleibe aus, sondern auch die Ideen, wie man
wirkungsvoll seinen Unmut artikulieren könnte.
Die Ratlosigkeit ist deshalb auch Ausdruck des Unverständnisses darüber, dass Menschen,
die von den »Reformen« unmittelbar in ihrer Existenz betroffen sind, schweigen bzw. aus der
Öffentlichkeit verschwunden zu sein scheinen.
Demütigende Erfahrungen werden aber weiter gemacht, die persönliche Würde wird verletzt,
auch wenn es sich nicht nach außen artikuliert. Jeden Morgen, wenn man eine der großen
Tageszeitungen aufschlägt, erfährt man in Berichten und Kommentaren, dass die
»Reformen« weiter vorangetrieben werden müssten, dass dies erst der Anfang sei, dass die
Erwerbslosen nicht mobil seien etc. Das bedeutet, dass die fast lückenlose Berichterstattung den
Betroffenen Tag für Tag vor Augen führt, dass sie weniger wert sind, dass man über sie
bedingungslos verfügt und dass dies herrschender Konsens ist.
Der Kreis derjenigen, deren Selbstachtung
verletzt wird, reicht natürlich über die Erwerbslosen hinaus: Es sind die Bewohner der Alten- und
Behindertenheime, die sich zwischen Friseur und Praxisgebühr entscheiden müssen, es sind die
Familien mit Kindern, die obsessiv dem Konsumwahn ausgeliefert sind, um konkurrenzfähig zu bleiben und
es sind die Jugendlichen, die man auf Lohnarbeit fixiert hat und die zukünftig nur noch
Lebensmittelgutscheine erhalten, wenn sie irgendeine Arbeit verweigern. Demütigung paart sich mit dem
Gefühl der Ohnmacht und mit Kontrollverlust, weil andere die Kontrolle über die eigenen
Lebensperspektiven übernommen haben.
Derartige Demütigungen sind
alltägliche Erfahrung vor allem für diejenigen (aber natürlich nicht nur für sie), die
auf staatliche Leistungen angewiesen sind. Und sie lassen sich noch deutlicher veranschaulichen.
Kürzlich berichtete eine Teilnehmerin einer Beschäftigungsmaßnahme in Hamburg ein Beispiel,
das einem fassungslos werden lässt: eine Wand ist aufgestellt, »da muss einer Fliesen dran
kleben, die dann wieder abgehauen werden und dann wieder neue Fliesen dran ... Sie haben auch
›Putzfrauen‹. Da haben sie welche aus der Gruppe genommen, die müssen immer wieder
denselben Flur putzen. Wenn er sauber ist, kommt eine festangestellte Mitarbeiterin mit einem Eimer voll
›Schmierdreck‹ und macht den Flur wieder dreckig. Und dann müssen sie wieder von vorne
anfangen, diesen Flur zu putzen, acht Stunden am Tag« (das ganze Protokoll auf www.labournet.de).
All das geschieht nur vordergründig aus
der Hilflosigkeit heraus, dass keine Arbeit da ist; ermöglicht wird es durch die Gesetzgebung und
inhaltlich gefüllt durch vasallisch loyale Beschäftigte. Welche Gefühle steigen dabei auf?
Hass, Ohnmacht, Unterwerfung unter das Unvermeintliche, Identifikation mit dem Aggressor?
Gibt es eine Art dem Subjekt innewohnende
Instanz, die die Grenzen der Übergriffe von außen markieren? Gibt es überhaupt bei allen
Betroffenen das Gefühl, sich zur Wehr setzen zu müssen, um seine Würde zu bewahren, oder ist
dieses Empfinden taub geworden? Oder herrscht der Eindruck vor, das aushalten zu müssen, weil man
sowieso zu den Ausgeschlossenen gehört?
Der Autor Avishai Margalit zieht aus der
Erfahrung bspw. erzwungener Arbeit (erzwungen nicht aus Not, sondern als bürokratischer, repressiver
Akt) den Schluss: »Eine der zentralen Merkmale von Demütigung ist der Verlust der menschlichen
Autonomie und Kontrollfähigkeit und, weil Menschen, die Zwangsarbeit verrichten, physisch einem
fremden Willen unterworfen sind, werden sie auch gedemütigt.« Und, man könnte vor dem
Hintergrund der Hamburger Maßnahme hinzufügen, dass der physische Zwang gepaart ist mit
Sinnlosigkeit, weil der Sinn nur für die Institutionen gegeben ist: Die Trägergesellschaften
verdienen an den zugewiesenen Erwerbslosen, und diese werden durch psychischen Druck aus dem Leistungsbezug
heraus gedrängt. Vor diesem Hintergrund wäre zu untersuchen, wie diese Erfahrungen auf der
psychischen Ebene verarbeitet werden.
Die Medien schielten bei den großen
Aktionen in Berlin und Nürnberg sowie den Montagsdemos auf die Teilnehmerzahlen; Der Spiegel machte
sich sogar die Mühe, die Vergleichszahlen der Vorwoche jeweils heranzuziehen, um zu belegen, dass es
immer weniger Teilnehmer werden. Aber auch wir denken in Mengen; wir zählen durch, rechnen die Angaben
der Polizei automatisch hoch und bemessen danach Erfolg oder Misserfolg. Wir achten darauf, ob in der
Tagesschau für einige Sekunden von der Demo berichtet wird. Kritischer Bezugspunkt bei den
Protestveranstaltungen ist dabei immer das politische Handeln der Bundesregierung, die sich aber offenbar
nicht als Adressat empfindet. Es interessiert die Machtträger nicht, weil sie und die herrschenden
Parteien sich Akzeptanz und Macht durch den Schulterschluss mit den Wirtschaftsverbänden versprechen;
ihre Bezugsgröße ist eine ganz andere. Gleichzeitig schwindet tatsächlich die Zahl derer,
die für diese Form der Aktion mobilisierungsbereit sind.
Daraus ergeben sich Fragen: Ist für einen
wirksamen Protest wirklich entscheidend, wie viele Personen sich einfinden? Ist es wirklich von Bedeutung,
von den herrschenden Medien wahrgenommen zu werden, die erfahrungsgemäß in der Regel
staatstragend-ironisch und in aller Kürze berichten, um sich danach wieder der Hofberichterstattung
zuzuwenden? Kann emanzipatorischer Protest nicht auch eine andere Gestalt annehmen und wäre
dies in der BRD möglich, in der obrichkeitsstaatliches Denken und Gehorsam für viele wichtige
Kategorien ihrer Matrix sind? Wo bleibt die Erfahrung der Demütigung, die Grenze der Belastbarkeit?
Verhindert eine autoritäre Haltung, dass diese Erfahrung sich überhaupt niederschlägt? Wenn
der Unmut darüber nicht mehr auf kollektiven Märschen artikuliert wird, vielleicht, weil der
Kollektivgedanke nicht sehr stark repräsentiert ist, über welche psychischen Kanäle wird
versucht, sich Luft zu verschaffen? Bleibt die Unterwerfung, das Durchwursteln, oder kommt es zu
individuellen sporadischen Explosionen?
Das Phänomen des Schweigens, des Verschwindens aus der Öffentlichkeit hieß noch nie, dass
es nicht auch subtile Formen der individuellen Verweigerung, der selbstbewussten Instrumentalisierung
behördlicher Praktiken gegeben hat und noch gibt. Seit einigen Monaten aber finden Aktionen statt, die
offenbar im Kontext der Hartz-IV-Veränderungen stehen, bei denen gewaltförmig zur Tat geschritten
wird, so, als sei alles gesagt. Es geht um verschiedene Formen der Anschläge und Angriffe auf
verschiedene Arbeitsagenturen, repräsentative Figuren und symbolische Orte.
Mit den folgenden Beispielen soll das
beschrieben werden, was gegenwärtig auch geschieht, allerdings nicht, um eine politische Bewertung zu
geben, die in der Tat noch aussteht. Die Aufzählung ist sicherlich nicht vollständig, kann aber
einen Eindruck vermitteln:
14.10.2003: Brandstiftungen in den
Arbeitsamtsgebäuden in Berlin-Mitte und -Südwest sowie Farbbeutelanschlag gegen das Wohnhaus von
Peter Hartz (»Hartz Sozialräuber«). Bekennerschreiben in allen Fällen: »ABM
Autonom bestimmte Maßnahme« und »psa projekt subversive aktion«.
26.11.03: Brandanschlag auf das Arbeitsamt
Hildesheim. Bekennerschreiben: »ABM Autonom bestimmt Maßnahme«.
3.1.04: Brandanschlag auf Büros des
Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Bekennerschreiben: Institut ist »Denkfabrik und
Schulungsschmiede des Kapitals«.
5.1.04: Briefbomben im Europaparlament, u.a.
an den Präsidenten der Europäischen Zentralbank Trichet. Vermutlich »italienische
Anarchistenkreise«, die zuvor bereits mehrere Bomben an Europapolitiker geschickt hatten.
10.1.04: Ulla Schmidt erhält Droh- und
Schmähbriefe.
8.3.04: Handfeste Drohungen gegen Ulla
Schmidt: »Hoffentlich finden sich ein paar Terroristen und schmeißen ein paar Bomben auf Ihr
Ministerium«. Sie erhält weitere Bodyguards.
28.4.04: Brandsatz mit Zeitzünder im
Arbeitsamt Südwest in Berlin. Im AA Berlin-Mitte wurden Fensterscheiben eingeschlagen.
29.4.04: Farbbeutelanschlag auf die
Arbeitsagentur Münster.
3.5.04: Farbschmierereien an der AA Wetzlar
mit politischen Parolen, bei denen es um Arbeit, Zwang zur Arbeit und den Sozialstaat ging.
22.5.04: Arbeitsloser Lehrer: Ohrfeige
für Schröder Unzufriedenheit mit seiner Regierungspolitik.
27.5.04: Farbschmierereien an der AA
Gießen; Parolen: »Arbeit abschaffen« und »Widerstand statt Wahlen!«
28.5.04: Verurteilung eines arbeitslosen
Stadtplaners, der ein Kilopaket Mehl nach dem niedersächsischen Ministerpräsidenten Wulff
geworfen hatte. Vorwurf: Wulff verschleiere den neoliberalen Umbau der Gesellschaft, deshalb habe er ihn
»einnebeln« wollen.
10.7.04: Bei drei Schlecker-Märkten in
Frankfurt wurden Scheiben eingeschlagen. Im Bekennerschreiben wird »die Abschaffung des
Kapitalismus« gefordert. Bereits Anfang Mai seien Märkte auf gleiche Art beschädigt worden.
15.7.04: Polizeigewerkschaft warnt vor
Übergriffen wegen Hartz IV.
15.10.04: Seit Anfang des Jahres mehrere
Briefbombenanschläge auf Politiker verschiedener Parteien und Diplomaten (»Briefbomber von
Passau«). In einem Umschlag war ein Zeitungsausschnitt mit dem Bild Schröders samt der
Überschrift: »Die wollen uns noch mehr schröpfen«. Vermutetes Tatmotiv:
»undifferenzierter Hass auf Politiker aller Parteien« (unklar, welcher politische Hintergrund).
29.10.04: Zwei Brandanschläge auf AA und
Jobcenter in Hamburg und Königs Wusterhausen bei Berlin. In Hamburg verwüstete das Feuer eines
der Büros der Sozialabteilung, in der u.a. die Sozialhilfefälle bearbeitet werden. Dort soll ein
Job-Center eingerichtet werden. Die Polizei schließt politische Motive aus; es handle sich um die
Verdeckung eines Einbruchs.
10.11.04: In Bietigheim-Bissingen (Baden-
Württemberg) fuhr ein 51-jähriger Arbeitsloser mit seinem PKW und darin befindlicher
geöffneter Gasflasche in den Haupteingang der dortigen Arbeitsagentur. Das Auto explodierte, der Mann
verbrannte bis zur Unkenntlichkeit. Als Motiv für den Selbstmordanschlag vermutet die Polizei
Auseinandersetzungen mit der Agentur wegen des Arbeitslosengelds.
27.11.04: »Der Briefbomber von
Passau« beging Selbstmord, nachdem ein Speicheltest bei den männlichen Bewohnern angekündigt
worden war. Der politische Hintergrund ist weiterhin unklar (siehe oben).
27.11.04: Laut Spiegel gab es in den
vergangenen Wochen Bombendrohungen gegen Arbeitsagenturen in Wittenberg (Sachsen), Deggendorf (Bayern),
Waiblingen (Baden-Württemberg), Bergen (Mecklenburg-Vorpommern), Leipzig (Sachsen) und Stendal
(Sachsen-Anhalt). Einen Brandanschlag gab es in Rathenow (Brandenburg). Ab Januar sollen Streifen und
Kontrollen vor den Ämtern verstärkt werden. Die Arbeitsagentur in Deggendorf lässt ihre
Angestellten beim Bundesgrenzschutz Kurse in Selbstverteidigung absolvieren.
Bei dem Selbstmordanschlag in Bietigheim-Bissingen gab es die einzige mir bekannte Kommentierung in der
Presse. Die Süddeutsche Zeitung (13.11.04) verglich diesen Selbstmord u.a. mit dem eines
Atomkraftgegners im Jahr 1977 und meinte: »Auch der Tod des 51-jährigen Fernmeldehandwerkers war
vollkommen sinnlos. Die Arbeit verschwindet, die Arbeitslosigkeit lässt sich nicht mehr bezahlen, am
Ende haben wir eine Reform, mit der alle leben können. Das ist nicht der Atomstaat, auch nicht der
Hartz-IV-Staat, sondern der Lauf der Welt.« Einem in sich ruhenden Journalisten bleibt nur noch
Kopfschütteln.
In den genannten Beispielen artikuliert sich
weniger der verbale Protest im Verein mit aufklärendem Bemühen als vielmehr die Gegenwehr durch
die Tat. Diese Bewegungen zu interpretieren, steht an, da sie quer zu dem liegen, was sich in den letzten
Jahrzehnten als »angemessene«, politisch korrekte Protestform herauskristallisiert hat.
Möglich wäre zukünftig, dass, auch wenn das Arbeitslosengeld II eingeführt sein wird
und die erzwungenen 1-Euro-Jobs Realität geworden sind, die großen Proteste ausbleiben, dass sich
aber die Gegenwehr artikuliert in individuellen, gewaltförmigen und eruptiven Aktionen, die nicht
kalkulierbar sind.
Christa Sonnenfeld
Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch.
Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50,
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