SoZSozialistische Zeitung |
Der Mitte Dezember 2004 vorgelegte zweite Armuts- und Reichtumsbericht der
Bundesregierung beweist es: Die Schere zwischen Arm und Reich in Deutschland öffnet sich weiter.
Die Armutsrisikoquote ist von 12,1% (1998) auf 13,5% (2003) gestiegen. Die geschlechtsspezifische
Differenzierung ergibt eine Risikoquote von 14,4% für Frauen und von 12,6% für Männer. Von
der Einkommensarmut sind in erster Linie Alleinerziehende, kinderreiche Familien und Erwerbslose betroffen.
Frauen sind unter diesen Gruppen nicht nur überproportional anzutreffen, sondern sie sind es auch, die
meist mit dem wenigen Geld wirtschaften müssen.
Hinter den statistischen Zahlen über das
Ausmaß der Armut stehen viele Einzelschicksale. Die Diskriminierung von Frauen beginnt früh und
endet im Alter nicht. Der gegenwärtige Abbau von sozialen Leistungen trifft Frauen in Ost und West
besonders hart.
Die Verknappung von existenzsichernden
Arbeitsplätzen und die Tatsache, dass Arbeitsmarkt-, Familien- und Sozialpolitik an einem
Familienmodell orientiert sind, das für Männer die »Haupternährerrolle« und
für Frauen die Rolle der »Zuverdienerin« vorsieht, verdrängt Frauen aus dem
regulären Arbeitsmarkt in prekäre Beschäftigungsverhältnisse. Egal, wie Frauen leben:
Von der Möglichkeit, sich eigenständig zu ernähren, sind viele ausgeschlossen. 70% der Armen
sind Frauen weltweit.
Der Wechsel zwischen Erwerbslosigkeit, Familienarbeit,
»Ehrenamt«, der (oft selbst finanzierten) Weiterbildung und erneuten Jobsuche wird gängige
Praxis. Um Haus- und Sorgearbeiten und Berufsarbeit zu vereinbaren, werden Mini-Jobs und andere nicht
existenzsichernde Beschäftigungsverhältnisse angenommen.
Viele, die solche Arbeitsverhältnisse
inne haben, gehören zu den »working poor« sie sind arm trotz Arbeit. Der
2.Armutsbericht belegt den engen Zusammenhang zwischen niedrigem Einkommen und geringem Bildungsniveau,
schlechter Wohnversorgung, höherem Krankheitsrisiko und gesellschaftlicher Ausgrenzung. Bildungsarmut
bei Kindern und Jugendlichen aus einkommensschwachen Familien ist die Regel.
Ende Dezember 2004 warteten 14950 Interessenten auf eine Lehrstellenvermittlung. Gleichzeitig haben die
Unternehmer in 4200 Fällen niemanden für ihr Angebot gefunden. Obwohl junge Frauen gleich gute
und bessere Schulabschlüsse als Jungen haben, sind zwei Drittel aller Jugendlichen, die keinen
Ausbildungsplatz bekommen, Mädchen. Auch wenn Erwerbslosigkeit nicht grundsätzlich mit
Bildungsdefiziten verknüpft ist, sind die »geringqualifizierten« Frauen besonders betroffen.
In den neuen Bundesländern ist die
Erwerbslosenquote der Frauen ohne Berufsausbildung mehr als doppelt so hoch, als die der Männer ohne
Ausbildung. Insgesamt waren im Dezember 2004 fast eine halbe Million Menschen unter 25 Jahren in den
Warteschleifen der Bundesagentur oder erwerbslos. Für Frauen weist auch die Jugendarbeitslosenquote
generell deutlich ungünstigere Werte auf. Nicht erst bei der »Berufswahl« werden sie auf die
»Alternativrolle« in der Familie oder auf Ausbildungsplätze in der Hauswirtschaft
hingewiesen.
In der BRD waren im Dezember 2004 4,46 Millionen Erwerbslose registriert. Rechnet man die Dunkelziffer
dazu, so fehlen fast 8 Millionen Erwerbsarbeitsplätze. Erwerbslose sind es aber, die ein wesentlich
höheres Einkommensrisiko (40,9%) gegenüber Beschäftigten (7,1%) haben. Besonders in den
neuen Ländern sind Frauen wesentlich stärker von Erwerbs- und Langzeiterwerbslosigkeit betroffen
als Männer. Nach Inkrafttreten des ALG II, das seit 1.1.2005 an erwerbsfähige
Sozialhilfeempfänger gezahlt wird, werden viele Frauen leer ausgehen, weil die finanziellen Leistungen
nicht auf das Individuum ausgerichtet sind, sondern auf »Bedarfsgemeinschaften«.
Frauen, die in der Familie hilfsbedürftige Menschen versorgen und pflegen, erhalten keinen Lohn,
sieht man von völlig unzureichenden und für Männer unattraktiven »Löhnen« wie
Erziehungsgeld und Pflegegeld ab.
Fast alle Mütter nehmen zumindest einen
Teil der dreijährigen Elternzeit, obwohl sie von 307 Euro Erziehungsgeld, das zudem nur für zwei
Jahre gezahlt wird und abhängig vom Einkommen des Ehemanns ist, nicht leben können.
4,9% der Väter nahmen im Jahre 2003
Elternzeit in Anspruch, nur 0,2% kümmerte sich ausschließlich um Kind und Haushalt.
»Elternzeit« ist nach wie vor »Frauenzeit«. Sie macht Frauen arm und abhängig vom
(Ehe-)Mann, bzw. im Falle Alleinerziehender vom Staat und bürdet ihnen Einschränkungen in der
beruflichen und rentenbezogenen Biografie auf.
Auch die Übernahme von Pflegeleistungen
erweist sich als Armutsfalle. Das Ausmaß der Pflege, die zu Hause geleistet wird, übersteigt mit
rund 70% bei weitem das Ausmaß der Pflege, die in Heimen geleistet werden. 80% aller pflegenden
Angehörigen sind Töchter, Schwiegertöchter, Ehefrauen, Mütter und Freundinnen.
Selbständig leben können sie von der »Aufwandsentschädigung« zwischen 205 Euro und
665 Euro (je nach Pflegestufe) nicht. Die Zahl der Männer, die ihren Beruf (vorübergehend)
aufgeben, um Pflegeleistungen zu erbringen, dürfte die der Elternzeitväter noch unterschreiten.
Ganz ohne Lohn, »ehrenamtlich«,
arbeiten Frauen in der sozialen Arbeit. Etwa 80% dieser Arbeiten, die oft die finanzielle Abhängigkeit
durch den (Ehe-)Mann erfordern, werden durch Frauen ausgeführt. Die Übergänge zwischen
geringfügigen und ehrenamtlichen Arbeitsverhältnissen sind fließend.
Der Zuwachs an Frauenarbeitsplätzen in den letzten Monaten ist fast ausschließlich auf
Teilzeitarbeit, 1-Euro-Jobs, Mini-Jobs und Ich-AGs zurückzuführen. Um Haus- und Sorgearbeiten und
Berufsarbeit zu vereinbaren, weil Kinderbetreuungsmöglichkeiten nicht zur Verfügung stehen oder
weil ihnen kein »ganzer« Arbeitsplatz angeboten wird, nehmen Frauen diese
Arbeitsverhältnisse. 95% der abhängig beschäftigten Männer haben damit kein Problem.
Sie sind Vollzeit beschäftigt, auch wenn sie Väter sind.
Teilzeitarbeit ist nicht per se zu den
prekären Arbeitsverhältnissen zu zähen. Dort, wo man vom Ertrag der Arbeit einigermaßen
leben könnte, wird allerdings nur selten geteilt. Trotz einiger arbeitsrechtlicher und
tarifpolitischer Verbesserungen ist Teilzeitarbeit nach wie vor mit Nachteilen verbunden. Sie ist meist im
Dienstleistungssektor und vor allem in Bereichen mit hohem Leistungsdruck und niedrigen Löhnen zu
finden. Armut spätestens dann, wenn der »Haupternährer« wegfällt, ist die
Folge.
In vielen Bereichen mit »typischen
Frauenarbeitsplätzen« sind atypische oder »ungeschützte«
Beschäftigungsverhältnisse zur »Normalarbeit« geworden. Arbeitgeber mit einem hohen
Anteil geringfügig Beschäftigter konnten bislang enorme Sozialversicherungsbeiträge sparen.
Durch das Inkrafttreten der Hartz-Gesetze wird
ein weiterer Ausbau prekärer Beschäftigung verbunden mit einer Ausweitung des Niedriglohnsektors
und einer Aushebelung des Kündigungsschutzes möglich. Da (fast) jede Arbeit als zumutbar gilt,
müssen ALG-II-Bezieher auch Mini-Jobs annehmen, die bestenfalls zum »Zuverdienen« geeignet
sind.
Viele »selbstständige« Frauen
sind jetzt und im Alter arm, weil sie kein existenzsicherndes Einkommen erwirtschaften. Frauenbetriebe
arbeiten meist mit geringem Kapitaleinsatz und Jahresumsatz, weit überwiegend im
Dienstleistungsbereich und im Handel. Mit der Einführung der »Ich-AGs« sollen erwerbslose
Frauen, an deren »Unternehmergeist« schon lange appelliert wird, in der Zukunft ihre
Beschäftigungs- und Versorgungsperspektiven eigenständig regeln. Verstärkt gilt das für
die »mithelfenden Familienangehörige«, die durch die Familien-AG rekonstruiert werden.
Dort, wo Frauen arbeiten, verdienen selbst auf gut bezahlten Arbeitsplätzen durchschnittlich etwa
25% weniger als Männer. Frauen sind in den unteren Lohngruppen zu finden, arbeiten in Branchen, die
Niedriglöhne zahlen (z.B. Textil, Handel, niedrigbewertete Dienstleistungen).
Die Diskriminierungen bestehen fort, obgleich
seit 1955 »Frauenlohnabschlagsklauseln« als gesetzeswidrig identifiziert sind. Hauptgrund der
Diskriminierung ist, dass auch gut ausgebildete Frauen immer noch als »Zuverdienerinnen«
angesehen werden. Das trifft auch Frauen, die niemals Ehefrau waren oder werden wollen.
Obwohl Menschen heute angeblich aus einer
Vielzahl von Lebensformen auswählen können, führt ein Abweichen von der
»Normalbiografie«, zu der Ehe und festgelegte Geschlechtsrollen gehören, oft zu Armut. Eine
Umgestaltung des Ehegattensplittings, das vor allem den Tatbestand der Ehe und alleinverdienende
Ehemänner subventioniert, steht nicht (mehr) auf der Agenda der Regierungsparteien. Geschiedene und
alleinlebende Frauen sind weit eher von Armut betroffen als »Familienfrauen« und haben auch im
Alter keine besseren Aussichten.
»Alleinerziehende« Frauen, die am
Ärmsten dran sind, wehren sich mit Recht dagegen, per se als arme Frauen zu gelten. Viele haben sich
diese Lebensform selbst gewählt, oder sie erscheint ihnen erstrebenswerter, als das Aufrechterhalten
einer unerträglichen Beziehung. Dennoch werden sie zu Bittstellerinnen gegenüber dem Staat
gemacht und sind kontrollierbar.
Im Mai 2003 lebten in Deutschland 2,5
Millionen »Einelternfamilien«, 85% waren Mutterfamilien. 26,3% waren auf Sozialhilfe angewiesen.
Erschwerter Zugang zu Erwerbstätigkeit und fehlende Kinderbetreuungsmöglichkeiten waren die
wichtigsten Ursachen. Der Armutsrisikoquotient betrug bei Alleinerziehenden im Jahre 2003 35,4%,
während er bei »Normalfamilien« (2 Erwachsene mit Kindern) 11,6% betrug.
Seit 1.1.2005 müssen Frauen, die keinen
finanzstarken Partner in ihrer Bedarfsgemeinschaft haben, Erwerbsarbeit leisten. Dies, obwohl trotz
Änderungen in der statistischen Erfassung in der BRD 27 Erwerbslose auf eine offene Stelle
kommen und sie sich einer ständig schwindenden Zahl von Kindertagesstätten und
Kindergartenplätzen mit kontinuierlich steigenden Kosten gegenüber sehen.
Gemessen an der Erwerbslosenquote in der BRD sind Menschen ausländischer Herkunft doppelt so stark
von Erwerbslosigkeit und damit auch vom Armutsrisiko betroffen, wie die Gesamtbevölkerung. Arm sind
vor allem Migrantinnen, die noch immer kein eigenständiges Aufenthaltsrecht haben. Auch nach der
Änderung des Ausländergesetzes vom 25.5.2000 erhalten ausländische Ehepartnerinnen im Fall
der Trennung erst nach zwei Ehejahren ein eigenständiges Aufenthaltsrecht. Scheitert die Ehe vor
dieser Frist, wird die Frau abgeschoben.
Misshandlungen oder Gründe, die einer
Frau die Rückkehr in das Heimatland unmöglich machen, werden oftmals nicht als
»Härtefälle«, in denen eine eheliche Gemeinschaft von drei Jahren ausreicht, von den
Gerichten anerkannt. Der weitaus größte Teil in der BRD lebenden Migrantinnen sind Ehefrauen von
deutschen oder ausländischen Männern, die ein Aufenthaltsrecht haben.
Die Benachteiligung im Erwerbsleben wird im sozialen Sicherungssystem fortgeschrieben, das sich an der
Norm männlicher Erwerbsbiografien orientiert. Das heißt, eine ausreichende Absicherung im Alter,
bei Krankheit und Erwerbslosigkeit ist nur bei durchgehender Vollzeiterwerbstätigkeit und bei
durchschnittlichem Einkommen gewährleistet.
Dass Frauen von Altersarmut betroffen sind,
weil sie kein den Normen entsprechendes »erfülltes« Berufsleben hinter sich haben,
bezeichnete Trude Unruh schon früher als das »zynische Ende der christlichen
Familienpolitik«. Die ohnehin schon weit verbreiteten Lücken in den »typisch
weiblichen« Patchworkbiografien vergrößern sich künftig, weil Frauen, die aus dem
Leistungsbezug herausfallen, nur noch von ihren Ehemännern abgeleitete Leistungsansprüche haben.
Das ist zu berücksichtigen, wenn der 2.Armuts- und Reichtumsbericht unter dem Stichwort
»Generationsgerechtigkeit« weitere Kürzungen bei den Renterinnen und Rentnern empfielt.
Für die Zukunft wird das Verteilen der Armensuppe nicht mehr ausreichen. Es wird notwendig, den
Mechanismen nachzuspüren, die die zunehmende Armut bewirken und daraus echte Reformansätze zu
entwickeln. In unserem reichen Land geht es nicht allen schlechter. Die Reichen können einen weiteren
Anstieg ihres Vermögens und Einkommens verzeichnen. 5 Billionen Euro Nettovermögen haben sie
inzwischen angehäuft. Ein Zehntel der Haushalte verfügen über 47% des Reichtums. Reichtum
vererbt sich Armut ebenso.
Wenn Armut vor allem durch Erwerbslosigkeit
verursacht wird, so wird eine Umverteilung der gesellschaftlich notwendigen (bezahlt und unbezahlt
geleisteten Arbeit) ebenso notwendig wie eine Umverteilung des Reichtums. Wenn Armut mit dem Abweichen von
der »Normalfamilie« zu tun hat, wird es dringend notwendig, dass alle Lebensformen gleiche
Existenzbedingungen genießen.
Gisela Notz
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