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Legend ist der Titel des Reggae-Albums, das sicher jeder nicht einseitig
interessierte Progressive in seiner Plattensammlung hat. Das Wort »Legende« ist durch
übermäßigen Gebrauch etwas abgewertet, aber wenige Begriffe beschreiben besser den
jamaikanischen Musikstar Bob Marley. Sein Status als Ikone wird durch die Tatsache gefestigt, dass er im zarten
Alter von 36 Jahren starb. Seitdem ist sein hübsches Gesicht, wie das eines anderen
»Soulrebellen« Che Guevara auf den T-Shirts und Schlafzimmerpostern von Millionen
junger Menschen verewigt worden.
Es ist eine passende Huldigung, dass der außerordentliche Auftritt Marleys und seiner Band The Wailers
im Rainbow Theatre in London 1977 von der New York Times ausgewählt wurde, in eine Zeitkapsel aufgenommen
zu werden, die in 1000 Jahren geöffnet werden soll. Das Magazin Time erklärte Marleys Exodus zum
Album des 20.Jahrhundert. Marley nahm Reggae, eine in Jamaika heimische musikalische Form mit einer starken
Betonung auf ein rhythmisches Wechselspiel zwischen Trommeln und Bassgitarre, und popularisierte sie in der
ganzen Welt.
Wichtiger noch war, dass er in der ungestümen
politischen Atmosphäre der 60er und 70er Jahre den Schmerz und den Optimismus der Unterdrückten und
Ausgebeuteten in einer Weise, die eine universelle Wirkung hatte. Schon durch die Titel einiger seiner
berühmtesten Songs »War«, »Revolution«, »Burnin and
Lootin«, »Get Up Stand Up«, »Rebel Music«, »Uprising« ist er
einer näheren Betrachtung wert.
In seiner herausragenden Studie über Marleys
Songs vertritt Kwame Dawes die Auffassung, dass Marleys Talent »ebenso unerklärbar ist wie das Talent
aller großen Künstler aller Zeiten. Es ist vergeblich, es erklären zu wollen.« Dawes
beschreibt Marley zu Recht als »lyrisches Genie«, aber wie alle Künstler war er ein Produkt
seiner Zeit und es ist deshalb möglich zumindest einen Teil seiner Brillanz durch die Bezugnahme auf die
Welt, in der er lebte, zu begreifen.
Jamaika ist ein Ort von atemberaubender
Schönheit. Doch es ist auch ein Land, das durchtränkt ist von einer Geschichte von Gewalt und
Brutalität. Pionier dieser Gewalt war Christoph Kolumbus, der die Insel 1494 »entdeckte« und
anschließend die dort lebende Bevölkerung der Arawak abschlachtete oder sie in die Sklaverei
verkaufte. Ab 1517 wurde die Insel zunehmend von dorthin transportierten Sklaven bevölkert. England
übernahm 1655 von Spanien die Kontrolle und setzte einen noch intensiveren Prozess der Ausbeutung in Gang.
Ende des 18.Jahrhunderts bewohnten 300000 Sklaven die Insel, und als die Sklaverei 1839 abgeschafft wurde,
kamen 42% der britischen Zuckerimporte aus Jamaika. Für diejenigen, die diesen Reichtum besaßen und
kontrollierten, war es ein lukratives Geschäft. Für die geknechtete Bevölkerung bedeutete es
jedoch ein Leben im Elend. Die grausame Heuchelei dieser Kolonialherrschaft ist ein ständiges Thema bei
Bob Marley.
Trotz der Freilassung der Massen aus der Sklaverei
ging das Elend weiter und nährte eine Reihe von Erhebungen, darunter die berühmte Morant-Bay-
Rebellion von 1865, die von Paul Bogle angeführt wurde, der nach seiner Gefangennahme hingerichtet wurde.
In diese Gesellschaft am elenden Rand britischer
imperialer Herrschaft wurde Robert Nesta Marley am 6.Februar 1945 geboren. Sein Vater war ein weißer
britischer Marineoffizier, den Marley nie kennen lernte, seine Mutter, Cedella Booker, eine arme Putzfrau. Als
in Trench Town aufwachsendes Kind erfuhr er die lähmende Armut, die das Erbe der britischen Herrschaft
war.
Jamaika erreichte schließlich 1962 seine
Unabhängigkeit. Doch die Ökonomie, die nun auf Bauxitförderung und Tourismus basierte, brachte
wenig Wohlstand oder Gleichheit. Mitte der 70er Jahre besaßen 2% der Bevölkerung 80% der
Reichtümer der Insel und 24% der Erwachsenen waren erwerbslos. Obwohl Marley seinen ersten Hit 1964 in
Jamaika hatte, war er einer der vielen in der Armutsfalle Gefangenen. In den folgenden zehn Jahren verdiente er
kaum 200 Pfund mit seiner Musik und war gezwungen, als Schweißer und Hausmeister zu arbeiten. Erst als der
reiche Jamaikaner Chris Blackwell 1972 den Wailers einen lukrativen Vertrag mit Island Records anbot, kreuzten
Ruhm und Wohlstand Marleys Weg.
Auch während des frühen Stadiums seiner
Karriere artikulierten Marley und seine Wailer-Kollegen Peter Tosh und Bunny Wailer die Probleme der
jamaikanischen Gesellschaft. Der Hit »Simmer Down« thematisierte unmittelbar die bedrückende
Entfremdung, die die Jugend in einer Zeit geringer Möglichkeiten empfand.
In gewisser Weise ist Bob Marley schwer
auszuloten. Er war bekanntermaßen im Gespräch schwer zu verstehen. Dies nährte Spekulationen,
dass eine so offensichtlich unzusammenhängende Person kaum seine eigenen Texte geschrieben haben konnte.
In Wahrheit hatte die Schwierigkeit, ihn zu verstehen, mehr mit seinem starken Dialekt und der
übermäßigen Menge von ganja, die er rauchte, zu tun!
Die Schwierigkeit, Marley zu analysieren, liegt
vor allem in der offensichtlich widersprüchlichen Philosophie, die ihn inspirierte. Er leugnete vehement
jedes Interesse an dem, was er politricks nannte, und verkündete stolz, dass sein Glaubenssystem
religiöser Natur sei. Seine Religion war der Rastafarianismus, ein bizarrer Kult, dessen Anhänger
erklärten, dass der äthiopische Kaiser Haile Selassie (geboren als Ras Tafari) ein lebendiger Gott,
oder »Jah«, wie sie ihn nannten, sei.
Diese Behauptung war aus einer Reihe von
Gründen schwer aufrecht zu erhalten. Erstens akzeptierten weder Selassie selbst oder seine Familie jemals
eine solche Zuschreibung, wenngleich er gelegentlich die damit verbundene Huldigung genoss. Zweitens war seine
40-jährige Herrschaft geprägt von Vetternwirtschaft, persönlicher Feigheit und Tyrannei.
Schließlich starb er 1975 und strafte so die Behauptung seiner Anhänger, er sei unsterblich,
Lügen.
Die Rastafarier waren in Jamaika Hohn, Verfolgung
und Ausgrenzung ausgesetzt. Doch kann man angesichts der schmerzhaften Geschichte der Insel die Zugkraft der
Sekte auf den jungel Marley verstehen. Karl Marx schrieb 1843: »Das religiöse Elend ist in einem
Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der
Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser
Zustände ist.«
Kurz, die Religion liefert einen Rahmen, innerhalb
dessen die Gläubigen ihr Leiden verstehen und einen gewissen Trost aus der Hoffnung ziehen können,
dass sie, solange sie ihren Glauben bewahren, eine bessere Welt im Jenseits erwartet.
Der Rastafarianismus beruht auf dem Glauben, dass
das verheißene Land hier und jetzt auf der Erde in Afrika zu finden sei. Die Rastafarier
bezogen ganja in ihr Glaubenssystem ein und betrachteten es als heiliges Kraut, das den Gläubigen Nahrung
und »Auftrieb« gibt.
Es gibt auch ein deutliches politisches Element in
den Ursprüngen des Rastafarianismus. Die Sekte stammt von der »Zurück nach Afrika«-
Propaganda des schwarzen nationalistischen Führers Marcus Garvey. 1927 erklärte Garvey, der selbst in
Jamaika geboren wurde, dass ein Erlöser der Schwarzen kommen werde. Als Selassie 1930 Führer
Äthiopiens wurde, erschien er als die lebendige Verkörperung dieses Wesens.
Marley war eine ungemein politische Gestalt trotz seiner gegenteiligung Behauptung. Er wurde gewiss von
denen, die in Jamaika um Macht und Einfluss stritten, auch als solche betrachtet. 1976 befand er sich schon auf
dem Weg zu internationalem Starruhm. Er wurde dadurch auch zu einer zunehmend einflussreichen Gestalt in der
jamaikanischen Gesellschaft.
Im November 1976, zwei Tage vor einem geplanten
Konzert der Wailers auf einer von der Peoples National Party (PNP) organisierten Veranstaltung, wurde auf
Marley und seine Frau Rita ein Attentat verübt. Zwei Jahre später brachte er Michael Manley und
Edward Seaga, die Führer der beiden verfeindeten Parteien des Landes, der [nationalistischen] PNP bzw. der
[rechtsgerichteten] Jamaican Labour Party, bei einem Friedenskonzert in Kingston zusammen. Er war
wahrscheinlich die einzige Person, die dies in einem Land schaffen konnte, das von Korruption, Spaltung und oft
gewalttätiger Patronage beherrscht wird.
Im April 1980 trat er bei den Feiern
anlässlich des Endes der weißen Herrschaft in Rhodesien auf. Sein Song »Zimbabwe«, der die
neue, von Schwarzen geführte Nation feierte, gehört zum Album Survival, das auf seinem Cover die
Flaggen aller afrikanischen Länder abbildet und ein klarer und kompromissloser Aufruf zur afrikanischen
Einheit ist.
Marley war sicher ein tiefgründiger Denker
mit einem klaren Verständnis der kolonialen Barbarei Großbritanniens: »Sie leben alltäglich
ein Leben vollständiger Verstellung. Sie sind der große Fisch, der stets den kleinen Fisch fressen
will … Um ihren Willen durchzusetzen, würden sie alles tun.«
Er empörte sich gegen Ungerechtigkeit und
Ungleichheit und misstraute den Politikern: »Lass nie zu, dass dir ein Politiker seine Gunst erweist. Sie
wollen dich stets nur kontrollieren.« Er hasste die Polizei »Uniformen der
Brutalität« und er war sich klar darüber, auf wessen Seite er stand: »Wenn ihr der
große Baum seid, dann sind wir die kleine Axt, euch zu fällen.«
Die militante Botschaft und der Ruf zu den Waffen
wurde vermischt mit Aufrufen zum Frieden und zur Liebe und schließlich mit der Überzeugung, dass der
Glaube an Jah zum Auszug seiner Anhänger aus Babylon zur Rettung nach Äthiopien führen
würde. Die Musik war ein entscheidendes Mittel, wodurch die Verwandlung sich vollziehen würde. Daher
ermahnt Marley seine Genossen: »Befreit euch von der geistigen Sklaverei. Nur ihr könnt euren Geist
befreien.«
Nach dem Attentat floh Marley nach
Großbritannien. Während seines Exils fand er einen Grad von Ruhe, währenddessen er eine Reihe
eher nachdenklicher Alben wie Exodus und Kaya produzierte. Seine Trennung von den Tageskämpfen hilft dies
zu erklären und ermöglicht uns, ihm den grässlichen Song »Three Little Birds« zu
vergeben, besonders da er seinen Appetit nach schönen Liebesliedern wie »Turn Your Lights Down
Now« und »Waiting in Vain« wiederentdeckte.
In Großbritannien feierte Marley die
Kreativität der neuen wave music, die Ende der 70er Jahre die Bühne eroberte. Auf Exodus stellt er
sich eine »punky reggae party« vor, bei der die Wailers zusammen mit »The Damned, The Jam, The
Clash und Dr Feelgood« auftreten, aber »nicht mit langweiligen alten Säcken«. Marleys
früher Tod bedeutete, dass aus der potenziell größten Reggae-Party eine der bittersten
versäumten Gelegenheiten wurde.
Im Zuge von Eric Claptons bei einem Auftritt im
Suff abgegebener Erklärung für den rassistischen Politiker Enoch Powell wurde 1976 in
Großbritannien Rock Against Racism (RAR) gegründet. Die RAR-Gründer Red Saunders und Roger
Huddle waren besonders durch die Tatsache angetrieben, dass Clapton kurz vorher seine Karriere mit einer
Version von Marleys »I Shot the Sheriff« wiederbelebt hatte.
1982 ging Red Saunders nach Jamaika, um für
die Sunday Times eine Fotostory über die verschiedenen Musiklabels zu machen. Marleys frühere
Hintergrundsänger, die I-Threes, führten ihn in den Tuff-Gong-Studios herum. Als er Bobs
früheres Büro betrat, hing ein Exemplar des Briefs, den er und Huddle an den New Musical Express
geschrieben hatten, an der Wand. Darin heißt es: »Who shot the Sheriff, Eric? Zum Teufel, du warst es
nicht!« Die I-Threes informierten Red, dass Bob Marley den Brief begrüßt hatte und großes
Interesse an RAR hatte. Seitdem bereuen Red und Roger ihre damalige Weigerung, ihrem Instinkt zu folgen und
Marley und John Lennon zum ersten RAR-Festival einzuladen.
Eine Generation nach Marleys Tod ist der Reggae wieder in den Schlagzeilen, aber aus weitaus weniger
appetitlichen Gründen. Schwulengruppen wie Outrage!, geführt von Peter Tatchell, haben eine
großangelegte und anscheinend wirksame Kampagne gegen die schwulenfeindlichen Texte von Interpreten wie
Beenie Man, Buju Banton, Bounty Killer und Sizzla Kalonji lanciert. Laut Outrage! hat diese »jamaikanische
Mördermusik« ein Klima schwulenfeindlicher Gewalt geschürt, das im Mord an über
dreißig schwulen Männern in Jamaika gipfelte. Einer Reihe von Künstlern wurde die Einreise nach
Großbritannien verweigert; Scotland Yard untersucht Beschuldigungen gegen andere; verschiedene Auftritte
wurden abgesagt, und die Music of Black Origin Academy wurde gezwungen, für zwei Künstler, Elephant
Man und Vybes Cartel, die Nominierungen für Auszeichnungen zurückzuziehen.
Sozialistinnen und Sozialisten sollten
selbstverständlich die homophobe Bigotterie dieser Künstler uneingeschränkt verurteilen. Jene
unter uns, die Reggae lieben, müssen auch zugeben, dass es einen gemeinsamen Strang gibt, der die
Sänger von heute mit denen in der Vergangenheit verbindet. Marley würde gewiss den harten
Straßenjargon seiner Nachfolger verstehen und mit einem großen Teil ihres sexistischen
Imponiergehabes übereinstimmen. In beiden Fällen stützt sich der religiöse Inhalt auf eine
extreme Interpretation der Bibel. Doch während Marley sich der Welt zuwandte und Liebe und Einheit
predigte für einen Kampf, der nach vorne weist, haben sich die heutigen Sänger nach innen gewandt.
Ihre Musik ist kaum mehr als ein leichtgewichtiger Eskapismus, und im schlimmsten Fall widerspiegelt sie die
reaktionäre Ideologie, die die jamaikanische Gesellschaft erstickt.
Doch sollten auch diejenigen, die Kritik üben
wollen, sich daran erinnern, wer die wirklichen Förderer von Gewalt und Bigotterie sind. Wie Marley selbst
feststellte, sind es diejenigen, die die »Kirchen und Universitäten« bauten, aus denen in erster
Linie »Diebe und Mörder« hervorgingen. Ihre postkolonialen Nachfolger haben diese Lehren
aufgenommen und herrschen weiter mit einer Kombination aus Knute und Korruption.
Sehr gelegentlich können auch Künstler
wie Buju Banton etwas vom Geist ihrer Vorläufer einfangen. Doch in dem Vierteljahrhundert seit seinem Tode
reichte niemand an Bob Marley heran, und keinerlei Aufwand an Worten kann dem Stolz, der Leidenschaft und der
Schärfe seiner Musik einen angemessenen Ausdruck verleihen.
Brian Richardson
Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch.
Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
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