SoZSozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Februar 2005, Seite 21

Tocotronic:

Pure Vernunft darf niemals siegen, L‘Age d‘Or

Sicherlich haben Jan Müller (Bass), Arne Zank (Schlagzeug) und der aus dem Badischen zugezogenen Gitarrist und Sänger Dirk von Lowtzow 1993, als sie Tocotronic gründeten, kaum daran gedacht, dass ihre Neuerscheinung 2005 in der Zeit, bei Spiegel Online und sogar über zwei Seiten in der DB-Zeitschrift Mobil eher als Produkt der Frankfurter Schule denn als Kind der Hamburger Schule gelobt wird. Sicherlich trifft Pure Vernunft darf niemals siegen den Geschmack nicht nur von jungen Leuten, die in Trainigsjacke und Cordhose, dem 90er Jahre Dresscode nicht nur von Tocotronic, daherkommen. Ihre Musik ist »britischer« geworden, was nicht nur an dem jetzt auch offiziell zur Band gehörenden Gitarristen Rick McPhail liegt. Doch die Musik steht auch nicht im Mittelpunkt der Rezensionen. Es sind die Texte der Band. Dabei ist gerade an der Musik erheblich gefeilt worden. Gitarren bestimmen die fast rockigen Lieder, bis hin zur melancholischen Popmusik bei »Angel« und »Gegen den Strich«.
Warum dann die Texte im Mittelpunkt stehen? Dass sie intelligent sind, reicht sicherlich als Erklärung nicht aus. Tocotronic haben sich in letzter Zeit mit ihrer deutlichen Positionierung in der Auseinandersetzung um die Frage der »Deutschquote« im Radio verdient gemacht: »Wir sagen deutlich, wie so oft in unserem Leben: Wir sind dagegen! Und fragen: Lebt denn der alte Holzmichl noch.« Doch dass solch ein Kommentar, so wichtig er ist, Erfolg bedeutet, ist eher unwahrscheinlich. Auch wenn die klare Stellung zur Deutschtümelei alles andere als Erfolg garantiert, ist sie ein Aushängeschild, das das Quartett positiv von Leuten wie 2Raumwohnung oder Smudo abhebt: »Es ist ja nicht nur dieses Deutschsein oder diese Nationalisierung, sondern auch die Suche nach etwas Sinnlichem, etwas Greifbarem und etwas Narrativ- Volkstümlichem. Das ist es, was einen auch schon intellektuell anwidert, weil man noch vor fünf Jahren viel weiter in diesem Diskurs war. Und jetzt feiern wieder lauter reaktionäre Ansichten Triumphe. Tagespolitisch geht das ja sogar so weit, dass gesagt wird: Hurra, jetzt ist der Multikulturalismus am Ende und mit ihm auch die ›Political Correctness‹ — jetzt können wir endlich wieder unseren Ressentiments und Rassismen freien Lauf lassen. So was merkt man ja allerorten, wenn Sachen gesagt werden wie: ›Endlich mal wieder schöne Malerei, endlich mal wieder ein Buch, das man verstehen kann.‹ Das ist natürlich eine Entwicklung, die uns total gegen den Strich geht.«
Vor allem die Vieldeutigkeit der Texte dieser Produktion fordern sicherlich die Kritikerinnen und Kritiker heraus. Einer Generation, die mit Becks Risikogesellschaft groß geworden ist, ein »Hier gibt es keine Angst, für niemand« vorzusingen, muss ja auch schon für Verwirrung sorgen. Wenn Dirk von Lowtzows Stimme dann noch mit Echo und Hall versehen ergänzt: »Ein ganzes Leben lang«, wartet man vergebens auf Erklärungen.
Während also die Musik einen sehr geordneten, abgeklärten Eindruck macht, strahlen die Texte ein verunsicherndes Gefühl aus. Diese Mischung versprüht einen Reiz, dem sich schwer zu entziehen ist. »Wir brauchen dringend neue Lügen, die uns durchs Universum geleiten« gibt allerdings auch eine Stimmung wieder, die auf den angesprochenen nationalistischen Diskurs treffen, der scheinbar unendlich vernünftig daherkommt. So höre ich diese Platte wie eine popmusikalische Suche nach dem Ausweg aus diesem Diskurs. Nicht Punk mit »Deutschland muss sterben« ist hier die Attitude. Sondern »Tag der Toten, alles wird vergeben sein«. Eine Stirnrunzeln erzeugendes Lied, und das glockenklare Gitarrenspiel im Hintergrund verleiht ihm einem nachdenklichen Reiz, den es erst verlieren wird, wenn man Schulkinder zwingt, es zu interpretieren.
Den »blumigen Geruch von Pop mit Abitur« (Taz), der sich nach ihrer letzten CD ausbreitete, haben Tocotronic abgelegt, und es riecht nun mehr nach einer Kneipe, in der Herr Lehmann hinter der Theke stehen könnte.

Thomas Schroedter

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