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Die kollektive Erinnerung des Genozids an den Juden hat keinen linearen
Verlauf genommen. Nahezu unsichtbar unter der Masse der Ruinen und des Leids, die Europa 1945 bedeckte,
wurde die Shoah bei den Darstellungen des Zweiten Weltkriegs lange an den Rand geschoben, wenn nicht gar
verborgen. Die historischen Handbücher widmeten ihr nur einige rituelle Bemerkungen in den
Fußnoten. Bestrebt, sich in eine menschliche Gemeinschaft wieder zu integrieren, aus der sie so
gewaltsam herausgerissen wurden, hatten diejenigen, die dem Genozid entkommen waren, keinerlei Verlangen,
ihr Schicksal als singulär hervorzuheben, sich als spezielle Opfer zu präsentieren.
Die Situation hat sich heute vollkommen
umgekehrt: Die Shoah figuriert heute als ein nicht zu umgehender Moment des 20.Jahrhunderts. Das beinahe
Nicht-Ereignis von gestern ist einer Erinnerung gewichen, die im öffentlichen Raum allgegenwärtig
ist und durch eine ununterbrochene Flut von Berichten, Zeugnissen, gelehrten Abhandlungen, Werken der
Literatur, des Theaters und des Films sowie offiziellen Gedenkfeiern befördert wird. Im Verlauf des
letzten Jahrzehnts hat sich diese Trauerarbeit nach und nach in eine Art ziviler Religion verwandelt, mit
ihren Dogmen (die »Pflicht zur Erinnerung«), ihren Ikonen (die zu »weltlichen Heiligen«
erhobenen Überlebenden) und ihren Ritualen (die Gedenkfeiern und die Museen).
Das Auftauchen der Erinnerung an Auschwitz im
öffentlichen Raum wird von einer sehr heftigen Debatte über die historische Singularität
dieses Verbrechens begleitet eine Debatte, die zuweilen dazu neigt, die Grenzen einer rationalen
Reflexion zu überschreiten. Dies gilt z.B. für gewisse Theologen, die dem Holocaust einen
sakralen Charakter verleihen, indem sie seine »Einmaligkeit« auf die Wahl des jüdischen
Volkes zurückführen, oder die, wie Elie Wiesel, ihm den Status eines »die Geschichte
transzendierenden Ereignisses« zuweisen.
Es wäre zweifellos fruchtbarer, die
Singularität der Shoah als eine Forschungshypothese zu denken, statt sie als ein Dogma zu postulieren.
Auschwitz ist kein historisch unvergleichbares Ereignis. Es mit anderen Verbrechen, Gewalttaten, Genoziden
parallel zu setzen erlaubt es, die sie trennenden Unterschiede festzustellen und ihre jeweilige
Singularität zu erfassen: eine Typologie zu erarbeiten bedeutet nicht, eine Hierarchie zu fixieren.
Die Singularität von Auschwitz begründet keinerlei Stufenleiter der Gewalt oder des Bösen.
Es gibt keinen Genozid, der »schlimmer« ist als andere, und alle Opfer haben ein Recht auf
Erinnerung und Anteilnahme.
Etliche Philosophen und Historiker haben
versucht, die historische Singularität von Auschwitz zu definieren die Singularität eines
Genozids, der mit dem Ziel der biologischen Umgestaltung der Menschheit durchgeführt wurde, ohne
instrumentellen Charakter, angelegt nicht als ein Mittel, sondern als ein Ziel für sich. Als erste in
der Geschichte hatten die Nazis entscheiden wollen, »wer auf diesem Planeten leben soll und wer
nicht« (Hannah Arendt). Diese historische Singularität der Shoah stand im Zentrum des deutschen
»Historikerstreits« Mitte der 80er Jahre. »Der nationalsozialistische Mord an den
Juden«, schrieb damals Eberhard Jäckel, »war deswegen einzigartig, weil noch nie zuvor ein
Staat mit der Autorität seines verantwortlichen Führers beschlossen und angekündigt hatte,
eine bestimmte Menschengruppe einschließlich der Alten, der Frauen, der Kinder und der Säuglinge
möglichst restlos zu töten, und diesen Beschluss mit allen nur möglichen staatlichen
Machtmitteln in die Tat umsetzte.« Aber alle historischen Ereignisse, so könnte man einwenden,
sind historisch einzigartig.
Es war Auschwitz, das das Wort Genozid in
unser Vokabular eingeführt hat. Seine Singularität rührt vielleicht daher, dass wir erst
nach Auschwitz verstanden haben, dass ein Genozid genau das Zerreißen des historischen Gefüges
bedeutet, das auf einer in den menschlichen Beziehungen latenten primären Solidarität beruht, die
es den Menschen erlaubt, sich als solche zu erkennen, trotz ihrer Feindseligkeiten, ihrer Konflikte und
ihrer Kriege. Jeder Genozid bedeutet ein Infragestellen des Anderen auf ontologischer Ebene: Man greift
nicht einen Feind wegen dem an, was er tut man leugnet sein Recht zu existieren.
Die Vernichtungslager der Nazis sind Symbol
der historischen Singularität der Shoah geworden. Ein Vergleich mit den sowjetischen
Konzentrationslagern kann diesbezüglich sehr interessant sein. Wie mörderisch diese auch immer
waren, so waren sie doch zunächst Orte der Versklavung, in denen der Tod nicht der unmittelbare Zweck
war. Die große Mehrheit der in die Nazilager deportierten Juden hat dagegen das System der
Konzentrationslager nicht kennengelernt, denn sie wurden im Moment ihrer Ankunft in Auschwitz-Birkenau,
Sobibor, Majdanek, Belzec, Chelmno oder Treblinka vernichtet. Dort funktionierte ein System der
industriellen Vernichtung, das man mit der Kette einer fordistischen Fabrik vergleichen kann: die Ankunft
der Konvois, die Selektion, die Konfiskation der Habe, die Entkleidung, die Gaskammer, dann das
Krematorium.
Einige Soziologen und Historiker haben betont,
dass der Charakter der jeweiligen Verbrechen Stalins und Hitlers vergleichbar, aber nicht assimilierbar
sei. Sonia Combe hat diesen Unterschied verdeutlicht, als sie zwei finstere Gestalten miteinander verglich:
Jewstignejew, den Chef des sibirischen Lagers Oserlag, und Rudolf Höß, den Kommandanten von
Auschwitz. Jewstignejews Aufgabe war der Bau einer Eisenbahnlinie, die er auf Kosten des Lebens Tausender
von Seki verwirklichte; die Aufgabe von Höß war die Leitung eines Lagers, Birkenau, in dem die
Vernichtung von Juden eines der wesentlichen Ziele war. Die Leistung des einen wurde in Eisenbahnkilometern
berechnet, die des anderen in der Zahl der Toten. Der eine konnte je nach seinen Bedürfnissen
Menschenleben vergeuden oder einsparen. Der andere hatte den Befehl, jede Erwägung bezüglich der
Produktivität der Maxime der Vernichtung unterzuordnen.
Mehr noch als in den Gulags manifestiert sich
der mörderische Charakter des Stalinismus in den Kollektivierungskampagnen von 1929 bis 1933. Aber die
Liquidierung der Kulaken entspricht nicht einem Projekt biologischer oder rassischer Säuberung. Das
Ziel Stalins war nicht eine rassische Ordnung, sondern eine mit extrem autoritären und
gewalttätigen Methoden ins Werk gesetzte gründliche Veränderung der russischen Gesellschaft.
Es hatte seine eigene, wenngleich totalitäre, »Rationalität«. Dagegen widersprach die
Vernichtung der Juden jedem Kriterium ökonomischer oder militärischer Rationalität.
Genau aus dieser Singularität der Shoah
ergeben sich die Grenzen eines historischen Verständnisses des Nazismus, die Schwierigkeit, seinen
Verbrechen einen Sinn zuzuweisen. Der Genozid an den Juden ist sicher eines der am besten bekannten und von
den Historikern am häufigsten behandelten Ereignisse des 20.Jahrhunderts, aber die Tatsache der
Vernichtung bleibt, wie Primo Levi schrieb, »ein schwarzes Loch«.
Andere haben in diesem »schwarzen Loch« den Ausdruck einer Aporie der Zivilisation begriffen.
Diese Debatte über die Einzigartigkeit der Shoah ist genaugenommen eine ausschließlich westliche
Debatte; sie ist außerhalb Europas, Israels und der USA unbekannt oder absolut marginal. Wenn der
Genozid an den Juden als eine historische Zäsur aufgefasst wird, dann deshalb, weil er im Herzen
Europas stattgefunden hat, weil er von einem Regime konzipiert und durchgeführt wurde, das aus der
Mitte der westlichen Welt hervorgegangen ist und Erbe ihrer Kultur war, in einem Land, das ein Zentrum erst
der Reformation und dann der Aufklärung war, und auch weil das Judentum beim Ursprung dieser
westlichen Zivilisation Pate stand und sie auf ihrem Weg durch die Jahrtausende begleitet hat. Die Shoah
erscheint so als eine Art Selbstverstümmelung des Westens, die den Begriff des Genozids in unser
Bewusstsein und sogar in unser Vokabular eingeführt hat.
Auschwitz erscheint in mancher Hinsicht als
ein Laboratorium, in dem sich die Gewalt der westlichen Moderne besonders gut untersuchen lässt. Sein
System der industriell betriebenen Vernichtung verwirklichte die Fusion von Antisemitismus und Rassismus
mit dem Gefängnis, der Fabrik und der bürokratisch-rationellen Verwaltung. In diesem Sinne stellt
der Genozid an den Juden eher ein Paradigma der Moderne dar als ihre Negation. Etliche Züge des
Zivilisationsprozesses sind historische Prämissen der Vernichtung der europäischen Juden. Die
»Endlösung« setzte nämlich das staatliche Gewaltmonopol (ein Staatsverbrechen), die
produktive und administrative Rationalität (das System der Lager), die Selbstkontrolle der Triebe
(eine »gefühllose«, geplante Gewalt) und die ethische Verantwortungslosigkeit der sozialen
Akteure (die »Banalität des Bösen«) voraus. Die Shoah enthüllt so, wie Adorno und
Horkheimer betonten, eine negative Dialektik: die Verwandlung des materiellen und technischen Fortschritts
in eine menschliche und soziale Regression.
Gleichzeitig finden sich gewisse Merkmale der
Shoah bei anderen Genoziden und Massakern. Die Deportation ging dem Genozid an den Armeniern voraus und
begleitete sie; die Markierung der Opfer als Zeichen ihrer Degradierung von Individuen zu anonymen und
entpersonalisierten Wesen wurde zuerst bei den in die Neue Welt deportierten afrikanischen Sklaven erprobt;
der moderne und industrielle Charakter der Gaskammern erscheint recht rudimentär im Vergleich zur
atomaren Vernichtung; bevor er in mörderischer Weise in massivem Ausmaß vom Nazismus praktiziert
wurde, genoss der biologische Rassismus eine weitgehende Legitimität in der europäischen Kultur,
und die Eugenik hatte medizinische Praktiken inspiriert, die im angelsächsischen Raum und in
Skandinavien weit verbreitet waren; schließlich war die Vorstellung, nach der die Auslöschung von
»Untermenschen« und »minderwertigen Rassen« eine logische Folge der Zivilisation, ja
sogar ein Gesetz der Geschichte sei, Gemeingut des imperialistischen Europa im 19.Jahrhundert.
Diese Beispiele stellen Auschwitz in einen historischen Kontext, der umfassender ist als der Nazismus,
der Krieg oder die Totalitarismen der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts. Vielmehr als ein Ereignis
ohne Beispiel erscheint Auschwitz als eine einzigartige Synthese von Elementen, die in anderen Verbrechen
oder Genoziden zu finden sind, als eine Synthese, die die tiefe Verankerung des Nazismus wenngleich
unter pathologischen Formen in der Geschichte, der Kultur, der Technik enthüllt, kurz, in den
Modellen der Zivilisation der modernen westlichen Welt.
Diese Feststellung setzt einige
Präzisierungen voraus. Es ist offensichtlich, dass der Holocaust niemals in Afrika oder in Asien einen
Platz einnehmen konnte, der dem vergleichbar ist, den er in der Erinnerung Europas, Israels oder der USA
einnimmt, in den Ländern, in denen die Mehrheit der dem Genozid Entkommenen Zuflucht fand. Aus einem
offensichtlichen Grund waren die Afrikaner oder die Asiaten weder seine Opfer noch seine Täter. Ihr
historisches Bewusstsein werden sie von anderen Bezugspunkten der Erinnerung her aufbauen können. Das
Studium der Shoah wird diese Erinnerungsarbeit begleiten und verstärken, aber nicht strukturieren
können. In Japan bspw. werden andere Ereignisse erlebt von den Japanern als Opfer (die atomare
Vernichtung von Hiroshima und Nagasaki 1945) oder als Täter (das Massaker von Nanking 1937, die
Deportation der »Trostfrauen«…) im Zentrum des historischen Bewusstseins stehen.
Auschwitz als ein Paradigma der Gewalt des
20.Jahrhunderts zu betrachten bedeutet von dort aus Zugang zu ihren verschiedenen Ausdrucksformen zu finden
und es nicht zum Objekt einer ausschließlichen Fokussierung zu machen. Letzteres ist mit Risiken
verbunden, sowohl in ethischer Hinsicht, denn es trägt dazu bei, die Opfer anderer Gewaltakte zu
hierarchisieren, zu marginalisieren und zu vergessen, als auch auf der Ebene der Epistemologie, denn erst
einmal aus seinem historischen Kontext der Gesamtheit der Gewalttaten des Jahrhunderts
gelöst, wird der Genozid an den Juden seinerseits vollständig unbegreifbar. Die Beispiele der
Verschiebungen eines solchen Herangehens sind zahlreich. Man braucht nur an den amerikanischen Historiker
Bernard Lewis zu denken, für den die Einzigartigkeit der Shoah unbestreitbar ist, der aber den Genozid
an den Armeniern, der 1915 im Osmanischen Reich stattfand, bezweifelt.
Ein falscher Gebrauch der Komparistik hat auf
erschreckende Weise eine Sakralisierung der Singularität der Shoah enthüllt. Es handelt sich um
eine bereits von Arno Mayer entschieden verurteilte Tendenz, einen privaten Erinnerungskult zu entwickeln,
mit dem Ziel, daraus »ein Objekt von Gedenkfeier, Klage und restriktiver Interpretation« zu
machen, um es auf diese Weise »dem kritischen und kontextorientierten Denken« zu entziehen.
Die Sakralisierung des Holocaust, so der
amerikanische Historiker Peter Novick, ist eine schlechte Politik der Erinnerung. Wenn das Insistieren auf
den einzigartigen Charakter des Judenmords nützlich war, um die Erinnerung an Auschwitz in das
deutsche historische Bewusstsein zu integrieren, so hat es dagegen in den USA eine »Flucht vor der
moralischen und politischen Verantwortung« begünstigt. Auf diese Weise kommt es zu dem Paradoxon
der Schaffung eines nationalen Holocaustmuseums in den USA, das einer Tragödie gewidmet ist, die in
Europa stattgefunden hat, während zu den beiden wesentlichen Aspekten der amerikanischen Geschichte
dem Genozid an den Indianern und der Sklaverei der Schwarzen nichts Vergleichbares existiert.
»In den USA«, so Novicks Schlussfolgerung, »ist die Erinnerung an den Holocaust deshalb so
banal, so inkonsequent, nicht wirklich eine Erinnerung, weil sie Konsens ist, unpolitisch, ohne Verbindung
zu den realen Spaltungslinien der amerikanischen Gesellschaft.«
Und dennoch, in Europa und in den USA war die
Erinnerung an Auschwitz wenigstens zwei Generationen lang Triebfeder eines politischen Engagements gegen
den Kolonialismus, dann, ab den 80er Jahren, gegen Rassismus und Xenophobie. Dieser öffentliche
Gebrauch der Geschichte ist zweifellos fruchtbarer und verantwortungsvoller als die partikularistische
Sakralisierung der Erinnerung an einen Genozid.
Enzo Traverso (Übersetzung: Hans-Günter Mull)
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