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Im Umkreis der Diskussion um eine mögliche Aufnahme der Türkei in
die EU, aber auch der Debatte um die »(nicht) ausreichende Integration« in Deutschland lebender
(muslimischer) Arbeitsimmigranten, legten Führungsmitglieder der Union im vergangenen Herbst ihre alte
Platte von der »deutschen Leitkultur« wieder auf. Da dieser Begriff relativ unbestimmt ist,
eignet er sich gut einerseits zur Verkündung eines »Der-Herr-im-Haus-bin-ich«-Standpunkts,
andererseits bedient er unterschwellige rassistische Ressentiments.
Zwar haben die »Nebeneinkünfte«
diverser Bundestagsabgeordneter, allen voran des ehemaligen Vorsitzenden der CDU-Sozialausschüsse,
Jürgen Arentz, und des Generalsekretärs Laurenz Meyer (der bei seiner Wahl recht forsch
verkündet hatte, einen zweiten Missgriff dürfe sich Angela Merkel nicht leisten) sowie ab
Weihnachten die Tsunami-Katastrophe die geplante Inszenierung der Leitkulturdebatte in den Medien in den
Hintergrund geschoben, doch man braucht kein Prophet sein, um ihre baldige Wiederkehr zu verkünden.
Denn die Leitkulturdebatte steht im Zusammenhang mit der wachsenden Frontstellung des Westens zur
islamischen Welt und ist daher in der einen oder anderen Form im Norden überall zu finden.
Außerdem sind die konservativen Parteien
und vor allem die Union auf der Suche nach einem neuen Feindbild, das den Antikommunismus ersetzen und eine
ideologische Panzerung der Mitglied- und Wählerschaft gewährleisten könnte. Dies ist umso
wichtiger, als sich die großen »Volksparteien« in ihrer neoliberalen Wirtschaftspolitik nur
noch in Nuancen unterscheiden und wirtschaftspolitische Themen aktuell wenig Munition für die
Wahlkämpfe bieten. Angesichts der daraus resultierenden Hoffnungslosigkeit breiter
Bevölkerungskreise bietet die »deutsche Leitkultur« der »bedrängten Kreatur«
ein gewisses ideologisches Opium.
Seit der Durchsetzung der adenauerschen Politikkonzepte der Westbindung und der Anlehnung an die USA und
damit der Ausbootung der »gesamtdeutsch« denkenden Parteiströmung um den Berliner Jakob
Kaiser war der Antikommunismus der ideologische Kitt, der in der Union die katholischen Tendenzen mit den
Ordoliberalen (Ludwig Erhard) und den Nationalkonservativen zusammenband. Die angebliche militärische
und ideologische (Atheismus!) Bedrohung aus dem Osten sowie die Verhältnisse in der DDR reichten im
Rahmen des Kalten Krieges allemal, größere ideologische Grundsatzdebatten in der Partei zu
verhindern.
Der Konsens über die Grundzüge der
westdeutschen Politik erstreckte sich ab Mitte der 50er Jahre nicht nur auf die bürgerlichen Parteien,
sondern mehr und mehr auch auf die SPD. Der Konsens gestaltete sich umso einfacher, als nach der
Rekonstruktionsphase des westdeutschen Kapitalismus die allgemeine Prosperität sozialstaatliche
Umverteilungen (z.B. Dynamisierung der Renten 1957) ermöglichte, wodurch der »Traum von der
immerwährenden Prosperität« (B.Lutz) entstand.
Diejenigen, die die herrschende Politik der
BRD nicht ohne weiteres schlucken wollten, wurden mehr und mehr an den Rand geschoben. Ihnen tönte in
der Gesellschaft häufig ein vielstimmiges »Geh doch nach drüben« entgegen, womit die
Diskussion im Regelfall beendet war. Zu Auseinandersetzungen kam es in der Union vor allem über die
Frage, ob die Allianz mit den USA absoluten Vorrang habe oder ob der europäischen Einigung zusammen
mit dem gaullistischen Frankreich, das sich immer wieder von der US-Politik absetzte, ein ähnlicher
Stellenwert verschafft werden müsse. Dieser Streit wurde mit den Schlagwörtern
»Atlantiker« gegen »Gaullisten« bedacht.
Da die Union 1969 aus der Regierung
verdrängt wurde und die Bewegung von 1969 die Koordinaten der politischen Diskurse und der
gesellschaftlichen Aufmerksamkeit massiv verschob, spielte dieser Konflikt nur noch eine geringe Rolle.
(Erst der von den USA geführte »Krieg der Willigen« gegen den Irak brachte ihn wieder auf
die Tagesordnung, wobei Merkels bedingungsloses Eintreten für die US-Position in der Union durchaus
nicht nur auf Zustimmung stieß!)
Ein Jahrzehnt lang agitierte die Union mit
verschiedenen Varianten ihres Wahlslogans »Freiheit oder Sozialismus«. Es fällt auf, dass in
der Union im Vergleich zu anderen konservativen Parteien nationale bis nationalistische Diskurse eine eher
randständige Erscheinung waren, was einzelne Parteimitglieder natürlich nicht von solchen
Entgleisungen abhielt. Auch pflegte der rechte Rand der Union eine rege Zusammenarbeit mit braunen
Netzwerken und Organen.
Für die relative Zurückhaltung in
Sachen Nationalismus gab es vor allem zwei Gründe: Zum einen stützte sich die Union sehr stark
auf das katholische Milieu, in dem seit Bismarcks Kulturkampf der deutsche Nationalismus einen eher
schweren Stand hatte; den Katholiken wurde daher häufig »Ultramontanismus«
(Anhängerschaft an Rom) vorgeworfen. Nationalistische Kreise dominierten nur in einigen Regionen,
besonders in Hessen (»Stahlhelmfraktion«) und Niedersachsen. Zum andern war die Verantwortung des
bürgerlichen Lagers für den mörderischen Nationalismus des Dritten Reichs nur zu gut
bekannt, sodass sich schon aus Gründen der internationalen Reputation eine gewisse Zurückhaltung
empfahl. Nimmt man die Wahlkämpfe zu den Bundestagswahlen bis 1990 als Maßstab, so waren die
Kampagnen der SPD (»Im deutschen Interesse«, »Modell Deutschland« etc.) eindeutig
nationaler ausgerichtet als die der Union.
Rechte Intellektuelle (oder »linke Konvertiten«) versuchten immer wieder, mit
nationalistischen Themen Terrain zu gewinnen. Ernst Noltes Artikel lösten den
»Historikerstreit« aus, die letzte große Debatte über deutsche Befindlichkeiten und
Schuld. Aber Noltes Thesen wurden auch bei der Union nahestehenden Historikern kritisch aufgenommen, selbst
wenn sie nicht alle abgeneigt waren, die deutsche Geschichte »normalisieren« zu wollen. Es kam
ein breiter Konsens zustande, die deutsche Identitätsstiftung habe auf der Grundlage des
»Verfassungspatriotismus« (Habermas) zu erfolgen, auch wenn niemand genau sagen konnte, wie man
nun eine Verfassung lieben kann.
Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und dem
Anschluss der DDR an die BRD ließen sich die Union und ihr Vorsitzender Kanzler Kohl als Architekten
der Einheit feiern. Sicherlich gab es viele Momente nationaler Aufwallung und die Union nutzte diese
Bewegung wahlpolitisch für ihre »Allianz für Deutschland«. Gleichzeitig unternahm sie
jedoch alles, aus dem Anschluss der DDR keinen neuen deutschen Sonderweg zu kreieren, sondern den Prozess
im Rahmen der »europäischen Integration« zu vollführen, was eine mögliche
nationalistische Wende wenn nicht verhinderte, so doch deutlich bremste. Bekanntlich soll Kohl dem
französischen Staatspräsidenten Mitterrand die Abschaffung des vielleicht wichtigsten nationalen
Symbols der BRD, der D-Mark, zugunsten des Euro im Austausch für die Zustimmung zur deutschen
Vereinigung in die Hand versprochen haben.
Von den neokonservativen Deutungen der Welt nach dem Ende des Ost-West-Gegensatzes hatten Fukuyamas
These vom »Ende der Geschichte« und Huntingtons »Kampf der Kulturen« den meisten
Einfluss. Besonders Huntingtons Vorstellung, die westliche Kultur werde vor allem vom Islam bedroht, fand
nach der Ausbreitung des Islamismus und diversen Attentaten günstige Aufnahme bei Leuten, die für
Bedrohungsszenarien empfänglich sind.
Der Göttinger ehemals linke
Hochschullehrer Bassam Tibi führte in seinem Buch Islamischer Fundamentalismus auf der Grundlage von
Huntingtons Thesen den Begriff »Leitkultur« in den deutschen Sprachraum ein, allerdings mit dem
Zusatz »europäisch«. Er verwahrte sich damit gegen den angeblichen »Kulturrelativismus
des Multikulturalismus«, der dem Fundamentalismus Tür und Tor öffne. Mit demselben Argument
wurde auch eine in den Jahren 1993/94 angedachte Ergänzung des Art.20 GG um den Passus »Der Staat
achtet die Identität der ethnischen, kulturellen und sprachlichen Minderheiten« verworfen.
Die intellektuelle Debatte um Identität
und Differenz fand bald schon Eingang in die Niederungen der Tagespolitik: In seinem Wahlkampf setzte
Roland Koch in Hessen ganz bewusst auf ausländer-, also türkenfeindliche Ressentiments, als er
seine Unterschriftenkampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft startete. Im Umkreis späterer
Wahlkämpfe, besonders in Baden-Württemberg, wo die Republikaner bis 2000 mit einem Stimmenanteil
von über 9% im Landtag saßen, wurde von der CDU der Begriff »deutsche Leitkultur«
erstmals zur Agitation und Gewinnung einer rechtsextremen Wählerschaft verwandt; wahrscheinlich darf
die Vaterschaft Friedrich Merz zugeschrieben werden.
Gleichzeitig übernahm Laurenz Meyer eine
alte rechtsextreme Parole und verkündete lauthals, er sei »stolz, ein Deutscher zu sein«.
Der Zorn der veröffentlichten Meinung ergoss sich damals aber nicht über Meyer, sondern über
Trittin, der durchaus zutreffend gesagt hatte, Meyer sehe nicht nur wie ein Skinhead aus, sondern benehme
sich auch so.
Nach dem 9.September 2001, als deutlich wurde,
dass ein Teil der Terrorflieger »unauffällig« in Hamburg gelebt hatte, wurden die Muslime
unter Generalverdacht gestellt und das repressive Instrumentarium des Staates beträchtlich erweitert.
Da beinahe überall »Schläfer« vermutet wurden, kamen Diskussionen darüber auf,
welche Formen eines Gesinnungs-TÜV umgesetzt werden könnten.
Die Abschiebepraxis wurde in allen
Ländern verschärft und brutalisiert. Die langanhaltende Wirtschaftsdepression bewog zahlreiche
Politiker, die hier lebenden »Ausländer« gemäß den Kriterien ihrer
Profitabilität im »deutschen Interesse« aussieben zu wollen: Bayerns Innenminister Beckstein
unterschied »die Ausländer, die uns nützen«, von denen, »die uns
ausnützen«. Gleichzeitig begann eine Kampagne gegen die »türkische Ghettobildung«
und »ausländische Parallelgesellschaften«; Forderungen, den Aufenthalt von
»ausreichenden deutschen Sprachkenntnissen« abhängig zu machen, nehmen immer mehr
überhand, nicht nur in der Union. Die Druck zur Anpassung an die deutsche Norm und zur Assimilierung
nimmt massiv zu.
Die deutsche Leitkultur ist also Ausdruck
einer deutlichen Rechtsverschiebung der politischen Kultur, aber auch des zunehmend nassforschen Auftretens
des deutschen Staates auf der internationalen Bühne.
Paul Kleiser
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