SoZSozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, März 2005, Seite 6

Geistige Mobilmachung

Das Auf und Ab der »deutschen Leitkultur«

Im Umkreis der Diskussion um eine mögliche Aufnahme der Türkei in die EU, aber auch der Debatte um die »(nicht) ausreichende Integration« in Deutschland lebender (muslimischer) Arbeitsimmigranten, legten Führungsmitglieder der Union im vergangenen Herbst ihre alte Platte von der »deutschen Leitkultur« wieder auf. Da dieser Begriff relativ unbestimmt ist, eignet er sich gut einerseits zur Verkündung eines »Der-Herr-im-Haus-bin-ich«-Standpunkts, andererseits bedient er unterschwellige rassistische Ressentiments.
Zwar haben die »Nebeneinkünfte« diverser Bundestagsabgeordneter, allen voran des ehemaligen Vorsitzenden der CDU-Sozialausschüsse, Jürgen Arentz, und des Generalsekretärs Laurenz Meyer (der bei seiner Wahl recht forsch verkündet hatte, einen zweiten Missgriff dürfe sich Angela Merkel nicht leisten) sowie ab Weihnachten die Tsunami-Katastrophe die geplante Inszenierung der Leitkulturdebatte in den Medien in den Hintergrund geschoben, doch man braucht kein Prophet sein, um ihre baldige Wiederkehr zu verkünden. Denn die Leitkulturdebatte steht im Zusammenhang mit der wachsenden Frontstellung des Westens zur islamischen Welt und ist daher in der einen oder anderen Form im Norden überall zu finden.
Außerdem sind die konservativen Parteien und vor allem die Union auf der Suche nach einem neuen Feindbild, das den Antikommunismus ersetzen und eine ideologische Panzerung der Mitglied- und Wählerschaft gewährleisten könnte. Dies ist umso wichtiger, als sich die großen »Volksparteien« in ihrer neoliberalen Wirtschaftspolitik nur noch in Nuancen unterscheiden und wirtschaftspolitische Themen aktuell wenig Munition für die Wahlkämpfe bieten. Angesichts der daraus resultierenden Hoffnungslosigkeit breiter Bevölkerungskreise bietet die »deutsche Leitkultur« der »bedrängten Kreatur« ein gewisses ideologisches Opium.

Alte Zeiten

Seit der Durchsetzung der adenauerschen Politikkonzepte der Westbindung und der Anlehnung an die USA und damit der Ausbootung der »gesamtdeutsch« denkenden Parteiströmung um den Berliner Jakob Kaiser war der Antikommunismus der ideologische Kitt, der in der Union die katholischen Tendenzen mit den Ordoliberalen (Ludwig Erhard) und den Nationalkonservativen zusammenband. Die angebliche militärische und ideologische (Atheismus!) Bedrohung aus dem Osten sowie die Verhältnisse in der DDR reichten im Rahmen des Kalten Krieges allemal, größere ideologische Grundsatzdebatten in der Partei zu verhindern.
Der Konsens über die Grundzüge der westdeutschen Politik erstreckte sich ab Mitte der 50er Jahre nicht nur auf die bürgerlichen Parteien, sondern mehr und mehr auch auf die SPD. Der Konsens gestaltete sich umso einfacher, als nach der Rekonstruktionsphase des westdeutschen Kapitalismus die allgemeine Prosperität sozialstaatliche Umverteilungen (z.B. Dynamisierung der Renten 1957) ermöglichte, wodurch der »Traum von der immerwährenden Prosperität« (B.Lutz) entstand.
Diejenigen, die die herrschende Politik der BRD nicht ohne weiteres schlucken wollten, wurden mehr und mehr an den Rand geschoben. Ihnen tönte in der Gesellschaft häufig ein vielstimmiges »Geh doch nach drüben« entgegen, womit die Diskussion im Regelfall beendet war. Zu Auseinandersetzungen kam es in der Union vor allem über die Frage, ob die Allianz mit den USA absoluten Vorrang habe oder ob der europäischen Einigung zusammen mit dem gaullistischen Frankreich, das sich immer wieder von der US-Politik absetzte, ein ähnlicher Stellenwert verschafft werden müsse. Dieser Streit wurde mit den Schlagwörtern »Atlantiker« gegen »Gaullisten« bedacht.
Da die Union 1969 aus der Regierung verdrängt wurde und die Bewegung von 1969 die Koordinaten der politischen Diskurse und der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit massiv verschob, spielte dieser Konflikt nur noch eine geringe Rolle. (Erst der von den USA geführte »Krieg der Willigen« gegen den Irak brachte ihn wieder auf die Tagesordnung, wobei Merkels bedingungsloses Eintreten für die US-Position in der Union durchaus nicht nur auf Zustimmung stieß!)
Ein Jahrzehnt lang agitierte die Union mit verschiedenen Varianten ihres Wahlslogans »Freiheit oder Sozialismus«. Es fällt auf, dass in der Union im Vergleich zu anderen konservativen Parteien nationale bis nationalistische Diskurse eine eher randständige Erscheinung waren, was einzelne Parteimitglieder natürlich nicht von solchen Entgleisungen abhielt. Auch pflegte der rechte Rand der Union eine rege Zusammenarbeit mit braunen Netzwerken und Organen.
Für die relative Zurückhaltung in Sachen Nationalismus gab es vor allem zwei Gründe: Zum einen stützte sich die Union sehr stark auf das katholische Milieu, in dem seit Bismarcks Kulturkampf der deutsche Nationalismus einen eher schweren Stand hatte; den Katholiken wurde daher häufig »Ultramontanismus« (Anhängerschaft an Rom) vorgeworfen. Nationalistische Kreise dominierten nur in einigen Regionen, besonders in Hessen (»Stahlhelmfraktion«) und Niedersachsen. Zum andern war die Verantwortung des bürgerlichen Lagers für den mörderischen Nationalismus des Dritten Reichs nur zu gut bekannt, sodass sich schon aus Gründen der internationalen Reputation eine gewisse Zurückhaltung empfahl. Nimmt man die Wahlkämpfe zu den Bundestagswahlen bis 1990 als Maßstab, so waren die Kampagnen der SPD (»Im deutschen Interesse«, »Modell Deutschland« etc.) eindeutig nationaler ausgerichtet als die der Union.

Kein deutscher Sonderweg

Rechte Intellektuelle (oder »linke Konvertiten«) versuchten immer wieder, mit nationalistischen Themen Terrain zu gewinnen. Ernst Noltes Artikel lösten den »Historikerstreit« aus, die letzte große Debatte über deutsche Befindlichkeiten und Schuld. Aber Noltes Thesen wurden auch bei der Union nahestehenden Historikern kritisch aufgenommen, selbst wenn sie nicht alle abgeneigt waren, die deutsche Geschichte »normalisieren« zu wollen. Es kam ein breiter Konsens zustande, die deutsche Identitätsstiftung habe auf der Grundlage des »Verfassungspatriotismus« (Habermas) zu erfolgen, auch wenn niemand genau sagen konnte, wie man nun eine Verfassung lieben kann.
Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und dem Anschluss der DDR an die BRD ließen sich die Union und ihr Vorsitzender Kanzler Kohl als Architekten der Einheit feiern. Sicherlich gab es viele Momente nationaler Aufwallung und die Union nutzte diese Bewegung wahlpolitisch für ihre »Allianz für Deutschland«. Gleichzeitig unternahm sie jedoch alles, aus dem Anschluss der DDR keinen neuen deutschen Sonderweg zu kreieren, sondern den Prozess im Rahmen der »europäischen Integration« zu vollführen, was eine mögliche nationalistische Wende wenn nicht verhinderte, so doch deutlich bremste. Bekanntlich soll Kohl dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand die Abschaffung des vielleicht wichtigsten nationalen Symbols der BRD, der D-Mark, zugunsten des Euro im Austausch für die Zustimmung zur deutschen Vereinigung in die Hand versprochen haben.

Neue Zeiten

Von den neokonservativen Deutungen der Welt nach dem Ende des Ost-West-Gegensatzes hatten Fukuyamas These vom »Ende der Geschichte« und Huntingtons »Kampf der Kulturen« den meisten Einfluss. Besonders Huntingtons Vorstellung, die westliche Kultur werde vor allem vom Islam bedroht, fand nach der Ausbreitung des Islamismus und diversen Attentaten günstige Aufnahme bei Leuten, die für Bedrohungsszenarien empfänglich sind.
Der Göttinger ehemals linke Hochschullehrer Bassam Tibi führte in seinem Buch Islamischer Fundamentalismus auf der Grundlage von Huntingtons Thesen den Begriff »Leitkultur« in den deutschen Sprachraum ein, allerdings mit dem Zusatz »europäisch«. Er verwahrte sich damit gegen den angeblichen »Kulturrelativismus des Multikulturalismus«, der dem Fundamentalismus Tür und Tor öffne. Mit demselben Argument wurde auch eine in den Jahren 1993/94 angedachte Ergänzung des Art.20 GG um den Passus »Der Staat achtet die Identität der ethnischen, kulturellen und sprachlichen Minderheiten« verworfen.
Die intellektuelle Debatte um Identität und Differenz fand bald schon Eingang in die Niederungen der Tagespolitik: In seinem Wahlkampf setzte Roland Koch in Hessen ganz bewusst auf ausländer-, also türkenfeindliche Ressentiments, als er seine Unterschriftenkampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft startete. Im Umkreis späterer Wahlkämpfe, besonders in Baden-Württemberg, wo die Republikaner bis 2000 mit einem Stimmenanteil von über 9% im Landtag saßen, wurde von der CDU der Begriff »deutsche Leitkultur« erstmals zur Agitation und Gewinnung einer rechtsextremen Wählerschaft verwandt; wahrscheinlich darf die Vaterschaft Friedrich Merz zugeschrieben werden.
Gleichzeitig übernahm Laurenz Meyer eine alte rechtsextreme Parole und verkündete lauthals, er sei »stolz, ein Deutscher zu sein«. Der Zorn der veröffentlichten Meinung ergoss sich damals aber nicht über Meyer, sondern über Trittin, der durchaus zutreffend gesagt hatte, Meyer sehe nicht nur wie ein Skinhead aus, sondern benehme sich auch so.
Nach dem 9.September 2001, als deutlich wurde, dass ein Teil der Terrorflieger »unauffällig« in Hamburg gelebt hatte, wurden die Muslime unter Generalverdacht gestellt und das repressive Instrumentarium des Staates beträchtlich erweitert. Da beinahe überall »Schläfer« vermutet wurden, kamen Diskussionen darüber auf, welche Formen eines Gesinnungs-TÜV umgesetzt werden könnten.
Die Abschiebepraxis wurde in allen Ländern verschärft und brutalisiert. Die langanhaltende Wirtschaftsdepression bewog zahlreiche Politiker, die hier lebenden »Ausländer« gemäß den Kriterien ihrer Profitabilität im »deutschen Interesse« aussieben zu wollen: Bayerns Innenminister Beckstein unterschied »die Ausländer, die uns nützen«, von denen, »die uns ausnützen«. Gleichzeitig begann eine Kampagne gegen die »türkische Ghettobildung« und »ausländische Parallelgesellschaften«; Forderungen, den Aufenthalt von »ausreichenden deutschen Sprachkenntnissen« abhängig zu machen, nehmen immer mehr überhand, nicht nur in der Union. Die Druck zur Anpassung an die deutsche Norm und zur Assimilierung nimmt massiv zu.
Die deutsche Leitkultur ist also Ausdruck einer deutlichen Rechtsverschiebung der politischen Kultur, aber auch des zunehmend nassforschen Auftretens des deutschen Staates auf der internationalen Bühne.

Paul Kleiser

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