SoZSozialistische Zeitung |
Am 5.Februar gingen Beschäftigte aus den öffentlichen Diensten und
aus der Privatwirtschaft etwa aus den Automobilfabriken Citroën und Renault, aus vielen Banken und
Metallbetrieben gegen die Regierungspläne zur Verlängerung der Arbeitszeiten gemeinsam auf
die Straße. Knapp 50.000 Leute waren es in Paris und je über 20.000 Teilnehmende in Marseille,
Bordeaux und Toulouse. Insgesamt waren frankreichweit 400.000 Leute auf den Beinen. Dazu hatten alle
Gewerkschaften mit Ausnahme der CGC (Gewerkschaft der höheren und leitenden Angestellten) aufgerufen.
Es handelte sich um die größten von
den Gewerkschaften initiierten Demonstrationen seit dem Frühsommer 2003: Auf die damalige Streikwelle
gegen die regressive »Reform« der Rentensysteme folgte eine schwere Niederlage und eine
längere Phase der Demoralisierung sozialer Protestkräfte.
Dabei war es keineswegs
selbstverständlich, dass gerade die angekündigte Infragestellung der 35-Stunden-Woche durch die
Rechtsregierung zum Stein des Anstoßes für größere Proteste werden könnte. Denn
die »sozialpartnerschaftlich« angedachte Reform der Vorgängerregierung unter dem
Sozialdemokraten Lionel Jospin, mit der vor sechs Jahren schrittweise die 35-Stunden-Woche als theoretische
Arbeitszeitnorm eingeführt wurde, bleibt vielen Lohnabhängigen in, zumindest teilweise,
schlechter Erinnerung.
Die Verkürzung der durchschnittlichen Wochenarbeitszeit bildete damals vor allem den Zuckerguss,
der die gleichzeitig verabreichte bittere Pille in Gestalt von Jahresarbeitszeiten und den nach Bedarf der
Betriebe variierenden Arbeitswochen überdecken sollte. Doch was die jetzige Regierung plant, bedeutet,
den Zuckerguss zu entfernen, während die bittere Pille weiterhin geschluckt werden muss. Das hat die
Mehrheit der Lohnabhängigen sehr wohl verstanden.
Dass eine scheinbare Verteidigung der unter
der Jospin-Regierung verabschiedeten Arbeitszeitgesetzgebung, die bereits selbst Bestandteil der
neoliberalen »Modernisierung« war, nicht unbedingt Begeisterung hervorrufen würde,
befürchteten freilich auch viele Gewerkschaften. Sie nahmen deshalb weitere Forderungen in die
Demonstrationsaufrufe für den 5.Februar auf. So demonstrierte man an jenem Tag (laut zentralem Aufruf)
»gegen Arbeitszeitverlängerung und Beschäftigungsabbau, für höhere Löhne und
gegen die Aushöhlung des Arbeitsrechts«.
Zugleich sollte damit der Regierungspropaganda
der Wind aus den Segeln genommen werden. Letztere versuchte, die Geldnot vieler Lohnabhängiger
auszunutzen, um ihnen folgendes Rezept anzubieten: »Mehr arbeiten, um mehr Geld zu verdienen«.
Die Kaufkraft der Beschäftigten im privaten Wirtschaftssektor sank seit 2000 um bis zu 12%
(gegenüber 5% im öffentlichen Dienst), da es kaum noch kollektive und stattdessen
überwiegend individuelle Lohnerhöhungen gibt.
Hinzu kommen die Auswirkungen der mit den
Modalitäten der 35-Stunden-Reform à la Jospin-Regierung in sehr vielen Betrieben einher gehenden,
oftmals mehrjährigen »Mäßigung« bei den Lohnerhöhungen (modération
salariale). Insofern war zu befürchten, dass diese Propaganda zunächst verfangen könnte.
Darauf fielen die meisten Beschäftigten
dann aber doch nicht herein, da sie wohl wussten, dass es der rechten Regierung weniger um ihr Wohl,
sondern eindeutig um das der Arbeitgeber geht. In einer Umfrage, welche die Sonntagszeitung Journal de
Dimanche am 30.Januar 2005 veröffentlichte, äußerten sich 77% gegen eine Ausdehnung der
bestehenden Arbeitswochenzeit, wie die Regierung sie plant, und nur 18% erklärten sich dafür.
Zum besseren Verständnis soll ein kurzer Rückblick auf die Modalitäten der
Einführung der 35-Stunden-Woche vor nunmehr 56 Jahren geworfen werden.
Die Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf
35 Stunden ist bereits eine ältere gewerkschaftliche Forderung; seit den späten 60er Jahren wurde
sie durch die beiden größten Gewerkschaftsbünde CGT und CFDT gefordert. 1972 wurde sie in
das Programm der Linksunion (Allianz aus SP und KP) aufgenommen. Nach dem Regierungsantritt dieser beiden
Parteien im Mai/Juni 1981 wurde ihre Einführung bis 1985 offiziell auf die Tagesordnung gesetzt. Im
Zuge der »notwendigen Anpassung an die wirtschaftlichen Realitäten« und der unter François
Mitterrand alsbald eingeschlagenen »Wende zur Austeritätspolitik« verschwand der Plan
allerdings schnell in den Schubladen.
Es war der sozialliberale Wirtschaftspolitiker
Dominique Strauss-Kahn (»DSK«), der ab 1993 eine Lobbygruppe der französischen
Privatindustrie bei der EU-Kommission in Brüssel leitete und später Wirtschaftsminister unter
Jospin werden sollte, der die Idee gegen Mitte der 90er Jahre wieder ausgrub.
In seinen Konzepten hatte die
Reformvorstellung freilich eine andere Bedeutung und Funktion bekommen: Die Arbeitszeitverkürzung
sollte den abhängig Beschäftigten als »Gegenleistung« angeboten werden bei
gleichzeitiger Hinnahme von flexiblen, je nach dem Bedarf der Betriebe und Dienstleistungsunternehmen
variierenden Arbeitszeiten. Damit sollte die Wirtschaft des Landes endlich »modernisiert« werden,
im Idealfall im Konsens zwischen den »aufgeschlossenen« Fraktionen des Kapitals und den
Gewerkschaften.
»DSK« war es, der deswegen die
Forderung nach Einführung der 35-Stunden-Woche »entstaubte« und so in das Programm des
damaligen Präsidentschaftskandidaten Lionel Jospin zur Wahl des Staatschefs im April/Mai 1995
hineinschreiben ließ. Seine Parteikollegin Martine Aubry war seinerzeit dagegen: In einem Interview
von 1994 hatte sie noch bekundet, der Wunsch nach der 35-Stunden-Woche sei ökonomisch unsinnig und
ruinös.
Es ist daher eine Ironie der Geschichte, dass
die ab 1998 etappenweise eingeführte Gesetzgebung, die den von »DSK« konzipierten
»Deal« umsetzen sollte, heute unter dem Namen »Aubry-Gesetz 1« und »Aubry-Gesetz
2« bekannt ist. Denn die Dame, heute Oberbürgermeisterin von Lille, amtierte damals als Arbeits-
und Sozialministerin der Regierung Jospin und wurde mit der Umsetzung betraut.
Am 10.Oktober 1997 rief Premierminister Lionel
Jospin seine Regierung, die Unternehmerverbände und die größeren Gewerkschaften an seinem
Amtssitz zu einem »Sozialgipfel« zusammen. Das Gipfeltreffen sollte den Startschuss für die
Umsetzung der zuvor angedachten Reform eines »sozialpartnerschaftlichen« Konsens abgeben.
Dieser Plan scheiterte jedoch: Der oberste
Chef des Unternehmerverbands CNPF (heute MEDEF), Jean Gandois, weigerte sich strikt, einem solchen
»Deal« zuzustimmen. In seinen Augen handelte es sich um eine unzulässige Einmischung der
Politik in die »Angelegenheiten der Unternehmer«.
In der Folgezeit setzte die Regierung durch
die beiden »Aubry-Gesetze«, die im Juni 1998 und im Januar 2000 in Kraft traten, die
»Reform« dennoch um. Der Zeitabstand zwischen der Verabschiedung der beiden Gesetzeswerke sollte
dazu dienen, dass in den einzelnen Unternehmen Betriebsvereinbarungen getroffen würden, in denen man
die Modalitäten des angedachten »Deals« festschrieb.
Als mögliche »Gegenleistungen«
für die Verkürzung der Wochenarbeitszeit hatte Jospin in seiner Rede auf dem
»Sozialgipfel« von 1997 explizit die Flexibilisierung der Arbeitszeitorganisation oder eine
»Mäßigung« bei den Löhnen genannt. In der Praxis konnte nur selten eine
Lohnsenkung im wörtlichen Sinne vereinbart werden (weniger als 10% der Betriebsvereinbarungen), etwas
häufiger war dagegen die Verpflichtung der unterzeichnenden Gewerkschaften zu einer
»Zurückhaltung« bei Lohnforderungen in den kommenden Jahren. Dagegen enthalten 8090%
der geschlossenen Betriebsvereinbarungen Regelungen über variable Arbeitszeiten.
Jene Unternehmen, die das »Spiel«
mitspielten und entsprechende Vereinbarungen mit mindestens einem Teil »ihrer« Gewerkschaften
abschlossen, wurden dafür üppig belohnt. Für die Dauer von 5 Jahren erhielten sie
kräftige Nachlässe bei den abzuführenden Sozialabgaben, und zwar für die unteren und
mittleren Lohngruppen (bis zum 1,8fachen des gesetzlichen Mindestlohns) gestaffelt: Je niedriger der Lohn,
desto höher der Nachlass. Damit wurden die Lohnnebenkosten für mehr als die Hälfte der
abhängig Beschäftigten kräftig gesenkt, mit einem entsprechenden Verlust an Einnahmen
für die öffentlichen Sozialversicherungssysteme. Um 5 Jahre lang die üppigen De-facto-
Subventionen genießen zu können, mussten die Unternehmen eine Senkung der Arbeitszeit um 10% und
zusätzliche Einstellungen von mindestens 6% des Personals für zwei Jahre hinnehmen.
Gleichzeitig setzte aber derjenige Teil der
Kapitalistenverbände, der den »Deal« wegen einer zu starken »Einmischung der
Politik« ablehnte, seine stark ideologisch aufgeladene Kampagne dagegen fort. Im Dezember 1999 konnte
so der Unternehmerverband MEDEF mehrere tausend Unternehmer zu einer »Protestversammlung«
mobilisieren. Der MEDEF forderte, dass künftig Betriebsvereinbarungen Vorrang vor Gesetzen und
Branchentarifverträgen haben sollten, damit die angeblich notwendige »Modernisierung« von
den betrieblichen Akteuren und nicht von »der sich unzulässig einmischenden Politik«
ausgehe. Dafür gewann er die sozialdemokratische und heute in ihrem Funktionärskern klar
neoliberale CFDT als Bündnispartner.
Beide Organisationen schlossen in den
folgenden Monaten mehrere Abkommen zur »Neubegründung der sozialen Beziehungen«. So
vereinbarten sie im Sommer 2000 eine Neuregelung der Rechte von Arbeitslosen in Gestalt des Projekts PARE
(Hilfe zur Rückkehr an den Arbeitsplatz), das wie eine Lightversion der deutschen Hartz-IV-Gesetze
aussieht. Die CFDT verwaltete damals die paritätisch mit Arbeitgeber- und Gewerkschaftsvertretern
besetzte Arbeitslosenkasse. Beide »Sozialpartner« trieben den Gesetzgeber vor sich her, den sie
aufforderten, weitere »Reformen« anzunehmen. Allerdings ist die damals geschmiedete strategische
Achse aus MEDEF und CFDT seit dem Regierungswechsel von 2002 zerbrochen: Seitdem Jean-Pierre Raffarin
Premierminister ist, bildet der MEDEF nunmehr eine strategische Allianz mit der Regierung. Die
sozialliberale CFDT sieht sich um die Früchte ihrer Bemühungen gebracht.
Bis zum Regierungswechsel hatte sich die CFDT
als »die 35-Stunden-Gewerkschaft« strategisch positioniert: Von allen Gewerkschaften hat diese
Organisation die meisten Betriebsvereinbarungen zur Umsetzung der Arbeitszeitreform unterschrieben und ist
den Wünschen der Unternehmer etwa nach flexibleren Arbeitszeiten am meisten entgegen
gekommen.
Es hat ihr nichts genutzt, da die Raffarin-
Regierung sich jetzt anschickt, ihr das Symbol »35 Stunden« wegzunehmen. Deswegen hat die CFDT
auch an den Demonstrationen vom 5.Februar teilgenommen, wobei freilich die »postkommunistische«
CGT weitaus mehr Demonstranten (in Paris etwa zwei Drittel) stellte als die CFDT, von der bspw. in Paris
maximal 4000 Demonstranten kamen. Bei annähernd gleicher Mitgliederzahl zeigt sich die CFDT, nachdem
sie sich bereits so sehr als technokratische Verhandlungsgewerkschaft erwiesen hat, eben als weitaus
weniger mobilisierungsfähig an der Basis.
Unmittelbarer Anlass für den Protest war die Offensive der rechten Parlamentsmehrheit, die
Gesetzgebungsteile aus den Jahren 1999/2000 rückgängig zu machen. Der Gesetzentwurf der
konservativen Regierungspartei UMP wurde am 9.Februar in erster Lesung verabschiedet.
Sobald der Text definitiv verabschiedet ist,
wird es in Frankreich kaum noch rechtliche Obergrenzen für das Ableisten von Überstunden geben.
Die vom Gesetz vorgesehene theoretische Obergrenze wird auf 220 Überstunden pro Jahr angehoben,
außer bei Bestehen einer Betriebsvereinbarung, die ebenso nach unten wie nach oben hin abweichen kann.
Das entspricht vier Stunden pro Woche oder einer Rückkehr zur 39-Stunden-Woche, aber mit einem
wichtigen Unterschied: Überstunden werden dann und nur dann geleistet, wenn der Arbeitgeber sie
anordnet. Eine Garantie für eine entsprechende Lohnhöhe gibt es damit ebensowenig wie stabile
Arbeitszeiten auf längere Sicht.
Doch »freiwillig« mehr arbeitende
Lohnabhängige können diese gesetzliche Maximalgrenze für Überstunden zukünftig
auch überschreiten, was bisher unzulässig war. Die einzigen legalen Grenzen sind dann noch die
Vorschriften, wonach abhängig Beschäftigte höchstens 48 Stunden (oder in begründeten
Ausnahmefällen vorübergehend 60 Stunden) pro Woche arbeiten dürfen.
Ferner entfällt der bisher obligatorische
Freizeitausgleich: Die auf einem »Zeitsparkonto« (CET Compte épargne-temps)
registrierten Überstunden können künftig auch ausbezahlt statt durch Freizeit ausgeglichen
werden; dasselbe gilt für bis zu zwei Urlaubswochen pro Jahr. Und bestand bisher eine Obergrenze von 5
Jahren, binnen derer das Zeitkonto geleert werden musste, so kann es künftig auf unbestimmte Zeit hin
aufgefüllt werden.
Um die Zukunft ihres Arbeitsplatzes oder um
die Höhe ihrer späteren Rente fürchtende Lohnabhängige können es also über
etliche Jahre hin auffüllen, das Geld wird vom Unternehmen angespart. Was passiert, falls der Betrieb
dann pleite geht, dürfte aber zukünftig noch ein haariges Problem darstellen.
Bernhard Schmid, Paris
Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch.
Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
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