SoZSozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, März 2005, Seite 14

V.Weltsozialforum in Porto Alegre

7:0 für Chávez

Im brasilianischen Porto Alegre ging am 31.Januar das V.Weltsozialform (WSF) zu Ende. Wie bereits im Vorjahr spielten der US-Krieg gegen den Irak und die israelische Besatzungspolitik in Palästina eine herausragende Rolle in den Diskussionen und verschiedenen Aktionen auf dem weitläufigen Forumsgelände, das eine Zeltstadt für über 150.000 Teilnehmenden beherbergte. Auch die Solidarität mit Venezuela und Kuba, die von den USA bedroht werden, spielte auf dem von lateinamerikanischen Teilnehmenden dominierten Forum eine große Rolle.

Die Versammlung der sozialen Bewegungen zum Abschluss des WSF hat sich auf globale Aktionstage gegen Krieg und Besatzung am 19. und 20.März geeinigt. Einiges deutet daraufhin, dass die Mobilisierung gegen den US-Krieg in Nahost neuen Schwung bekommen wird. Eine wichtige Rolle wird für die sozialen Bewegungen auch die Ministertagung der Welthandelsorganisation WTO im Dezember in Hongkong spielen. Dazu wird vor allem in Ost- und Südostasien stark mobilisiert werden. Des weiteren rief die Versammlung dazu auf, sich an den Protesten der indigenen Völker und des Welfrauenmarsches zu beteiligen. Letzterer soll am 8.März in Brasilien starten und am 17.Oktober in Burkina Faso enden. Thema wird unter anderem der Kampf gegen Frauenhandel sein.
Rund 2400 Diskussionsrunden, Workshops und ähnliches hat es in diesem Jahr gegeben, wobei weitgehend auf zentrale Großveranstaltungen verzichtet wurde, sieht man einmal von der Auftaktdemo mit mindestens 150.000 Menschen und anschließendem Konzert ab. In den Veranstaltungen ging es um Themen wie Menschenrechte, Privatisierung der Wasserversorgung, Solidarität mit den Tsunami-Opfern, gewerkschaftliche Kämpfe, Probleme der Kleinbauern mit Freihandelsabkommen, um die drohenden und aktuellen Kriege von Kolumbien bis Tschetschenien, von Palästina über Irak bis Nordkorea, und vieles mehr.

Kritik an Lula

Auffällig war die verbreitete Kritik an Brasiliens Staatspräsident Luis Inácio »Lula« da Silva von der linken Arbeiterpartei (PT). Auf einer der wenigen größeren Podiumsdiskussionen wurde Lulas Minister Luiz Dulci reichlich ausgebuht, als er versuchte, die Politik seiner Regierung zu verteidigen. Nach zwei Jahren im Amt ist Lula inzwischen bei Brasiliens sozialen Bewegungen nicht mehr besonders beliebt. Er regiere im Interesse der Reichen, heißt es z.B. bei der Gewerkschaft der Justizangestellten. Sein Programm der Hungerbekämpfung sei gescheitert.
Auch unter ausländischen WSF-Teilnehmern regte sich Widerspruch. Lula sei der »Liebling Washingtons«, meinte Walden Bello, Direktor des globalisierungskritischen Instituts Focus on the Global South in Bangkok. »Lula hat sich zum Partner von EU und USA gemacht und die WTO-Verhandlungen wieder in Gang gesetzt.«

Schwerpunkt Krieg?

Im Anschluss an das Forum trafen sich Vertreter von rund zwei Dutzend radikal-sozialistischen Parteien aus aller Welt zum Meinungsaustausch. Gekommen waren Parteien, die verschiedenen internationalen trotzkistischen Strömungen angehören, aber auch viele, die nicht in dieses Schema passen, wie der portugiesische Linksblock oder die Revolutionäre Arbeiterpartei von den Philippinen. Zum ersten Mal hatte man sich vor einem Jahr am Rande des Weltsozialforums in Mumbai (Bombay) getroffen. Die Initiative war seinerzeit von der Europäischen Antikapitalistischen Linken, einem vergleichbaren Parteienbündnis in Europa, und der Communist Party of India (Marxist-Leninist [Liberation]) ausgegangen.
In der Diskussion zeigte sich, dass die Gewichte unterschiedlich gesetzt werden. Während Chris Harman von der Socialist Workers Party (SWP) aus Großbritannien den Widerstand gegen den Krieg im Irak zum zentralen Anliegen aller machen wollte, wiesen verschiedene andere Parteien auf die Rolle der aktuellen Verteidigungskämpfe der Lohnabhängigen hin, ohne damit die herausragende Bedeutung des Kampfes gegen die US-Aggressionen in Frage stellen zu wollen. Die meisten Anwesenden — darunter Vertreter aus Thailand, Südkorea, Griechenland, Chile, Südafrika und verschiedenen westeuropäischen Ländern — waren sich einig, dass beim diesjährigen Forum die antikapitalistische Stimmung eher zugenommen habe. Andere wie Harman sahen reformistische Kräfte am Werk, die den Foren den antikapitalistischen Zahn ziehen wollen. Man verabredete, die Kommunikation untereinander zu verstärken und eventuell im nächsten Jahr eine internationale Konferenz abzuhalten.

Zukunft des Forums

Das Weltsozialforum wird 2006 zum ersten Mal dezentral abgehalten. Ursprünglich hatte der Internationale Rat des Forums, in dem rund 130 Organisationen aus aller Welt vertreten sind, beschlossen, erst 2007 wieder zu tagen, und zwar in Afrika. Jetzt setzte sich jedoch vorerst die Ansicht durch, man dürfe angesichts der Barbarei von Krieg und Neoliberalismus nicht nachlassen. Entsprechend werden in einem Jahr auf verschiedenen Kontinenten simultan Foren abgehalten, die über Videokonferenzen und ähnliches miteinander kommunizieren sollen. Bisher steht nur Caracas als Austragungsort fest, die anderen werden auf der nächsten Ratssitzung im April festgelegt. In der Diskussion sind unter anderem Marokko, Indien und Pakistan.
Die Dezentralisierung ist sicherlich zu begrüßen. Sie mindert die Reisekosten, macht den Forumsprozess vielfältiger und damit weniger steuerbar für Prominente und Strategen aller Art, vor allem aber macht sie die Foren zugänglicher für die Basis der sozialen Bewegungen aus aller Welt. Die hat nämlich in Porto Alegre — sieht man einmal von Lateinamerika ab — weitgehend gefehlt. Einmal mehr waren in Porto Alegre Osteuropa, Asien und Afrika unterrepräsentiert. Nur kleine Delegationen waren aus einigen afrikanischen Ländern oder von den unglaublich vielfältigen sozialen Bewegungen Indiens vertreten.
Aus China, dem bevölkerungsreichsten Land des Planeten, das zudem schon bald zum bestimmenden Faktor der Weltwirtschaft werden dürfte, war nur eine Hand voll Akademiker gekommen. In die meist benutzte Sprache des Planeten, Putonghua (Hoch- Chinesisch), wurde nicht einmal übersetzt. Ohne Zweifel war Porto Alegre wieder einmal vor allem ein Forum der europäischen Sprachen. Das ist nicht leicht zu ändern, denn wer kann sich in einer Welt, in der noch immer täglich Abertausende Kinder an Armut, Hunger und schmutzigem Wasser sterben, einen Flug um die halbe Welt leisten? Diejenigen, die die Subjekte der »anderen, möglichen Welt« sein müssen, meist nicht.
Eine Dezentralisierung könnte die Repräsentativität deutlich verbessern. Ein Teilforum im Maghreb (Nordwestafrika) könnte zudem einen wertvollen Brückenschlag zwischen den sozialen Bewegungen der arabischen Welt, von denen in Porto Alegre ebenfalls kaum etwas zu sehen war, und Europa bilden.

Quicklebendig

Eins ist jedoch sicher: Die Weltsozialforumsbewegung, so diffus und vielschichtig sie auch erscheinen mag, ist quicklebendig und zudem reichlich resistent gegen allerlei Vereinnahmungs- und Zähmungsversuche. Wie sehr die Teilnehmerschaft von (lateinamerikanischen) Basisaktivisten mit geringem Budget geprägt war, zeigt unter anderem die Tatsache, dass in der ganzen Stadt die Turnhallen belegt waren, zum Teil sogar überfüllt. Auch das Jugendcamp hat noch einmal rund 30.000 nicht nur jugendliche Menschen aufgenommen. Die Vertreter europäischer und nordamerikanischer NGOs und der Gewerkschaftsapparate haben die Hotels und zum Teil auch die Programmhefte gefüllt, in der Masse der Teilnehmer hingegen waren sie fast eine Randerscheinung.
Man mag sich also ärgern, dass z.B. Deutschland hauptsächlich durch Gewerkschaftsfunktionäre und über Stiftungen von Parteien vertreten war und bspw. die Sozialbündnisse und Montagsdemonstranten gänzlich fehlten. Aber Grund zur Sorge für die Zukunft des Weltsozialforums gibt es nicht.
Allerdings muss man sich in Deutschland unbedingt überlegen, wie die hiesigen sozialen Kämpfe — bspw. gegen Hartz IV und Co. — besser mit den internationalen Bewegungen zu verbinden sind. Auch die deutsche Friedensbewegung könnte sich auf den Sozialforen mehr einbringen, die ja immerhin in den vergangenen Jahren eine wichtige Rolle in der Entwicklung des internationalen Protests gegen die US-amerikanischen Aggressionen gespielt haben.

Chávez‘ Auftritt

Der große Star des diesjährigen Weltsozialforums war Venezuelas Präsident Hugo Chávez, dem auf der — neben Auftakt und Abschluss — einzigen Großveranstaltung rund 40.000 Menschen zujubelten. Brasiliens Präsident Lula war zwei Jahre zuvor kurz nach seiner Wahl noch ein ähnlicher Empfang bereitet worden, doch dieses Jahr fiel der vergleichsweise frostig aus. »7:0 für Chávez« titelte eine brasilianische Zeitung, die die Zahl der stehenden Ovationen gezählt hatte. Chávez‘ Politik ist offensichtlich für viele Aktive in Lateinamerika die ganz große Hoffnung.
Die rasche Abwendung von Lula, dem Langzeitidol der brasilianischen Bewegungen, die bereits in eine beachtliche Austrittswelle aus der PT gemündet ist, zeigt hingegen, dass die Begeisterung keineswegs blind ist, wie unterkühlte deutsche Skeptiker meinen könnten. Der Jubel für Chávez hält die lateinamerikanische Linke nicht davon ab, genauer hinzuschauen. Die Gefahr der Vereinnahmung ist also eher gering.
Eine andere Konfliktlinie verläuft entlang der Frage »Politische Plattform oder offener Raum?« Den Sozialforen wird sowohl von außen als auch von einem Teil der Organisatoren in letzter Zeit verstärkt vorgeworfen, sie hätten kein politisches Profil, es bedürfe einer gemeinsamen Plattform, um die Bewegungen zu einem globalen Akteur zu machen. Einige prominente Intellektuelle — hauptsächlich »Männer europäischer Abstammung«, wie eine Kritikerin anmerkte — haben daher in Porto Alegre einen Vorstoß unternommen, um eine entsprechende Plattform einzubringen. Die Initiative stieß allerdings nicht nur auf Gegenliebe.

Mehr Profil?

Zweierlei wird von denjenigen, die mehr Profil fordern, übersehen: Zum einen bietet das Forum schon jetzt jede Menge Raum für internationale Aktionsnetzwerke aller Art, von denen manch eines durch die Sozialforen entstanden ist. Kampagnen werden diskutiert und vorbereitet, gemeinsame Schwerpunkte festgelegt, wichtige Informationen und Erfahrungen ausgetauscht. In den Versammlungen der sozialen Bewegungen, die regelmäßig zum Ende des Weltforums und der kontinentalen Foren abgehalten werden, münden diese Diskussionen in eine gemeinsame Erklärung. Es ist keine Erklärung des Sozialforums, aber von jenen, die gemeinsame Kampagnen und Aktionen wollen.
In der politischen Praxis spielt dieser feine Unterschied kaum eine Rolle, aber für die Vitalität der Foren ist er wichtig, um sich nicht in unnötigen Grabenkämpfen über die Details inhaltlicher Erklärungen zu verlieren. Zum anderen ist fraglich, welchen Wert eine programmatische Erklärung des Forums hätte. Der legendäre globale Aktionstag am 15.Februar 2003, als in aller Welt rund 15 Millionen Menschen gegen den damals noch bevorstehenden Angriff auf den Irak auf die Straßen gingen, brauchte kein ausformuliertes Programm.
Die Forderungen »Nie wieder Krieg!« und die Ablehnung der US-geführten Aggression hat spontan Dutzende Millionen Menschen in aller Welt vereinigt. Wichtig war das Wissen voneinander und die zeitliche Koordination der Aktionen, was durch die Sozialforen und das Internet ermöglicht wurde.
Bei anderen Themen mag das Entstehen eines solchen internationalen Bewusstseins schwieriger sein. Aber wichtig dafür sind vor allem der Austausch von Erfahrungen und Informationen sowie grenzüberschreitende Kommunikation, die nicht nur einigen Funktionären, sondern allen Interessierten offen steht. Diesen Rahmen bieten die Foren und der kann durch kein Programm ersetzt werden.

Wolfgang Pomrehn

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