SoZSozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, März 2005, Seite 15

Manifest von Porto Alegre

Zwölf Vorschläge für eine andere mögliche Welt

Auf dem V.Weltsozialforum in Porto Alegre haben 19 Persönlichkeiten ein »Manifest von Porto Alegre« erarbeitet, das wir nachstehend wiedergeben. In den Medien ist es dargestellt worden als programmatisches Dokument des Weltsozialforums. Die Unterzeichneten widersprechen dieser Darstellung ausdrücklich und erklären, dass er niemanden anders bindet als sie selbst.

Seit dem ersten im Januar 2001 in Porto Alegre abgehaltenen Weltsozialforum hat sich das Phänomen der Sozialforen auf alle Kontinente bis auf die nationale und lokale Ebene ausgeweitet.
Weltweit ist dadurch ein öffentlicher Raum der Bürgerverantwortung und der Kämpfe entstanden. Es ist möglich geworden, Vorschläge für politische Alternativen zur Tyrannei der neoliberalen Globalisierung zu erarbeiten, die von den Finanzmärkten und den transnationalen Konzernen vorangetrieben wird und deren bewaffneter Arm die imperiale Macht der USA darstellt. Durch ihre Verschiedenartigkeit und durch die Solidarität zwischen den sie bildenden Akteuren und sozialen Bewegungen ist die globalisierungskritische Bewegung nunmehr eine Kraft geworden, die im Weltmaßstab Gewicht hat.
Unter den zahlreichen aus den Foren hervorgegangenen Vorschläge gibt es viele, die bei den sozialen Bewegungen auf sehr breite Unterstützung stoßen. Unter diesen haben die Unterzeichner des Manifests von Porto Alegre, die ausschließlich in ihrer persönlicher Eigenschaft auftreten und in keiner Weise vorgeben, im Namen des Forums zu sprechen, zwölf ausgemacht, die zusammengenommen Sinn und Projekt für den Aufbau einer anderen möglichen Welt ergeben. Wenn sie verwirklicht würden, konnten die Bürgerinnen und Bürger endlich beginnen, sich ihre Zukunft gemeinsam anzueignen.
Diesen Minimalkonsens wollen wir der Beurteilung der Akteure und sozialen Bewegungen aller Länder unterbreiten. Ihnen obliegt es, auf allen Ebenen — weltweit, kontinental, national und lokal — die nötigen Kämpfe zu führen, damit die Vorschläge Realität werden. Denn wir machen uns keinerlei Illusionen über den Willen der Regierungen und der internationalen Institutionen, diese Vorschläge spontan in die Tat umzusetzen, selbst wenn sie aus purem Opportunismus das Vokabular daraus entleihen.

A

Eine andere mögliche Welt muss das Recht aller Menschen auf Leben respektieren, dank neuer Wirtschaftsbeziehungen. Dazu müssen:
1. die öffentlichen Staatsschulden der Länder des Südens annulliert werden. Sie wurden schon mehrfach zurückgezahlt stellen und für die Gläubigerstaaten, die Finanzinstitute und die internationalen Finanzinstitutionen ein privilegiertes Mittel dar, einen großen Teil der Menschheit unter ihre Vormundschaft zu zwingen und sie in Not zu halten.
2. internationale Steuern auf Finanztransaktionen (insbesondere die Tobinsteuer auf Devisenspekulation), auf Direktinvestitionen im Ausland, auf konsolidierte Gewinne der transnationalen Unternehmen, auf den Verkauf von Waffen und auf Aktivitäten mit starken Treibhausemissionen erhoben werden. Ergänzt durch eine öffentliche Entwicklungshilfe, die zwingend 0,7% des Bruttoinlandsprodukts der reichen Länder erreichen muss, sollen die so freigesetzten Mittel verwendet werden, um gegen die großen Seuchen (darunter AIDS) zu bekämpfen und allen Menschen Zugang zu Trinkwasser, zu einer Wohnung, zu Energie, Gesundheit, Pflege und Medikamenten, Bildung und sozialen Diensten zu sichern.
3. alle Formen von Steuer-, Justiz- und Bankparadiesen schrittweise abgebaut werden, die ausnahmslos Schlupfwinkel von organisierter Kriminalität, Korruption, Schmuggel aller Art, Betrug und Steuerflucht, krimineller Operationen der Großunternehmen und sogar von Regierungen sind.
4. das Recht jedes Bewohners der Erde auf einen Arbeitsplatz, auf sozialen Schutz und auf Rente unter Achtung der Gleichheit von Männern und Frauen ein zwingendes Gebot der öffentlichen Politik, national wie international, werden.
5. alle Formen eines gerechten Handels unter Ablehnung der Freihandelsregeln der WTO gefördert werden, unter Einführung von Mechanismen, die es gestatten, bei der Produktion von Gütern und Dienstleistungen schrittweise zu einer Angleichung nach oben der Sozialnormen (im Sinne der ILO-Konventionen) und der Umweltnormen überzugehen. Bildung, Gesundheitswesen, soziale Dienste und Kultur dürfen nicht Gegenstand des Allgemeinen Abkommens über den Handel mit Dienstleistungen (GATS) der WTO sein. Die Konvention über die kulturelle Verschiedenartigkeit, die gegenwärtig in der UNESCO verhandelt wird, muss dem Recht auf Kultur und der öffentlichen Politik zur Unterstützung der Kultur ausdrücklich Vorrang vor dem Recht auf Handel einräumen.
<6. das Recht auf Souveränität und auf Nahrungssicherheit aller Staaten oder Staatengruppen durch die Förderung der bäuerlichen Landwirtschaft gesichert werden. Dies impliziert die völlige Abschaffung der Exportsubventionen für landwirtschaftliche Produkte, vor allem durch die USA und die Europäische Union, und die Möglichkeit der Besteuerung der Importe, um Dumpingpraktiken zu verhindern. Ebenso muss jedes Land oder Ländergruppe souverän beschließen können, Produktion und Einfuhr von genetisch veränderten Nahrungsmittel zu verbieten.
7. jede Form der Patentierung von Kenntnissen und von lebenden Organismen (menschliche, tierische wie pflanzliche) und jede Privatisierung von Gemeinschaftsgütern der Menschen (insbesondere Wasser) verboten werden.


B

Eine andere mögliche Welt muss das Zusammenleben in Frieden und Gerechtigkeit aller Menschen befördern. Dazu müssen:
8. alle Formen von Diskriminierung, Sexismus, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus vor allem durch öffentliche Politik bekämpft werden. Die politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Rechte der Urbevölkerungen müssen voll anerkannt werden — einschließlich ihrer Herrschaft über ihre Naturreichtümer.
9. dringend Maßnahmen ergriffen werden, um die Plünderung der Umwelt und den infolge des Treibhauseffekts drohenden Klimawechsel zu beenden, der in erster Linie eine Folge des stark erhöhten Verkehrsaufkommens und der Verschwendung nicht erneuerbarer Energien ist. Es muss begonnen werden, eines anderen Entwicklungsweg einzuschlagen, der sich auf Energieeinsparung und die demokratische Beherrschung der natürlichen Ressourcen im globalen Maßstab gründet, insbesondere des Trinkwassers.
10. die Auflösung der Militärbasen von Staaten gefordert werden, die über solche außerhalb ihrer Grenzen verfügen, sowie der Rückzug aller ausländischen Truppen ohne ausdrückliches Mandat der UNO.

C

Eine andere mögliche Welt muss die Demokratie im lokalen wie im globalen Maßstab befördern. Dazu müssen:
11. das Recht der Bürgerinnen und Bürger auf aktive und passive Information gesichert werden, durch Gesetze die:
den Zusammenschluss der Medien zu riesigen Kommunikationskonzernen stoppen;
die Autonomie der Journalisten im Verhältnis zu den Aktionären garantieren;
die nicht gewinnorientierte Presse, besonders die alternativen und Nachbarschaftsmedien, fördern.
Die Achtung dieser Rechte erfordert die Schaffung von Formen der Gegenmacht, insbesondere in Form von nationalen und internationalen Medienbeobachtungsstellen.
12. die internationalen Organisationen von Grund auf reformiert und demokratisiert werden. In Verlängerung der Allgemeinen Menschenrechtserklärung muss in ihnen der Vorrang der Menschenrechte sowie der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zur Geltung gebracht werden. Dieser Vorrang umfasst auch die Eingliederung der Weltbank, des IWF und der WTO in das System und die Entscheidungsmechanismen der Vereinten Nationen. Für den Fall anhaltender Verletzungen der internationalen Legalität durch die USA muss der Sitz der Vereinten Nationen aus New York in ein anderes Land verlagert werden, vorzugsweise in den Süden.

Porto Alegre, 29.Januar 2005

Unterzeichnete: Tariq Ali (Pakistan), Samir Amin (Ägypten), Walden Bello (Philippinen), Frei Betto (Brasilien), Atilio Boron (Argentinien), Bernard Cassen (Frankreich), Eduardo Galeano (Uruguay), François Houtart (Belgien), Armand Mattelart (Belgien), Adolfo Pérez Esquivel (Argentinien), Riccardo Petrella (Italien), Ignacio Ramonet (Spanien), Samuel Ruiz García (Mexiko), Emir Sader (Brasilien), José Saramago (Portugal), Roberto Savio (Italien), Boaventura de Sousa Santos (Portugal), Aminata Traoré (Mali), Immanuel Wallerstein (USA).



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