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Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, März 2005, Seite 17

Utopisten ohne Langzeitgedächtnis

Eine Kritik an derzeit beliebten sozialen Utopien

Während die globalen Sozialkahlschlagsarmeen sich daran machen, nun auch die Schützengräben der bundesrepublikanischen Zivilgesellschaft zu überrennen, kommt es zu unerwarteten Scharmützeln um längst gewonnen geglaubte ideologische Unterstände. Können sie der neoliberalen Phalanx bisher auch nichts Vergleichbares entgegensetzen, so sind es doch erstaunlich viele Deperados, die sich in das feuilletonistische Gefecht stürzen, um die Wunderwaffen ihrer selbstgefertigten Utopien zu erproben — in jüngster Zeit bot ihnen u.a. der Freitag ein Manöverfeld in seinem Pressemarktsegment.
Bei allem Erfindungsgeist der Protagonisten, sieht man sich ihre Baupläne näher an, so wird man entweder an den marxistischen Klassiker »Sozialismus oder Barbarei« oder an Kropotkins »Wohlstand für alle« erinnert. So oder so, am Ende muss eine Debatte um soziale Utopien immer zwei Dinge in den Blick bekommen: Erstens gilt es, Lohnarbeiter und sozial Marginalisierte da abzuholen, wo sie sind. Welche konkreten sozialen Auseinandersetzungen stehen auf der Tagesordnung und inwieweit schaffen sie neue Hoffnungen auf gesellschaftliche Umwälzungen? Zweitens gilt es, sich von jedwedem falsch verstandenen Bilderverbot zu lösen und die eigenen Vorstellungen von einer sozialen Alternative permanent zu aktualisieren. Wie soll eine neue soziale Alternative nach allen bisherigen Erfahrungen in groben Zügen aussehen?
Allgemeine Charakteristika sind herauszuarbeiten, die sich wiederum in konkreten Forderungen widerspiegeln, die beim derzeitigen Bewusstseinsstand ansetzen. Da die Diskussion beider Fragen den Rahmen des hier Möglichen sprengen würde, soll im Folgenden nur die letzte erörtert werden.
Die Suche nach allgemeingültigen Merkmalen einer sozialen Alternative wirft im Grunde folgende zentrale Fragen auf: Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit Menschen gesellschaftliche Entscheidungsprozesse real überhaupt beeinflussen können? Was motiviert uns, uns sowohl im eigenen Interesse als auch im Sinne der Wohlfahrt aller zu engagieren? Die dominanten Angebote in den Debatten um soziale Utopien müssen sich daran messen lassen, ob sie auf diese Fragen eine schlüssige Antwort geben können oder nicht. Hier sei auf ein paar Ansätze eingegangen, die sich in den letzten Jahren innerhalb der Linken in Deutschland einer gewissen Beliebtheit erfreut haben.

Permanente Mobilmachung

Im Umfeld von Dritte-Welt-Gruppen sind nach wie vor kulturrevolutionäre Vorstellungen virulent, nach denen das Motivationsproblem durch eine permanente politisch-moralische Mobilmachung im Sinne bspw. Che Guevaras gelöst werden soll. Man ist immer wieder erstaunt, wie hartnäckig sich Vorstellungen von der Formung eines »neuen Menschen« per pädagogischer Einflussnahme in den Köpfen halten. Unterschätzt wird die Macht des Faktischen. Wo es eine Mehrheit gibt, die mobilisiert wird, muss es nun einmal eine Minderheit geben, die mobilisiert. Da unter solchen gesellschaftlichen Bedingungen das soziale Privileg der letzteren vom Ausmaß ihres Erziehungsauftrags abhängt, wird sie beständig darum bemüht sein, alle und jeden zu entmündigen. Die permanente bürokratische Gängelung ist die logische Konsequenz, wie die Erfahrungen des Staatssozialismus sowjetischen Typs zeigen. Unter den Bedingungen der Erziehungsdiktatur muss bald schon jede Form von Eigeninitiative im Interesse der Allgemeinheit erlöschen.
Sahra Wagenknecht hat seit 1991 in einer Reihe von Publikationen wiederum die Positionen des Reformprogramms des Neuen Ökonomischen Systems (NÖS) der Ulbricht-Ära vertreten. Die Idee eines Managersozialismus im Sinne des NÖS ist nach wie vor bei Mitgliedern der früheren Funktionseliten der DDR sehr beliebt. Das in den RGW- Ökonomien allgegenwärtige Problem der »kollektiven Verantwortungslosigkeit« sollte nach diesem Programm durch die Reduzierung zentralstaatlicher Planvorgaben, einer Ausweitung der Befugnisse betrieblicher Leiter und durch die Erhöhung materieller Anreize erreicht werden. Arbeiter und Angestellte wären allerdings bei Realisierung der bald schon wieder auf Eis gelegten Reformen entfremdete Lohnarbeiter geblieben. Ihr Betriebsegoismus hätte sozialistische Manager früher oder später alles daran setzen lassen, in irgendeiner Form zu Privateigentümern ihrer Kombinate zu werden. Zentrale Entwicklungen der letzten 14 Jahre in den osteuropäischen Reformländern wären so in der DDR schon einige Jahre früher vorweggenommen worden.

Glückliche Arbeitslose

Nehmen Anhänger des NÖS die Erfahrungen der Transformationsländer nicht wahr, so ignorieren im Sinne eines »Rechtes auf Faulheit« argumentierende Gruppen die Frage nach den Voraussetzungen für eine Teilhabe der Mehrheit an der politischen und ökonomischen Macht überhaupt. Für Furore sorgende »glückliche Arbeitslose« unterstellen einfach die Realisierbarkeit folgender Utopie: Auf der einen Seite läuft der kapitalistische Normalbetrieb weiter — wer da mitmachen will, kann es ja ruhig tun. Auf der anderen Seite soll von einem Teil seiner Überschüsse eine Art Reservat für Aussteiger unterhalten werden. Hier wird einfach unterschlagen, dass der Zwang zur Lohnarbeit eine der grundlegenden Voraussetzungen der kapitalistischen Produktionsweise ist.
Mit Unterstützung des Gesetzgebers soll derzeit die Profitrate per Absenkung der Lohnquote nachhaltig aufpoliert werden — selbst wenn die Durchsetzung der Zwangsmaßnahmen am Ende mehr kostet als die derzeitigen Sozialausgaben. Daran wird sich auch nichts ändern, wenn man seine Ansprüche zurückschraubt und versucht, die Forderung nach garantiertem Mindesteinkommen mehr oder weniger reformistisch zu verpacken (vgl. u.a. Michael Opielka in Freitag, Nr.41, 2004). Selbst wenn man Politikern und Kapitaleignern als Gegenleistung für ein garantiertes Grundeinkommen eine allgemeine Arbeitspflicht anbietet, wird man auf keine Gegenliebe stoßen (vgl. u.a. Helga Uhlenhut in Freitag, Nr.43, 2004). Ihr strategisches Ziel heißt nun mal Erhöhung der Kapitalverzinsung durch Arbeitshetze bei Billiglohn und ständiger Armutsangst. Der 1-Euro-Job ist kein Produkt zufälliger Machtkonstellationen sondern war immer Ziel dieser Strategie.
Solange die mutigen Streiterinnen und Streiter für menschenwürdige Einkommen ohne Lohnarbeit bzw. mit einer Arbeitspflicht auf Sparflamme meinen, sie könnten ohne eine Veränderung der Machtverhältnisse in der Wirtschaft ihren hehren Zielen auch nur einen Schritt näher kommen, zäumen sie beständig das Pferd von hinten auf bzw. machen die Rechnung ohne den Wirt. Denn die hohe gesellschaftliche Durchsetzungsfähigkeit ökonomisch potenter Minderheiten ist bis heute Voraussetzung für die Ohnmacht unterprivilegierter Mehrheiten.
Auch wenn sie dem Totschlagargument regelmäßig anheim fällt, »eine Einlassung ewiggestriger Planwirtschaftler« zu sein, so gilt die Binsenweisheit immer noch: Wirklich mündige Bürgerin oder mündiger Bürger ist man erst, wenn der bisherige Katalog politischer Grundrechte um das Recht auf Teilhabe an der Planung der Produktion des gesellschaftlichen Reichtums und seiner Verteilung erweitert wird. Erst wenn der Weg dahin einigermaßen klar ist, kann man ernsthaft darüber nachdenken, inwieweit man Überschüsse für Reinvestitionen oder Müßiggang verausgabt. Darum sollte in einer Diskussion über soziale Utopien nach wie vor die Frage nach der Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel auf die Tagesordnung gesetzt werden, anstatt sie einfach zu ignorieren.
Die Wahrnehmung des allgemeinen ökonomischen Grundrechtes auf Teilhabe am Management der gesellschaftlichen Arbeit wiederum setzt noch immer eine Reduzierung der Arbeitsteilung zwischen Akademikern und Arbeitern, vor allem aber ihre weitestgehende Beseitigung zwischen Vorgesetzten und Untergebenen voraus. Und die Forderung nach Verringerung der Arbeitszeit ist bis heute eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Wahrnehmung dieses noch durchzusetzenden ökonomischen Grundrechts.

Trügerische Paradiese

In der Utopie des Robert Kurz und der Gruppen Exit und Krisis ist die Aufhebung der Trennung von Produktion und Konsumtion Bedingung für ein allgemeines Recht auf Faulheit. Unter dem Strich gilt: Da wo man endlich einmal konkreter werden müsste, flüchten sich die verstrittenen Kritiker der Waren- und Arbeitsgesellschaft in ein Nirwana theoretischer Abstraktion. Am Ende schwimmt man dann doch wieder in altbekannten Gewässern: Die Konsequenz ihrer programmatischen Aussagen im Sinne des »Manifests gegen die Arbeit« lässt sich als »Flucht aus der Arbeitsgesellschaft zurück in die Subsistenzwirtschaft« dechiffrieren.
Die Verringerung der Arbeitszeit heutiger Lohnabhängiger zugunsten gesellschaftlichen Engagements kann jedoch nur dauerhaft realisiert werden, wenn ein hohes Niveau der Güterproduktion erhalten bleibt. Ihr Niedergang muss unweigerlich zu einer erneuten sozialen Teilung zwischen wenigen, die planen und verteilen und vielen, die ihre Anweisungen in die Tat umzusetzen haben, führen. Wie die Komponenten der PCs unter den Bedingungen der Subsistenzwirtschaft hergestellt werden sollen, über die die Kritiker der Arbeitsgesellschaft ihre kommunistischen Gemeinden dann ja doch vernetzen wollen, bleibt ihr Geheimnis. Robert Kurz muss sich den Vorwurf gefallen lassen, diesen Zusammenhang in seinen Publikationen konsequent ignoriert zu haben.
Ebenso mit Vorsicht zu genießen ist die undifferenzierte Übernahme der Forderung von Marx nach einer gerechten Bezahlung entsprechend der geleisteten Arbeitsstunden. Sie wird z.B. häufig von Anhängern der Theorie der sich tendenziell verschlechternden Terms of Trade für Rohstoffexporteure in Diskussionen über gerechtere Weltmarktstrukturen eingebracht (vgl. u.a. Frank Leonhardt in der Freitag-Debatte«). Es steht außer Frage, dass bei Beibehaltung gegebener Tauschverhältnisse Entwicklungsländer mit niedrigerer Arbeitsproduktivität nie aus dem Teufelskreis von Abhängigkeit und Armut herauskommen können. Trotzdem müsste man auf dem Weg zur allgemeinen Umsetzung der Forderung nach Güterzuteilung entsprechend der geleisteten Arbeitszeit einigen Fallstricken aus dem Wege gehen. Würde man diese Forderung z.B. in einem selbstverwalteten Betrieb eins zu eins umsetzen, müsste einem Handwerker, der in acht Stunden eine Glühbirne auswechselt, der gleiche Lohn zustehen, wie seinem Kollegen, der in derselben Zeit ein ganzes Zimmer verkabelt. Eine Kultur der Leistungsverweigerung und der Innovationsträgheit wäre das Resultat, die zu eben dem zu vermeidenden Niedergang des Produktionsniveaus führen würde.
Eine wie auch immer geartete Entlohnung weniger produktiver gesellschaftlicher Gruppen müsste also in einer alternativen Gesellschaft immer von einer allgemeinen demokratischen Kontrolle flankiert werden. Entweder man einigt sich auf die Alimentation niedrig produktiver Ökonomien oder Mitarbeiter, analog zu sozialen Sicherungssystemen oder kulturellen Einrichtungen, oder man verabschiedet sich im Einzelfall von dem Gedanken, alles und jeden in globale Austauschbeziehungen einbeziehen zu müssen.

Eine neues Stellenprofil

Will man verhindern, dass sich Mitglieder einer sich selbst verwaltenden Gemeinschaft bewusst auf Kosten anderer ausruhen oder sich an der Entscheidungsfindung nicht beteiligen, so muss in einem alternativem Gesellschaftsmodell die Transparenz des Systems für jeden Einzelnen gewahrt bleiben. Nur wenn nachvollziehbar bleibt, dass die eigene Wohlfahrt mit der anderer Gesellschaftsmitglieder wächst oder fällt, wird solidarisches Verhalten zur anerkannten Norm. Nur wenn jedes Gesellschaftsmitglied das Gefühl hat, dass Entscheidungen, die gefällt werden, es selbst betreffen, wird es ständig bemüht sein, seine Mitbestimmungsrechte wahr zu nehmen.
Die Forderung nach Transparenz der Strukturen steht allerdings im Widerspruch zur Bedingung hochentwickelter Produktionsniveaus, denn je höher das Niveau der gesellschaftlichen Produktion ist, desto komplexer und unüberschaubarer für den einzelnen sind Strukturen.
Christoph Spehr hat in Alaska (Nr.246) ein Gesellschaftsmodell skizziert, in der dieser Widerspruch gelöst zu sein scheint. Die Überschaubarkeit des Gesamtsystems für den Einzelnen, den Einfluss aller auf die gesellschaftliche Rahmenplanung und eine paritätische Mitbestimmung aller Betroffenen auf betriebliche bzw. kommunale Entscheidungen sind grundlegende Charakteristika seines Entwurfs. Die Mitglieder der von ihm entworfenen freien Assoziation beziehen ihre Motivation zur kreativen Arbeit und zum politischen Engagement aus dem direkten Nutzen, den sie aus der Produktion ihrer eigenen und aller anderen Kooperativen ziehen können.
Ungeklärt bleibt allerdings auch bei ihm, wie jeder und jedem ein ausreichender Zeitfond für die Entscheidungsfindung nach getaner Arbeit zu garantieren sei. Spielt man seine konkrete Utopie oder klassische Rätemodelle einmal durch, so müsste jedes Gesellschaftsmitglied neben seiner Normalarbeit zwei weitere Tätigkeiten wahrnehmen können: die Mitarbeit im Management einer Kooperative und die ebenso zeitaufwändige Tätigkeit der umfassenden Information im Vorfeld einer Versammlung. Konkrete Utopien à la Spehr wären um die Vorstellung einer neuen Organisation der Arbeitszeit zu erweitern. Zur Eingewöhnung könnte die Kommune ja mit jedem ihrer Mitglieder regelmäßig einen Arbeitsvertrag vereinbaren. Sein Gegenstand: die Fixierung der Jahresarbeitszeit auf ein »Stellenprofil« bestehend aus den Elementen professionelle Arbeit, Management und Mitbestimmung.
Diese neue Vorstellung von der gesellschaftlichen Arbeit für jede und jeden sollte Leitfaden neuer Utopieproduktionen sein und nicht die »Flucht aus der Arbeitsgesellschaft ohne Wegbeschreibung«.

Alf Zachäus

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