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Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, März 2005, Seite 18

Malcolm X und der Befreiungsnationalismus

Malcolm X ist auch heute, 40 Jahre nach seiner Ermordung, eine der bedeutendsten Symbolfiguren des afroamerikanischen Widerstands. Als »zornige Stimme der Unterdrückten«, der den Rassismus der Weißen in den USA und in der Welt radikal kritisierte, ist er Vorbild für viele Schwarze und antirassistisch Gesinnte.
Sein Wirken markiert gewissermaßen den Beginn des Postkolonialismus. Da Malcolm X der heute am meisten rezipierte schwarze Nationalist ist, soll sein Todestag hier zum Anlass genommen werden, die Metamorphosen des afroamerikanischen Befreiungsnationalismus zu diskutieren.
So wie der Befreiungsnationalismus eine Antwort der Kolonialisierten auf die europäische Kolonialherrschaft war, ist auch der schwarze Nationalismus in den USA ein Produkt kolonialistischer Ausgrenzung. Über Jahrhunderte hat sich die rassistische Entmenschlichung der Schwarzen tief in Strukturen und Selbstbewusstsein der amerikanischen Gesellschaft eingegraben. Der weiße Nationalismus hat sich dabei dreier verschiedener Produktionsweisen bedient: Sklaverei (1619—1865), Semifeudalismus (Süden 1865—1965) und Kapitalismus (Norden ab etwa 1830).
Auf den Plantagen des Südens und in den Ghettos des Nordens materialisierte sich die rassistische Ideologie als institutionalisierte »Rassentrennung«. Im Widerstand gegen dieses Herrschaftsverhältnis entstand der schwarze Nationalismus. Dieser befreiungsnationalistische Ursprung bestätigt den antirassistischen Impuls der ideologischen Formation.

Kampf um Befreiung

Im Unterschied zu radikalen Integrationisten wie Martin Luther King hat der schwarze Nationalismus den antirassistischen Kampf um Befreiung immer mit der politischen Perspektive einer umfassenden Autonomie von den ehemaligen Sklavenhaltern verbunden. Ausgehend vom geschichtlich begründeten Misstrauen gegenüber weißen Menschen, ihren Handlungen und Institutionen wurde die Notwendigkeit der Erlangung von ökonomischer, kultureller und politischer Unabhängigkeit vom weißen Amerika begründet.
Schon wenige Jahrzehnte nach der feierlichen Proklamation der weißen »amerikanischen Nation« formulierten daher Robert A. Young und David Walker 1829 den Gedanken, dass die afrikanischen Amerikaner eine eigene »Nation innerhalb der Nation« ausmachten. Angesichts der bis in die Gegenwart andauernden Rassentrennung ist dieser »Nationalismus der rassistisch Ausgeschlossenen« auch heute noch von großer aktueller Relevanz.
Die Geschichte des schwarzen Nationalismus zeigt, dass er keine einheitliche, monolithische Formation ist. Im Gegenteil: Seine ideologischen Formen sind ausgesprochen vielschichtig. Bis ins 20.Jahrhundert hinein war die Vision des afrikanischen Exodus, des gemeinsamen Auszugs aus dem Babylon des weißen Mannes, ein Sinnbild für die kollektive Befreiung vom kolonialen Joch.
Der Fortbestand der Sklaverei und später der Rassentrennung führte periodisch zu einer weit verbreiteten Desillusionierung, die vielen Schwarzen die Rückkehr nach Afrika als einzigen Ausweg aus ihrer umfassenden Benachteiligung in den USA erscheinen ließ. Dieses auch aus dem karibischen Reggae bekannte biblische Motiv wurde in den 20er Jahren von Marcus Garvey und der Universal Negro Improvement Association popularisiert.
Nach den Erfolgen Garveys propagierte die KP der USA zeitweilig (1928 bis 1934) die Forderung nach Errichtung eines unabhängigen schwarzen Staates im Süden der USA. Auch die religiös-nationalistische Nation of Islam (NOI) forderte staatliche Souveränität. Dieses Spektrum linker und rechter Gruppen veranschaulicht, dass der nationalistische Widerstand gegen die Dominanzkultur in gänzlich unterschiedlichen ideologischen Formen artikuliert werden kann.
Angetrieben von der Radikalisierung der Bürgerrechtsbewegung erreichte die Kritik weißer Vorherrschaft in den 60er Jahren einen neuen Höhepunkt. Malcolm X, der »organische Intellektuelle« der gettoisierten »Unterklassen«, verschaffte der NOI ungeahnte Popularität. Seine radikale Dekonstruktion der Dominanzkultur legte den Grundstein für die nationalistische Black-Power-Bewegung.
Schon die nationalistischen Ideologien des Garveyismus oder der NOI wurden von vielen Schwarzen als spirituelle Zurückweisung der rassistischen Entmenschlichung der Schwarzen gelesen. Im Streben nach Unabhängigkeit vom weißen Amerika verdichtete sich jetzt die Kritik an den institutionellen Strukturen und Trägern des rassistischen Herrschaftsverhältnisses.
Die verschiedenen Strömungen des schwarzen Nationalismus sind der weißen Dominanzkultur auf verschiedene Weise begegnet. Neben religiös- nationalistischen Gruppen wie der NOI, die ihren Widerstand in die Form einer Heilserwartung kleideten, etablierten sich jetzt auch kultur- und revolutionär-nationalistische Zusammenhänge. In der kulturnationalistischen Bewegung (»Black Art«) wurden die diskriminierenden Normen und Werte der Dominanzkultur unter Rückgriff auf afrikanische bzw. afroamerikanische Traditionen dekonstruiert. Ziel war die geistige Dekolonisation und intellektuelle Unabhängigkeit der Afrikaner.
Linke, revolutionär-nationalistische Gruppen wie die Black Panther Party for Self-Defense oder die League of Revolutionary Black Workers betonten demgegenüber vor allem die Folgen systemischer Unterdrückung und die Notwendigkeit grundlegender gesellschaftlicher Veränderungen im Interesse der unterdrückten Schwarzen. Republic of New Africa und später das New African Independence Movement verbanden, ähnlich wie zuvor die KP, die Forderung nach einem unabhängigen schwarzen Staat mit sozialistischen Gesellschaftsvisionen.
Gemein ist diesen unterschiedlichen Strömungen das Streben nach einer umfassenden Autonomie von den ehemaligen Sklavenhaltern und ihrer kolonialistischen Dominanzkultur. Dieser Zusammenhang verdeutlicht das emanzipatorische, antirassistische Potenzial des schwarzen Nationalismus.

Ambivalenzen

Die Traditionen, Symbole und Rituale der Herrschenden haben sich lange und gründlich in den zivilgesellschaftlichen »Festungen und Kasematten« des Alltagsbewusstseins (Gramsci) eingegraben. In ihrem Streben nach intellektueller Unabhängigkeit reproduzieren (nicht nur nationalistische) Befreiungsbewegungen deshalb regelmäßig Elemente herrschender Ideologien. Weil sie unter eben den gesellschaftlichen Bedingungen heranreifen, an deren Überwindung sie arbeiten, bleiben sie — mal mehr, mal weniger — auch von den ideologischen gesellschaftlichen Verhältnissen abhängig. Dies haben gerade die Diskussionen über Geschlechterverhältnisse gezeigt.
Befreiungsnationalistischen Bewegungen ist diese innere Widersprüchlichkeit schon begrifflich eingeschrieben. Auch der Nationalismus der rassistisch Ausgeschlossenen ist eine nationalistische Ideologie. Die Dialektik des schwarzen Nationalismus besteht deshalb darin, dass er über den antirassistischen Impuls hinausgehen und sich als Teil des universellen Phänomens Nationalismus äußern kann. Dadurch werden auch die Reduktionismen nationalistischer Ideologien reproduziert.
Die ungebrochene Kontinuität der informellen Apartheid der amerikanischen Gesellschaft begünstigt schwarz-nationalistische Ideologien. Anders als in den 60er Jahren sind die linksnationalistischen Strömungen heute jedoch politisch weitgehend marginalisiert. In der Folge ihres Niedergangs hat sich, analog zur Entwicklung der amerikanischen Gesellschaft, der Einfluss konservativer Nationalisten weiter vergrößert.
Lassen sich schon am Beispiel revolutionärer Nationalisten bestimmte Probleme nationalistischer Ideologieproduktion nachweisen, so ist die unter der Führung von Louis Farrakhan wieder erstarkte Nation of Islam geradezu ein Labyrinth schwarz- nationalistischer Ambivalenzen. Auf den Rassismus der Weißen, der zur Rechtfertigung der Sklaverei erfunden wurde und sie gesellschaftlich überhaupt erst zu Schwarzen gemacht hat, reagiert die NOI nicht mit der kollektiven Zielsetzung, diese Ethnisierung sozialer Unterschiede zurückzuweisen, sondern mit einer eigenen biologistischen Rassenkonstruktion, die ein Spiegelbild weißer rassistischer Propaganda ist.
Eine Dekonstruktion enttarnt die Interessengebundenheit der Ideologie der NOI. So verdeutlicht die häufige Bezugnahme auf die »Natürlichkeit« der klassischen Geschlechtsrollenverteilung und die Gleichsetzung einer »Rückeroberung schwarzer Männlichkeit« mit schwarzer Befreiung die patriarchalischen Interessen. Das gesellschaftskonforme Streben nach einer Stärkung des »schwarzen Kapitalismus« entspricht den Interessen der schwarzen Mittel- und Oberschichten. Mehr noch. In den Reden Farrakhans und der NOI-Zeitung The Final Call wird regelmäßig das Bild einer »jüdischen Verschwörung« erzeugt. Die NOI konstruiert damit den gleichen »Vaterlandslosen« wie herrschende europäische und amerikanische Nationalismen. Dieser Antisemitismus zeigt besonders deutlich, dass blinde Solidarität mit befreiungsnationalistischen Bewegungen grundsätzlich fehlgeleitet ist.

Neuer Schwarzer Film und HipHop

Die regressiven Tendenzen des Befreiungsnationalismus verdichten sich zwar nur selten zu einem ideologischen Labyrinth wie dem »islamischen Fundamentalismus« der NOI, lassen sich jedoch mit Abstrichen auch für andere Strömungen nachweisen. Von besonderer Bedeutung für die hiesige Debatte sind dabei die populär-kulturellen Ausdrucksformen.
Der internationale Einfluss von HipHop und »neuem schwarzem Film« unterstreicht, dass gerade die musikalischen und filmischen Repräsentationen des afroamerikanischen Widerstands den Kampf um kulturelle Hegemonie beeinflussen.
Am Beispiel der frühen Filme Spike Lees lassen sich die Ambivalenzen veranschaulichen. Insbesondere in seinen frühen Filmen wie She‘s Gotta Have It, Do the Right Thing oder X (dem Film über Malcolm X) wird mit den dominanzkulturellen Repräsentationen von Afroamerikanern gebrochen. Die Darstellungen unabhängiger schwarzer Lebenswelten marginalisieren das »weiße Auge«, indem sie den (segregierten) Alltag im schwarzen Amerika vom Rand ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken.
Dieser erfrischende Perspektivenwechsel ist die wichtigste Neuerung im cineastischen »Gegen-Diskurs«, wenngleich Lees Filme — insbesondere mit Blick auf Geschlechterverhältnisse — auch Elemente der vorherrschenden Dominanzkultur reproduzieren.
Ähnlich wie in Lees Filmen wird durch das Streben nach »Authentizität« und street credibility auch im HipHop eine Repräsentation der segregierten schwarzen Lebenswelten erzeugt. Viele Rapper wenden sich in ihren Texten ausdrücklich gegen die dominanzkulturelle Bedeutungskonstitution der ehemaligen Sklavenhalter. Sie rücken stattdessen das Leben in ihrem Stadtteil (the hood) ins diskursive Zentrum.
Im politischen Rap werden darüber hinaus auch die kämpferischen Traditionen des schwarzen Nationalismus einbezogen. Dieser Perspektivenwechsel kann als Reaktion auf die andauernden Ausgrenzungspraktiken des weißen Amerika und als indirekte Kritik an den innerstädtischen Folgekosten der postfordistischen Deindustrialisierung gedeutet werden. Dass dabei auch viele Rapper Elemente der dominanzkulturellen Hegemonie reproduzieren, zeigen u.a. die anhaltenden Diskussionen über Antisemitismus, Sexismus, Gangsta-Rap und »5% Nation«.

Von Malcolm X lernen

Die historische Entwicklung der ideologischen Formen des schwarzen Nationalismus zeigen, dass der Befreiungsnationalismus und seine ideologischen Formen antirassistischen Protestes widersprüchlich sind. In dieser Widersprüchlichkeit liegt wiederum ein wesentlicher Grund für die anhaltende Bedeutung von Malcolm X.
Seine Entwicklung vom jugendlichen »Hustler« bzw. »Gangsta« aus den städtischen »Unterklassen« zum schwarzen Nationalisten und Revolutionär zeigt einen Weg der Emanzipation von den Fallstricken nationalistischer Ideologieproduktion. Insofern ist Malcolm X ein Beispiel dafür, dass die Träger des Kampfes um Befreiung aus ihren Fehlern lernen und so den eigenen Lebensweg wesentlich gestalten können: Learn to think for yourself — ein anderes Leben ist möglich!

Albert Scharenberg

Zum Weiterlesen: Albert Scharenberg, Schwarzer Nationalismus in den USA. Das Malcolm X-Revival, Münster: Verlag Westfälisches Dampfboot, 1998.



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