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Malcolm X ist auch heute, 40 Jahre nach seiner Ermordung, eine der bedeutendsten
Symbolfiguren des afroamerikanischen Widerstands. Als »zornige Stimme der Unterdrückten«, der
den Rassismus der Weißen in den USA und in der Welt radikal kritisierte, ist er Vorbild für viele
Schwarze und antirassistisch Gesinnte.
Sein Wirken markiert gewissermaßen den Beginn
des Postkolonialismus. Da Malcolm X der heute am meisten rezipierte schwarze Nationalist ist, soll sein
Todestag hier zum Anlass genommen werden, die Metamorphosen des afroamerikanischen Befreiungsnationalismus zu
diskutieren.
So wie der Befreiungsnationalismus eine Antwort
der Kolonialisierten auf die europäische Kolonialherrschaft war, ist auch der schwarze Nationalismus in
den USA ein Produkt kolonialistischer Ausgrenzung. Über Jahrhunderte hat sich die rassistische
Entmenschlichung der Schwarzen tief in Strukturen und Selbstbewusstsein der amerikanischen Gesellschaft
eingegraben. Der weiße Nationalismus hat sich dabei dreier verschiedener Produktionsweisen bedient:
Sklaverei (16191865), Semifeudalismus (Süden 18651965) und Kapitalismus (Norden ab etwa 1830).
Auf den Plantagen des Südens und in den
Ghettos des Nordens materialisierte sich die rassistische Ideologie als institutionalisierte
»Rassentrennung«. Im Widerstand gegen dieses Herrschaftsverhältnis entstand der schwarze
Nationalismus. Dieser befreiungsnationalistische Ursprung bestätigt den antirassistischen Impuls der
ideologischen Formation.
Im Unterschied zu radikalen Integrationisten wie Martin Luther King hat der schwarze Nationalismus den
antirassistischen Kampf um Befreiung immer mit der politischen Perspektive einer umfassenden Autonomie von den
ehemaligen Sklavenhaltern verbunden. Ausgehend vom geschichtlich begründeten Misstrauen gegenüber
weißen Menschen, ihren Handlungen und Institutionen wurde die Notwendigkeit der Erlangung von
ökonomischer, kultureller und politischer Unabhängigkeit vom weißen Amerika begründet.
Schon wenige Jahrzehnte nach der feierlichen
Proklamation der weißen »amerikanischen Nation« formulierten daher Robert A. Young und David
Walker 1829 den Gedanken, dass die afrikanischen Amerikaner eine eigene »Nation innerhalb der Nation«
ausmachten. Angesichts der bis in die Gegenwart andauernden Rassentrennung ist dieser »Nationalismus der
rassistisch Ausgeschlossenen« auch heute noch von großer aktueller Relevanz.
Die Geschichte des schwarzen Nationalismus zeigt,
dass er keine einheitliche, monolithische Formation ist. Im Gegenteil: Seine ideologischen Formen sind
ausgesprochen vielschichtig. Bis ins 20.Jahrhundert hinein war die Vision des afrikanischen Exodus, des
gemeinsamen Auszugs aus dem Babylon des weißen Mannes, ein Sinnbild für die kollektive Befreiung vom
kolonialen Joch.
Der Fortbestand der Sklaverei und später der
Rassentrennung führte periodisch zu einer weit verbreiteten Desillusionierung, die vielen Schwarzen die
Rückkehr nach Afrika als einzigen Ausweg aus ihrer umfassenden Benachteiligung in den USA erscheinen
ließ. Dieses auch aus dem karibischen Reggae bekannte biblische Motiv wurde in den 20er Jahren von Marcus
Garvey und der Universal Negro Improvement Association popularisiert.
Nach den Erfolgen Garveys propagierte die KP der
USA zeitweilig (1928 bis 1934) die Forderung nach Errichtung eines unabhängigen schwarzen Staates im
Süden der USA. Auch die religiös-nationalistische Nation of Islam (NOI) forderte staatliche
Souveränität. Dieses Spektrum linker und rechter Gruppen veranschaulicht, dass der nationalistische
Widerstand gegen die Dominanzkultur in gänzlich unterschiedlichen ideologischen Formen artikuliert werden
kann.
Angetrieben von der Radikalisierung der
Bürgerrechtsbewegung erreichte die Kritik weißer Vorherrschaft in den 60er Jahren einen neuen
Höhepunkt. Malcolm X, der »organische Intellektuelle« der gettoisierten
»Unterklassen«, verschaffte der NOI ungeahnte Popularität. Seine radikale Dekonstruktion der
Dominanzkultur legte den Grundstein für die nationalistische Black-Power-Bewegung.
Schon die nationalistischen Ideologien des
Garveyismus oder der NOI wurden von vielen Schwarzen als spirituelle Zurückweisung der rassistischen
Entmenschlichung der Schwarzen gelesen. Im Streben nach Unabhängigkeit vom weißen Amerika verdichtete
sich jetzt die Kritik an den institutionellen Strukturen und Trägern des rassistischen
Herrschaftsverhältnisses.
Die verschiedenen Strömungen des schwarzen
Nationalismus sind der weißen Dominanzkultur auf verschiedene Weise begegnet. Neben religiös-
nationalistischen Gruppen wie der NOI, die ihren Widerstand in die Form einer Heilserwartung kleideten,
etablierten sich jetzt auch kultur- und revolutionär-nationalistische Zusammenhänge. In der
kulturnationalistischen Bewegung (»Black Art«) wurden die diskriminierenden Normen und Werte der
Dominanzkultur unter Rückgriff auf afrikanische bzw. afroamerikanische Traditionen dekonstruiert. Ziel war
die geistige Dekolonisation und intellektuelle Unabhängigkeit der Afrikaner.
Linke, revolutionär-nationalistische Gruppen
wie die Black Panther Party for Self-Defense oder die League of Revolutionary Black Workers betonten
demgegenüber vor allem die Folgen systemischer Unterdrückung und die Notwendigkeit grundlegender
gesellschaftlicher Veränderungen im Interesse der unterdrückten Schwarzen. Republic of New Africa und
später das New African Independence Movement verbanden, ähnlich wie zuvor die KP, die Forderung nach
einem unabhängigen schwarzen Staat mit sozialistischen Gesellschaftsvisionen.
Gemein ist diesen unterschiedlichen
Strömungen das Streben nach einer umfassenden Autonomie von den ehemaligen Sklavenhaltern und ihrer
kolonialistischen Dominanzkultur. Dieser Zusammenhang verdeutlicht das emanzipatorische, antirassistische
Potenzial des schwarzen Nationalismus.
Die Traditionen, Symbole und Rituale der Herrschenden haben sich lange und gründlich in den
zivilgesellschaftlichen »Festungen und Kasematten« des Alltagsbewusstseins (Gramsci) eingegraben. In
ihrem Streben nach intellektueller Unabhängigkeit reproduzieren (nicht nur nationalistische)
Befreiungsbewegungen deshalb regelmäßig Elemente herrschender Ideologien. Weil sie unter eben den
gesellschaftlichen Bedingungen heranreifen, an deren Überwindung sie arbeiten, bleiben sie mal
mehr, mal weniger auch von den ideologischen gesellschaftlichen Verhältnissen abhängig. Dies
haben gerade die Diskussionen über Geschlechterverhältnisse gezeigt.
Befreiungsnationalistischen Bewegungen ist diese
innere Widersprüchlichkeit schon begrifflich eingeschrieben. Auch der Nationalismus der rassistisch
Ausgeschlossenen ist eine nationalistische Ideologie. Die Dialektik des schwarzen Nationalismus besteht deshalb
darin, dass er über den antirassistischen Impuls hinausgehen und sich als Teil des universellen
Phänomens Nationalismus äußern kann. Dadurch werden auch die Reduktionismen nationalistischer
Ideologien reproduziert.
Die ungebrochene Kontinuität der informellen
Apartheid der amerikanischen Gesellschaft begünstigt schwarz-nationalistische Ideologien. Anders als in
den 60er Jahren sind die linksnationalistischen Strömungen heute jedoch politisch weitgehend
marginalisiert. In der Folge ihres Niedergangs hat sich, analog zur Entwicklung der amerikanischen
Gesellschaft, der Einfluss konservativer Nationalisten weiter vergrößert.
Lassen sich schon am Beispiel revolutionärer
Nationalisten bestimmte Probleme nationalistischer Ideologieproduktion nachweisen, so ist die unter der
Führung von Louis Farrakhan wieder erstarkte Nation of Islam geradezu ein Labyrinth schwarz-
nationalistischer Ambivalenzen. Auf den Rassismus der Weißen, der zur Rechtfertigung der Sklaverei
erfunden wurde und sie gesellschaftlich überhaupt erst zu Schwarzen gemacht hat, reagiert die NOI nicht
mit der kollektiven Zielsetzung, diese Ethnisierung sozialer Unterschiede zurückzuweisen, sondern mit
einer eigenen biologistischen Rassenkonstruktion, die ein Spiegelbild weißer rassistischer Propaganda ist.
Eine Dekonstruktion enttarnt die
Interessengebundenheit der Ideologie der NOI. So verdeutlicht die häufige Bezugnahme auf die
»Natürlichkeit« der klassischen Geschlechtsrollenverteilung und die Gleichsetzung einer
»Rückeroberung schwarzer Männlichkeit« mit schwarzer Befreiung die patriarchalischen
Interessen. Das gesellschaftskonforme Streben nach einer Stärkung des »schwarzen Kapitalismus«
entspricht den Interessen der schwarzen Mittel- und Oberschichten. Mehr noch. In den Reden Farrakhans und der
NOI-Zeitung The Final Call wird regelmäßig das Bild einer »jüdischen
Verschwörung« erzeugt. Die NOI konstruiert damit den gleichen »Vaterlandslosen« wie
herrschende europäische und amerikanische Nationalismen. Dieser Antisemitismus zeigt besonders deutlich,
dass blinde Solidarität mit befreiungsnationalistischen Bewegungen grundsätzlich fehlgeleitet ist.
Die regressiven Tendenzen des Befreiungsnationalismus verdichten sich zwar nur selten zu einem ideologischen
Labyrinth wie dem »islamischen Fundamentalismus« der NOI, lassen sich jedoch mit Abstrichen auch
für andere Strömungen nachweisen. Von besonderer Bedeutung für die hiesige Debatte sind dabei
die populär-kulturellen Ausdrucksformen.
Der internationale Einfluss von HipHop und
»neuem schwarzem Film« unterstreicht, dass gerade die musikalischen und filmischen
Repräsentationen des afroamerikanischen Widerstands den Kampf um kulturelle Hegemonie beeinflussen.
Am Beispiel der frühen Filme Spike Lees
lassen sich die Ambivalenzen veranschaulichen. Insbesondere in seinen frühen Filmen wie Shes Gotta
Have It, Do the Right Thing oder X (dem Film über Malcolm X) wird mit den dominanzkulturellen
Repräsentationen von Afroamerikanern gebrochen. Die Darstellungen unabhängiger schwarzer Lebenswelten
marginalisieren das »weiße Auge«, indem sie den (segregierten) Alltag im schwarzen Amerika vom
Rand ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken.
Dieser erfrischende Perspektivenwechsel ist die
wichtigste Neuerung im cineastischen »Gegen-Diskurs«, wenngleich Lees Filme insbesondere mit
Blick auf Geschlechterverhältnisse auch Elemente der vorherrschenden Dominanzkultur reproduzieren.
Ähnlich wie in Lees Filmen wird durch das
Streben nach »Authentizität« und street credibility auch im HipHop eine Repräsentation der
segregierten schwarzen Lebenswelten erzeugt. Viele Rapper wenden sich in ihren Texten ausdrücklich gegen
die dominanzkulturelle Bedeutungskonstitution der ehemaligen Sklavenhalter. Sie rücken stattdessen das
Leben in ihrem Stadtteil (the hood) ins diskursive Zentrum.
Im politischen Rap werden darüber hinaus auch
die kämpferischen Traditionen des schwarzen Nationalismus einbezogen. Dieser Perspektivenwechsel kann als
Reaktion auf die andauernden Ausgrenzungspraktiken des weißen Amerika und als indirekte Kritik an den
innerstädtischen Folgekosten der postfordistischen Deindustrialisierung gedeutet werden. Dass dabei auch
viele Rapper Elemente der dominanzkulturellen Hegemonie reproduzieren, zeigen u.a. die anhaltenden Diskussionen
über Antisemitismus, Sexismus, Gangsta-Rap und »5% Nation«.
Die historische Entwicklung der ideologischen Formen des schwarzen Nationalismus zeigen, dass der
Befreiungsnationalismus und seine ideologischen Formen antirassistischen Protestes widersprüchlich sind.
In dieser Widersprüchlichkeit liegt wiederum ein wesentlicher Grund für die anhaltende Bedeutung von
Malcolm X.
Seine Entwicklung vom jugendlichen
»Hustler« bzw. »Gangsta« aus den städtischen »Unterklassen« zum schwarzen
Nationalisten und Revolutionär zeigt einen Weg der Emanzipation von den Fallstricken nationalistischer
Ideologieproduktion. Insofern ist Malcolm X ein Beispiel dafür, dass die Träger des Kampfes um
Befreiung aus ihren Fehlern lernen und so den eigenen Lebensweg wesentlich gestalten können: Learn to
think for yourself ein anderes Leben ist möglich!
Albert Scharenberg
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