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Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, März 2005, Seite 22

Tagung entdeckt die etwas andere Revolte von 1968

Neues vom proletarischen Mai

So umstritten die Chiffre »1968« und ihre Bedeutung auch ist, so vorherrschend ist doch noch immer die Meinung, dass das magische Datum vor allem eine Revolte der Studierenden bezeichnet. Die Zeiten der Erinnerungsliteratur neigen sich jedoch ihrem Ende zu. Und seit mindestens einem Jahrzehnt entwickelt sich zudem eine immer umfangreichere wissenschaftliche Literatur, die der Revolte ihre scheinbare Einseitigkeit nimmt.

Eine Fülle von Regional- und Länderstudien hat deutlich gemacht, dass es sich bei 1968 nicht um ein Berliner oder Frankfurter Phänomen, sondern um ein gesamtdeutsches, ein europäisches, ja um ein weltweites Phänomen handelte. Viele Detailstudien legen mittlerweile Zeugnis darüber ab, dass und wie sich die Revolte auch in Osteuropa, Lateinamerika und Asien niedergeschlagen hat, dass 1968 deutlich mehr war als die schillernde Kulturrevolution und auch ein nichtstudentisches Milieu in mal mehr, mal weniger intensiver Weise erfasste. Kontinuitäten und Brüche kamen und kommen so stärker ins Bewusstsein und die scheinbar so einfach zu interpretierende Revolte verliert ihre einstmals sicher geglaubten Konturen.

Erste Ergebnisse

Nun beginnt auch noch eine weitere terra incognita zu schwinden, denn die Beiträge mehren sich seit einiger Zeit, die gerade jene Gesellschaftsgruppe in den analytischen Blickwinkel nimmt, die nicht wenigen der 68ern besonders am Herzen gelegen hat: die Arbeiter.
Die Idee drängte sich also auf, dass man einmal systematisch das Verhältnis von alter Arbeiterbewegung und neuer Studentenrevolte aufzuarbeiten habe. Gerd-Rainer Horn von der Universität Warwick und Andreas Graf von der FU Berlin haben diese Initiative ergriffen und mit Hilfe des DGB-Bildungszentrum Hattingen vom 11. bis 13. Februar eine wissenschaftliche Tagung veranstaltet, die sich dem Thema in einem europäischen Vergleich gewidmet hat.
Als Fallbeispiele untersucht wurden Spanien, Belgien, Frankreich, Italien, Polen und die Tschechoslowakei sowie West- und Ostdeutschland. Herausgekommen ist, dass »1968« auch in der Arbeiterbewegung allüberall stattgefunden hat — allerdings in einem durchaus unterschiedlichen quantitativen wie qualitativen Ausmaß. Die gesellschaftliche und politische Kultur des jeweiligen Landes nachhaltig geprägt hat die Revolte allerdings einzig in den südwestlichen, in den romanischen Ländern, so die Eingangsthese von Horn.
In diesen Ländern kam es auch zu teilweise umfangreichen Fusionsprozessen zwischen der überwiegend kleinbürgerlichen Studentenschaft und der proletarischen Arbeiterschaft. Doch selbst dort, wo diese Fusion am weitesten reichte, in Italien, ist sie schon bald nach 1968/69, nachdem die Studenten ihren eigenen Hochschulbereich verließen und »in die Arbeiterklasse gingen«, wieder zerfallen. »Organisieren und Flugblätter verteilen können wir selber«, so damals ein Arbeiter zu dem italienischen Aktivisten (und Tagungsteilnehmer) Vittorio Rieser, »wir brauchen euch als Intellektuelle und Gedankengeber.«
Herausgekommen ist auch, dass die »alten« und »neuen« sozialen Bewegungen sich mal aneinander entzündend und mal parallel zueinander verlaufen sind. Dies ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass »1968« nicht allein von einem Zentrum (hier: der Studentenrevolte) her gedacht, sondern als ein gesamtgesellschaftliches Phänomen verstanden werden muss.
Deutlich wurde aber auch, dass die in sich differenzierte Welle proletarischer Selbsttätigkeit von etwa Anfang der 60er bis zur Mitte der 70er Jahre reichte, und nicht unwesentlich darin bestand, mit dem Mittel des Antiautoritarismus den Kampf auch innerhalb der eigenen Klassengenerationen auszufechten. Anders als bei den bis dahin vor allem ökonomisch und sozialpolitisch dominierten Gewerkschaftskämpfen wurden nun wesentlich intensiver auch Fragen der Arbeitskultur grundsätzlich thematisiert.
Im Kampf gegen das repressive Betriebsklima ist denn auch eine der Spezifika des »proletarischen Mai« zu sehen. Dass dies nicht zulasten des sozialökonomischen Kampfes gehen muss, machte ebenfalls Horn deutlich, als er darauf verwies, dass es während dieses »proletarischen Mai« zur letzten Welle effektiver Arbeitszeitverkürzungen und Lohnzuwächse gekommen sei. Allein dies machte die politische Aktualität der Tagung mehr als deutlich.

Offene Fragen

Manches kam (zwangsläufig) zu kurz oder fehlte ganz. Die Bedeutung und das Schicksal der Neuen Linken als dem politisch-intellektuellen Ausdruck der 68er-Bewegungen blieb ebenso unterbeleuchtet wie die Einordnung in die langen Wellen der politischen Weltökonomie.
Schwerer wiegt der fehlende Versuch einer Theoriebildung. Der historische Vergleich bleibt unvollkommen, wenn unklar ist, mit welchem gesellschaftstheoretischen Instrumentarium und Erkenntnisinteresse man operiert oder zu operieren gedenkt. Umstritten war bspw. inwieweit die Rede von der Rekonstruktion einer revolutionären Arbeiterklassenbewegung sowohl bei den damaligen Akteuren wie den heutigen Forschern angebracht sei, da manche Anwesende die These vertraten, dass die Arbeiter natürlicherweise nicht systemoppositionell seien.
Schon bei dieser Frage stellt sich das Problem des Maßstabs, mit dem man forscht und interpretiert. Auch die diskutierte Frage, ob sich Arbeiterbewusstsein vor allem in einer, in den romanischen Ländern »naturgemäß« weiter verbreiteten, Streikneigung oder in den institutionalisierten Formen gewerkschaftlichen Verhandlungsmacht niederschlage, macht deutlich, dass es mindestens einer wie auch immer gearteten Theorie der Arbeiterbewegung bedarf, um hier weiterzukommen.
Immerhin hat die Tagung den ersten systematischen Ansatz zu einem solchen Unterfangen geleistet. Die Beiträge sollen noch dieses Jahr als Buch vorliegen und können bereits jetzt unter www.forum-politische-bildung. de abgerufen werden.

Christoph Jünke

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