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So umstritten die Chiffre »1968« und ihre Bedeutung auch ist, so
vorherrschend ist doch noch immer die Meinung, dass das magische Datum vor allem eine Revolte der
Studierenden bezeichnet. Die Zeiten der Erinnerungsliteratur neigen sich jedoch ihrem Ende zu. Und seit
mindestens einem Jahrzehnt entwickelt sich zudem eine immer umfangreichere wissenschaftliche Literatur, die
der Revolte ihre scheinbare Einseitigkeit nimmt.
Eine Fülle von Regional- und Länderstudien hat deutlich gemacht, dass es sich bei 1968
nicht um ein Berliner oder Frankfurter Phänomen, sondern um ein gesamtdeutsches, ein
europäisches, ja um ein weltweites Phänomen handelte. Viele Detailstudien legen mittlerweile
Zeugnis darüber ab, dass und wie sich die Revolte auch in Osteuropa, Lateinamerika und Asien
niedergeschlagen hat, dass 1968 deutlich mehr war als die schillernde Kulturrevolution und auch ein
nichtstudentisches Milieu in mal mehr, mal weniger intensiver Weise erfasste. Kontinuitäten und
Brüche kamen und kommen so stärker ins Bewusstsein und die scheinbar so einfach zu
interpretierende Revolte verliert ihre einstmals sicher geglaubten Konturen.
Nun beginnt auch noch eine weitere terra incognita zu schwinden, denn die Beiträge mehren sich seit
einiger Zeit, die gerade jene Gesellschaftsgruppe in den analytischen Blickwinkel nimmt, die nicht wenigen
der 68ern besonders am Herzen gelegen hat: die Arbeiter.
Die Idee drängte sich also auf, dass man
einmal systematisch das Verhältnis von alter Arbeiterbewegung und neuer Studentenrevolte aufzuarbeiten
habe. Gerd-Rainer Horn von der Universität Warwick und Andreas Graf von der FU Berlin haben diese
Initiative ergriffen und mit Hilfe des DGB-Bildungszentrum Hattingen vom 11. bis 13. Februar eine
wissenschaftliche Tagung veranstaltet, die sich dem Thema in einem europäischen Vergleich gewidmet
hat.
Als Fallbeispiele untersucht wurden Spanien,
Belgien, Frankreich, Italien, Polen und die Tschechoslowakei sowie West- und Ostdeutschland. Herausgekommen
ist, dass »1968« auch in der Arbeiterbewegung allüberall stattgefunden hat allerdings
in einem durchaus unterschiedlichen quantitativen wie qualitativen Ausmaß. Die gesellschaftliche und
politische Kultur des jeweiligen Landes nachhaltig geprägt hat die Revolte allerdings einzig in den
südwestlichen, in den romanischen Ländern, so die Eingangsthese von Horn.
In diesen Ländern kam es auch zu
teilweise umfangreichen Fusionsprozessen zwischen der überwiegend kleinbürgerlichen
Studentenschaft und der proletarischen Arbeiterschaft. Doch selbst dort, wo diese Fusion am weitesten
reichte, in Italien, ist sie schon bald nach 1968/69, nachdem die Studenten ihren eigenen Hochschulbereich
verließen und »in die Arbeiterklasse gingen«, wieder zerfallen. »Organisieren und
Flugblätter verteilen können wir selber«, so damals ein Arbeiter zu dem italienischen
Aktivisten (und Tagungsteilnehmer) Vittorio Rieser, »wir brauchen euch als Intellektuelle und
Gedankengeber.«
Herausgekommen ist auch, dass die
»alten« und »neuen« sozialen Bewegungen sich mal aneinander entzündend und mal
parallel zueinander verlaufen sind. Dies ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass »1968« nicht
allein von einem Zentrum (hier: der Studentenrevolte) her gedacht, sondern als ein gesamtgesellschaftliches
Phänomen verstanden werden muss.
Deutlich wurde aber auch, dass die in sich
differenzierte Welle proletarischer Selbsttätigkeit von etwa Anfang der 60er bis zur Mitte der 70er
Jahre reichte, und nicht unwesentlich darin bestand, mit dem Mittel des Antiautoritarismus den Kampf auch
innerhalb der eigenen Klassengenerationen auszufechten. Anders als bei den bis dahin vor allem
ökonomisch und sozialpolitisch dominierten Gewerkschaftskämpfen wurden nun wesentlich intensiver
auch Fragen der Arbeitskultur grundsätzlich thematisiert.
Im Kampf gegen das repressive Betriebsklima
ist denn auch eine der Spezifika des »proletarischen Mai« zu sehen. Dass dies nicht zulasten des
sozialökonomischen Kampfes gehen muss, machte ebenfalls Horn deutlich, als er darauf verwies, dass es
während dieses »proletarischen Mai« zur letzten Welle effektiver
Arbeitszeitverkürzungen und Lohnzuwächse gekommen sei. Allein dies machte die politische
Aktualität der Tagung mehr als deutlich.
Manches kam (zwangsläufig) zu kurz oder fehlte ganz. Die Bedeutung und das Schicksal der Neuen
Linken als dem politisch-intellektuellen Ausdruck der 68er-Bewegungen blieb ebenso unterbeleuchtet wie die
Einordnung in die langen Wellen der politischen Weltökonomie.
Schwerer wiegt der fehlende Versuch einer
Theoriebildung. Der historische Vergleich bleibt unvollkommen, wenn unklar ist, mit welchem
gesellschaftstheoretischen Instrumentarium und Erkenntnisinteresse man operiert oder zu operieren gedenkt.
Umstritten war bspw. inwieweit die Rede von der Rekonstruktion einer revolutionären
Arbeiterklassenbewegung sowohl bei den damaligen Akteuren wie den heutigen Forschern angebracht sei, da
manche Anwesende die These vertraten, dass die Arbeiter natürlicherweise nicht systemoppositionell
seien.
Schon bei dieser Frage stellt sich das Problem
des Maßstabs, mit dem man forscht und interpretiert. Auch die diskutierte Frage, ob sich
Arbeiterbewusstsein vor allem in einer, in den romanischen Ländern »naturgemäß«
weiter verbreiteten, Streikneigung oder in den institutionalisierten Formen gewerkschaftlichen
Verhandlungsmacht niederschlage, macht deutlich, dass es mindestens einer wie auch immer gearteten Theorie
der Arbeiterbewegung bedarf, um hier weiterzukommen.
Immerhin hat die Tagung den ersten
systematischen Ansatz zu einem solchen Unterfangen geleistet. Die Beiträge sollen noch dieses Jahr als
Buch vorliegen und können bereits jetzt unter www.forum-politische-bildung. de abgerufen werden.
Christoph Jünke
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